Interview

Der Dokumentarfilm „MEIN VIETNAM“: „Herzen kann man immer erreichen, egal, wie verschlossen sie sind.“


Vom 18. bis zum 24. Januar ist der Dokumentarfilm „MEIN VIETNAM“ im Rahmen des Max Ophüls Filmfestivals zu sehen. Der Film von Thi-Hien Mai und Tim Ellrich thematisiert die vietnamesische Diaspora in Deutschland. Im Film werden die Eltern von Hien im Alltag begleitet. Zuschauer*innen bekommen dadurch intime Einblicke in ein Leben zwischen den Stühlen.
Von Nina Sabo, funky Jugendreporterin

Das Max Ophüls Filmfestival ist eines der größten deutschsprachigen Festivals für Nachwuchskünstler*innen. Dieses Jahr findet das gesamte Programm aufgrund der Corona-Pandemie digital statt. Junge Filmtalente treten dort in den Wettbewerben Spielfilm, Dokumentarfilm, mittellanger Film und Kurzfilm an. Der Dokumentarfilm „MEIN VIETNAM“ von Thi-Hien Mai und Tim Ellrich wurde in den diesjährigen Wettbewerb im Bereich Dokumentarfilm aufgenommen. Warum es so wichtig ist, einen Film wie diesen zu sehen, haben sie mir im Interview erzählt.


Thi-Hien Mai (Foto: Tim Ellrich)

Thi-Hien Mai ist 1989 in München geboren und aufgewachsen. Sie hat in Frankfurt Kunstpädagogik und Kunstgeschichte studiert und arbeitet derzeit im Filmmuseum in Frankfurt an einem interkulturellen Projekt, das kulturelle Institutionen für ein breiteres Publikum öffnen soll.

Tim Ellrich (Foto: Tobias Pfefferle)

Tim Ellrich ist 1989 geboren, studiert seit 2014 Filmregie an der Filmakademie Baden-Württemberg und ist derzeit in seinem Diplomjahr. Davor hat er in Wien Theater-, Film und Medienwissenschaften studiert. Aktuell arbeitet er für das ZDF im Rahmen des „Kleinen Fernsehspiels“ an seinem ersten Kinofilm und lebt in Offenbach.


Woher kam die Idee „MEIN VIETNAM“ gemeinsam zu produzieren?

Hien: Die Idee entstand aus dem doppelten Gefühl der inneren Zerrissenheit. Einerseits durch meine Eltern bedingt, die woanders herkommen, sodass ich bikulturell aufgewachsen bin. Andererseits betrifft das meine Eltern selbst, die seit ihrer Ankunft in Deutschland vor 30 Jahren zwischen zwei Lebensräumen hin- und hergerissen sind: Deutschland und Vietnam. In der Schule konnte ich mich über dieses Gefühl nie austauschen. Meine Eltern hatten zwar vietnamesische Freund*innen, die auch Kinder in meinem Alter hatten und denen es wahrscheinlich ähnlich ging wie mir. Aber ich hatte immer das Gefühl, nie richtig vermitteln zu können, was mich beschäftigt hat. Das Thema der inneren Zerrissenheit hat für mich so viele Ebenen, die ich nie richtig in Worte fassen konnte, für die ich keine Ausdrucksmittel gefunden habe. Im Austausch mit Tim kam dann die Idee: Lass und einen Film daraus machen!

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Filmtrailer zum Dokumentarfilm „MEIN VIETNAM“ mit englischen Untertiteln.

War von Anfang an klar, dass ihr einen Dokumentarfilm drehen wollt?

Tim: Beim Drehen eines Dokumentarfilms findet ein anderer Prozess als bei einem Spielfilm statt. Je mehr Zeit du mit den Menschen verbringst, desto besser verstehst du ihre Probleme und Dilemmas, und genau das möchte der Dokumentarfilm bewirken. Beim Filmprozess haben wir Bay und Tam tiefer kennengelernt und diese innere Zerrissenheit besser verstanden: Es geht eigentlich um das Paar selbst und ihre verschiedenen Positionen zum Thema Heimat und Migration. Das alles ist uns beim Filmprozess stärker bewusst geworden, was bei einem Spielfilm anders abgelaufen wäre.

