Zurückgespult: Ideal – Ideal (1980)

Ein Mann im gelb-karierten Hemd durchsucht eine große Kiste mit Schallplatten.
Wir bewerten Klassiker aus junger Perspektive. Diesmal: Die Neue Deutsche Welle-Band Ideal.
Jan-Malte Wortmann, funky-Jugendreporter

Wie wirken die großen Klassiker vergangener Jahrzehnte aus heutiger Sicht? In dieser Rubrik widmen sich junge Augen alter Kunst.

Kulturelle Bewegungen sind in der Regel dann am spannendsten, wenn sie kurz vor dem kommerziellen Durchbruch stehen, sich also irgendwo zwischen Avantgarde und Mainstream bewegen. Als die West-Berliner Band Ideal 1980 ihr gleichnamiges Debütalbum veröffentlichte, war der Begriff „Neue Deutsche Welle“ schon nicht mehr ganz neu und versammelte seit einigen Jahren Künstler:innen, die unter dem Eindruck von Punk und New Wave musikalische Experimentierfreude mit deutscher Sprache verbanden. Es sollte allerdings noch drei bis vier Jahre dauern, bis die Musikindustrie so ziemlich jeder deutschsprachigen Popmusik den „NDW“-Stempel aufdrückte und das Phänomen so bis zur Unkenntlichkeit ausmerzte – bis sein unvermeidbarer Niedergang besiegelt war.

Dank Hits wie „Berlin“ und vor allem „Blaue Augen“ brachte besagtes Debüt allerdings auch dem Quartett um die deutsche Sängerin Annette Humpe den Durchbruch: „Ideal“ war das erste von einem Independent-Label vertriebene Album, das in Deutschland eine goldene Schallplatte erhielt. Auch wenn sich die Band bereits drei Jahre später auflöste, sollte Humpe in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einer der prägendsten Figuren der deutschen Musiklandschaft werden. 2018 wurde ihr Lebenswerk deshalb sogar mit dem Bundesverdienstkreuz und zuletzt, im Juni 2025, mit dem Preis für Popkultur geehrt. Zeitgleich erschien „Ideal“ in einer neu abgemischten „2025 Mix“-Version, die von Annette Humpe gemeinsam mit Moritz Enders produziert wurde, der schon mit Größen von Kraftklub über Casper bis Silbermond zusammengearbeitet hat. Gründe genug also, sich das Album noch einmal vorzunehmen.

Ein gegenwärtiges Zeitdokument

Die Band Ideal, den Song „Blaue Augen“ und das Cover mit dem kopflosen Anzugträger kenne ich schon seit meiner Kindheit. In der Plattensammlung meiner Eltern fand sich das Album gleich zweimal, ein Exemplar liegt nun schon seit Jahren bei mir. Doch auch wenn ich mich daran erinnere, der Platte gemeinsam mit meinen Eltern gelauscht zu haben, habe ich das Album seither kein einziges Mal bewusst gehört. Nun widme ich mich also direkt der „2025 Mix“-Version.

Der erste Song, „Berlin“, setzt den Ton und beinhaltet alles, was ich erwartet hatte: ein treibender Rhythmus, eine etwas alberne Synthie-Melodie und dazu der schnoddrige Gesang von Annette Humpe. Das klingt schon sehr nach Neuer Deutsche Welle, atmet aber eindeutig noch den Punk der späten 1970er-Jahre. Das wirklich spannende Zeitdokument ist aber der Text: Humpe singt vom bunten Treiben auf den Straßen West-Berlins, in einer Zeit, als die Stadt an der Mauer wie kein anderer Ort in Deutschland Künstler:innen, Wehrdienstverweigerer und alle Unangepassten anzog. Sie erzählt von Touri-Fallen, verschwommenen Partynächten und türkisch-geprägten Straßenzügen. Und auch wenn sich die Stadt seither massiv gewandelt hat, so glaube ich das von ihr gepriesene Berliner Lebensgefühl – wenn es so etwas gibt – auch heute noch ein Stück weit wiederzuerkennen.

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Es folgt „Rote Liebe“, in dem Annette Humpe sexuelle Freiheit und queere Liebe propagiert. Huch, denke ich, auch wenn 1968 zu diesem Zeitpunkt mehr als ein Jahrzehnt her war, kann ich mir sehr gut vorstellen, wie das in den guten Stuben der Bundesrepublik ankam. Gleichzeitig besitzt der Text auch heute noch Sprengkraft – gerade in einer Zeit, in der antifeministische und queerfeindliche Stimmen von Rechts immer lauter werden. Überhaupt wirken die feministischen und kapitalismuskritischen Töne des Albums noch immer sehr gegenwärtig: „Irre“ handelt von toxischer Männlichkeit, „Hundsgemein“ oder „Luxus“ kritisieren soziale Ungleichheit – immer mit einem rotzig-ironischen Augenzwinkern.

Starker Sound, schwankend eingängig

Was mich darüber hinaus direkt begeistert, ist der druckvolle und glasklare Sound der „2025 Mix“-Version, der einiges dazu beiträgt, dass „Ideal“ noch immer so frisch klingt. Auch „Blaue Augen“, ohne Frage der beste Titel des Albums, wirkt durch diesen neuen Anstrich noch zeitloser und bleibt mit seinen verspielten Rhythmen und dem Kontrast zwischen den gelangweilt-lässigen Strophen und dem explosiven Refrain einfach ein fantastischer Popsong.

Allerdings wird auch schnell klar: Annette Humpe ist der Star der Show, was bedeutet, dass die Qualität der Stücke schnell absinkt, wenn sie einmal nicht hinter dem Mikrofon steht. Namentlich „Telepathie“, „Hundsgemein“ und „Da leg‘ ich mich doch lieber hin“ fehlen schlicht das Charisma und der lyrische Witz, mit denen sie die restlichen Songs veredelt.

Doch auch wenn nicht jeder der zehn Tracks gleichermaßen zündet, versprüht „Ideal“ auch 45 Jahre nach der Veröffentlichung eine unbändige Kreativität und kann mit echten Hits aufwarten. Es ist ein linkes und ein feministisches Album, das eine Zeit zwischen West-Berliner Punk-Szene und beginnender Hochphase der Neuen Deutschen Welle konserviert – im Grunde aber heute noch mit derselben gesellschaftlichen Relevanz erscheinen könnte.

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