Interview

Schule von morgen: „Die Persönlichkeit der Lehrperson macht die Qualität des Unterrichts aus“

Susanne Krämer schaut lächelnd in die Kamera. Ihr blondes Haar hat sie im Nacken zusammengebunden und sie trägt ein grünes Oberteil.
Susanne Krämer forscht zum Thema Achtsamkeit in der Lehrer:innenausbildung.

Emely Hofmann, funky-Jugendreporterin

Neben Noten, Prüfungen und Wissensvermittlung gehen zwischenmenschliche Kompetenzen im Klassenzimmer oft unter. Das kann nicht nur für Schülerinnen und Schüler negative Folgen haben, auch Lehrkräfte selbst leiden unter zunehmendem Stress und einer angespannten Stimmung. Für Susanne Krämer ist Achtsamkeit die Antwort auf diese Probleme. Sie forscht und lehrt an der Universität Leipzig zum Thema Achtsamkeit in der Ausbildung von Lehrpersonen und ist Projektleiterin des Projekts „Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/Schulkultur“. Im Interview erzählt die Bildungsexpertin, wie Achtsamkeit in den Schulalltag integriert werden kann, welche positiven Effekte damit einhergehen und warum das auch für die Demokratie essenziell ist.

Frau Krämer, Sie sind Achtsamkeitsexpertin. Was bedeutet Achtsamkeit überhaupt?
Susanne Krämer: Achtsamkeit ist eine Bewusstseinshaltung, die uns vollkommen im Moment verankert. Es geht also nicht um ein unbewusstes Vorauseilen in die Zukunft oder sich verlieren in Gedankenspiralen zu Situationen, die schon stattgefunden haben, sondern um die Präsenz im gegenwärtigen Augenblick. Dadurch ist es möglich, wahrzunehmen, in welchen Mustern wir denken oder wie wir Situationen und Menschen bewerten. Achtsamkeit ist eine Haltung, die nicht reaktiv ist, sondern mit Gelassenheit einhergeht. Das ermöglicht es, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen.

Welchen Einfluss hat Achtsamkeit auf das Lernen und das Lehren?
Bei den Lehrpersonen äußert es sich einerseits in der Beziehungskompetenz, also wie wir miteinander umgehen. Das hat auch etwas damit zu tun, wie man selbst schwierigen Situationen begegnet. Die achtsame Emotionsregulation ist ein wichtiger Bestandteil davon, wie sich Beziehungen gestalten. Reaktivität kann zu emotionalen Verletzungen führen, die auch den Lernprozess auf Dauer stören können. Andererseits schafft Achtsamkeit einen Fokus, der es ermöglicht, schneller auszuwählen und zu priorisieren, was wichtig ist und dann flexibel zu handeln. Dass die Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Handeln und Denken lenken können, ist die Basis jedes Lernprozesses.

Sie geben Seminare zum Thema Achtsamkeit und beschäftigen sich auch in ihrer Forschung damit. Was wird den Lehrkräften in den Seminaren beigebracht?
Wir bieten im Rahmen des Projekts „Achtsamkeit in der Bildung und Hoch-/Schulkultur”, das von der AOK Plus und dem Landesamt für Schule und Bildung finanziert wird, für Studierende, Lehrende, Führungskräfte und Lehrkräfte an Schulen Achtsamkeitskurse an. Dabei führen wir praktische Übungen wie Gehmeditationen, Sitzmeditationen oder dialogische Meditationen durch. Gleichzeitig sprechen wir auch viele Themenfelder an, die für die Schule relevant sind: wie man mit Stress und schwierigen Emotionen umgeht, wie reaktiv man in schwierigen Konfliktgesprächen ist und wie eine nicht wertende Sprache aussehen kann. Wir reflektieren mit dem Lehrpersonal auch ihre eigenen Werte, ihre pädagogische Haltung und was sie in die Schule einbringen wollen. Darüber hinaus schauen wir auch auf gesellschaftliche Themen und Krisen. Die neuste Studie der Robert Bosch Stiftung zeigt, wie stark Jugendliche von diesen Themen betroffen sind, ein Viertel sorgt sich um Klima- und Umweltkrise. Und fast die Hälfte dieser Schülerinnen und Schüler glauben laut der Umfrage nicht, dass die Lehrpersonen ihnen bei ihren Ängsten helfen können. Deswegen ist es umso wichtiger, dass Lehrkräfte Räume öffnen, in denen die Schülerinnen und Schüler ihre Gefühle und Sorgen äußern können. Die meisten Lehrpersonen trauen sich gar nicht, diese Themen im Unterricht anzusprechen, weil sie Angst haben, in eine eigene Überforderung zu kommen und den Emotionen nicht gerecht zu werden. Wir ermöglichen dem Lehrpersonal in den Seminaren, sich selbst zu reflektieren, um in den Klassen entsprechende Gespräche anzubieten. Die Reflektion von Gedanken und Handlungen ist essenziell für die Lehrerausbildung, denn die Persönlichkeit der Lehrperson macht auch die Qualität des Unterrichts aus. Wir waren inzwischen schon an 41 Schulen, um die Verantwortungsübernahme von Lehrkräften in Hinblick auf die eigenen Ressourcen, für die Mitwelt und die Gesellschaft zu schulen.