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Foto: Privat.

Beim Schauen des Films habe ich mich gefragt, warum Hiens Eltern aus Vietnam geflohen sind. Die Informationen der Vorgeschichte werden im Film allerdings nicht direkt überliefert. Warum?

Hien: Der Denkprozess ist nach dem Film schon passiert, ohne dass wir über die Migrationsgeschichte erzählen, wie man das eigentlich macht. Wir wollten keine Dramatisierung der Fluchtgeschichte, auch wenn wir schnell festgestellt haben, dass die Wissensgier der Zuschauer*innen genau danach sehr groß ist. Auf unseren Social Media Kanälen kommunizieren wir die Migrationsgeschichte meiner Eltern.

Tim: Wir haben uns intuitiv dagegen entschieden, die Migrationsgeschichte von Hiens Eltern direkt zu erzählen. Wenn man darüber nachdenkt, steckt hinter jeder Flucht so eine unerhörte Geschichte. Für uns war es eine gute Entscheidung dieses Thema rauszuhalten, um es nicht darauf zu reduzieren. Es ist nicht mehr wichtig, was vorher war, sondern es geht um das Jetzt und wie wir mit dem Jetzt zurechtkommen.

Herzen kann man immer erreichen, egal wie verschlossen sie sind. Man darf sie nur nicht belehren.

Tim Ellrich zur Frage, warum in „MEIN VIETNAM“ auf die Nacherzählung einer Fluchtgeschichte verzichtet wird.

Ich glaube, das ist auch die große Chance vom Dokumentarfilm: nicht nur Informationen zu vermitteln, sondern vor allem Emotionalität. Wenn du nur eine Information hast, wie beispielsweise: „es ist schwer sich zu integrieren“, dann kannst du recht wenig damit anfangen. Aber wenn die Zuschauer*innen diese doppelte Zerrissenheit sehen und spüren, dann kannst du nur ein besserer Menschen werden. Herzen kann man immer erreichen, egal wie verschlossen sie sind. Man darf sie nur nicht belehren.

Im Film können Zuschauer*innen Hiens Eltern bei der Arbeit als Reinigungskräfte sehen, sich in der privaten Wohnung umschauen und Bays Anstrengungen beim Deutschlernen beobachten. Diese Einblicke lassen mich neugierig werden. Wie haben deine Eltern euer Leben in Deutschland aufgebaut, Hien?

Hien: Wenn man mit einem bestimmten Bildungsstand nach Deutschland kommt, kommt man nicht weit. In Vietnam besuchten meine Eltern die Grundschule bis zur dritten Klasse und konnten danach nicht auf eine weiterführende Schule gehen, weil das dort viel Geld gekostet hat, das nicht zur Verfügung stand.

Bikulturell aufzuwachsen heißt auch, eine Doppelrolle anzunehmen und dass sich die Eltern-Kind-Rollen umkehren.

Thi-Hien Mai über Bikultarlität

Meine Geschwister und ich haben früh mitbekommen, dass meine Eltern sehr viel gearbeitet haben. Als wir noch klein waren, war meine Mama für uns zu Hause. In dieser Zeit hat mein Vater viel gearbeitet und irgendwann dann auch wieder beide. Dadurch mussten meine Geschwister und ich früh selbstständig werden. Mein älterer Bruder hat unsere Eltern auch immer bei Behördengängen begleitet. Bis heute teilen wir uns bestimmte Aufgaben, bei denen wir unsere Eltern unterstützen. Bikulturell aufzuwachsen heißt auch, eine Doppelrolle anzunehmen und dass sich die Eltern-Kind-Rollen umkehren.

Über diese Rollenumkehrung sprichst du in einer Filmszene sogar mit deiner Mutter. Wie kam es zu dieser Situation?

Hien: Wir haben vorher zusammen Deutsch gelernt und danach über die Probleme gesprochen, die früher dadurch zustande kamen, dass meine Eltern kein Deutsch konnten. In der Grundschule war das nicht so schlimm, da war der Leistungsdruck nicht so groß. Je kleiner Kinder sind, desto besser funktioniert das Bildungssystem ohne Schubladendenken. Aber als ich auf dem Gymnasium war, wurde das ganze belastender und manchmal wollte ich deswegen nicht zur Schule. Bei Elternabenden war meine Mutter nicht anwesend und ich war wütend, dass sie es okay fand, nicht hinzugehen. In dieser Szene haben wir darüber gesprochen und sie versucht ihr schlechtes Gewissen mit Humor zu überspielen, aber als Kind war das überhaupt nicht lustig für mich.

Wie habt ihr euch diesen Situationen filmisch genährt? Wurden diese Momente szenisch geschaffen?

Tim: Diese Momente werden nicht geschaffen, weil Menschen dann unauthentisch werden. Das Genre heißt Direct Cinema, du gehst dabei direkt in den Dokumentarfilm und führst keine Interviews. Dabei wird wahnsinnig viel gefilmt, weil du Momente einfangen möchtest. Zum Beispiel streiten sich Hiens Eltern und du musst das Gespür dafür haben, diese Situation mit der Kamera festzuhalten.

Bei Hiens Eltern Bay und Tam läuft fast immer die Kamera – auch beim online Karaoke-Singen mit Freund*innen. (Foto: © Filmakademie Baden-Württemberg)

Wie funktioniert das, dass man eben nicht ins Gestellte abrutscht?

Hien: Ein Grund ist sicherlich, dass meine Eltern die Kamera kennen. Sie machen ja fast alles vor laufender Kamera, seitdem sie in Deutschland leben. Essen, streiten, Online-Karaoke, Familienfeste oder einer Beerdigung in Vietnam beiwohnen – vor der Kamera stattzufinden, ist fest im Alltag meiner Eltern verankert.

Diese Szenen waren zu intim für eine Tochter, aber nicht zu intim für mich. In einigen Momenten war meine Sprachlosigkeit ein Schlüssel zu noch mehr Intimität.

Tim Ellrich zur Authentizität im Dokumentarfilm „MEIN VIETNAM“

Tim: Aber ein anderer Aspekt ist auch die persönliche Beziehung, die der Filmende zu den Personen vor der Kamera hat. Wenn ich die Kamera halte und Hiens Eltern würden mich nicht mögen, dann erzeugt die Antipathie eine Distanz im Film. Es gibt Szenen, da haben wir gemerkt, dass sie noch besser funktionieren, wenn ich ganz allein mit Bay und Tam bin. Diese Szenen waren zu intim für eine Tochter, aber nicht zu intim für mich. In einigen Momenten war meine Sprachlosigkeit ein Schlüssel zu noch mehr Intimität.

Warum ist es wichtig, dass man sich den Film ansieht?

Hien: Erstens kann man daraus mitnehmen, dass jede*r coole Eltern hat! Und aus meiner Perspektive möchte ich auch mitgeben, dass man mit seinen Gefühlen nicht allein ist, sondern dass man sie erzählen kann. Der Film schafft ein Verständnis für diasporisches Leben in Deutschland und vermittelt, dass es viele Gründe gibt, warum man sein Heimatland verlässt. Es gibt immer so eine Bewertung, warum jemand geht. Dabei ist es doch völlig egal.

Es ist wichtig, dass People of Colour diese Filme machen und keine deutsche Erzähltradition übernehmen.

Regisseure* Hien und Tim zur Frage, warum man sich „MEIN VIETNAM“ anschauen sollte.

Tim: Ich denke, dass es in der heutigen politischen Situation wichtig ist, dass Hien als Frau mit Migrationshintergrund diese Geschichte erzählt. Es gibt keine andere Repräsentationsfläche außer ihre Familie und damit geht man in sie hinein. Es ist wichtig, dass People of Colour diese Filme machen und keine deutsche Erzähltradition übernehmen. Leute fühlen sich dadurch repräsentiert und das ist wichtig! Einer hat uns nach dem Film geschrieben, dass er seinem Nachbarn mit mehr Empathie begegnen kann. Wenn das nur einer sagen kann, dann ist der Film schon ein großer Wurf!

Du willst mehr? Du bekommst mehr!

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.