In Meditationen können Lehrpersonen ihre Achtsamkeit schulen.
Foto: ABiK/Christian Hüller

Etwas in die Praxis umzusetzen, das man in der Theorie gelernt hat, ist manchmal nicht leicht. Wie können Lehrkräfte für mehr Achtsamkeit im Klassenzimmer sorgen?
Wir bauen die Seminare sehr stringent und praktisch orientiert auf. Es gibt zunächst einen Basiskurs, bei dem es darum geht, Achtsamkeit selbst zu leben und zu verkörpern, bevor man es weitervermittelt . Dazu gehört die Entwicklung einer eigenen Praxis und eine konkrete Umsetzung im Schulalltag. Das sind erstmal grundlegende Basics, zum Beispiel, wie lange die Lehrperson wartet, bis eine Frage beantwortet wird oder wie reagiere ich auf Störungen. Das kann viel ausmachen und für einen respektvollen Umgang miteinander sorgen. Im Aufbauprogramm geht es darum, Übungen an Schülerinnen und Schüler weiterzugeben und konkrete Elemente altersgerecht in den Unterricht einzubauen. Das kann eine stille Minute sein, Bewegungs- oder Musikmeditationen.  Es ist wichtig, die Jugendlichen bei ihren Themen abzuholen und zu Perspektivwechseln und Reflektion anzuregen. Dabei geht es um Themen, die uns alle betreffen: In Freundschaften oder auch in ersten Beziehungen. Das verändert auch den Umgang miteinander. Manchen Schülerinnen und Schüler ist es durch aktuelle Krisen oder Traumata nicht möglich teilzunehmen, in die Stille zukommen. Dazu vermitteln wir Alternativen, die Teilnahme ermöglichen.

Konnten Sie durch die Seminare schon positive Effekte beobachten?
Wir befassen uns in unserer Forschung in erster Linie mit den Lehrkräften und den Auswirkungen auf sie. Hier gibt es signifikante Veränderungen. Einerseits auf der individuellen Ebene: Die Achtsamkeit und Lebenszufriedenheit steigen, Stress und Burnout-Symptome gehen zurück. Andererseits sind auch positive Effekte in der interpersonellen Achtsamkeit, also der Beziehungskompetenz und der Selbstwirksamkeit, zu beobachten. Darüber hinaus konnten wir auch signifikante Effekte bei der Naturverbundenheit und dem gesellschaftlichen Engagement feststellen.

Diese positiven Veränderungen haben natürlich direkte Auswirkungen auf die Schülerinnen und Schüler. So konnten die Lehrkräfte beobachten, dass sich das Schulklima insgesamt verbessert hat und einige Lehrkräfte berichteten nach der Durchführung von Übungen in der Klasse, dass der Umgang untereinander ein anderer ist.

Würden Sie es für sinnvoll halten, Achtsamkeit als ein eigenes Schulfach einzuführen?
Ich finde ein Schulfach Achtsamkeit sehr stimmig. Schule soll auf das Leben vorbereiten, da braucht es Kompetenzen wie Stressreduktion, den Umgang mit schwierigen Emotionen und ein Verantwortungsbewusstsein im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bereich. Die Fähigkeit zu Ambiguitätstoleranz. Perspektivwechsel und Zuhören zu können sind gleichzeitig die Basis für gesellschaftliches Engagement und Demokratie. Achtsamkeit sollte aber nicht noch ein prüfungsleistungsrelevantes Schulfach sein, sondern die Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung bieten – ganz ohne Noten. Was aber auf jeden Fall wichtig ist, es umfassend in die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften zu implementieren.

Widersprechen sich Achtsamkeit und digitaler Schulunterricht?
Sie ergänzen sich. Wenn viel im digitalen Raum gearbeitet wird, ist es umso wichtiger, den Fokus zu behalten, klar zu priorisieren und die Grenzen zu erkennen. Es geht darum, die Schülerinnen und Schüler beim digitalen Lernen zu begleiten. Die Digitalisierung transformiert unsere Gesellschaft, deswegen ist es essenziell, mit dem eigenen Körper in Verbindung zu bleiben und sich außerhalb des digitalen Raums in einer Tiefe auszutauschen. Auch wenn es um KI geht, ist es wichtig, zu erleben, dass wir einen in uns ruhenden Kern haben, aus dem wir selbstständig Entscheidungen treffen. Die Lehrkräfte müssen eine Medienkompetenz schaffen, die den Heranwachsenden hilft, mit den digitalen Tools umzugehen. Dabei kann Achtsamkeit helfen.

Wie sieht die Schule von morgen aus?
In der Schule von morgen sehe ich viel selbstgesteuertes Lernen, bei dem die Lehrpersonen die Kinder und Jugendlichen beim Kompetenzerwerb begleiten. In Projekten können sie Kooperation, Empathie und Ambiguitätstoleranz lernen. Dafür ist Achtsamkeit eine wichtige Grundlage. Die Schule von morgen kann auch flexibler auf die Herausforderungen unserer Zeit reagieren. Bei unserer Wissensvermittlung klammern wir Emotionales oft aus. Dabei geht es auch in der Schule um Themenfelder, die uns emotional betreffen. Deswegen ist es wichtig, dass auch Emotionen ein Raum gegeben wird. Die hohe Anzahl psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ist ein Warnzeichen dafür, dass viel verdrängt wird. Sie werden oft mit ihren Ängsten alleingelassen, was zu einer Wut oder Ohnmacht führen kann, aus der es keinen Ausweg gibt und letztlich zu einer Erkrankung führt. Es ist aber auch die Aufgabe des Bildungsbereichs, den Schülerinnen und Schülern Handlungskompetenzen zu vermitteln und zu zeigen, dass Emotionen ein wichtiger Anzeiger sind, um ins Handeln zu kommen. Ich würde mir für die Schule von morgen eine Generation wünschen, die verantwortungsbewusst die Gesellschaft gestaltet und sie nicht nur erduldet.

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Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.