Interview

Gerechtigkeit für Lorenz: „Lorenz war kein Einzelfall“

Suraj Mailitafi schaut in die Kamera. Er trägt einen schwarzen Hoodie.
Suraj Mailitafi ist Sprecher der Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“. Durch einen Bekannten hat er von dem Fall erfahren und die Initiative gegründet.

Emely Hofmann, funky-Jugendreporterin

Mit vier Schüssen von hinten wurde der 21-jährige Lorenz von der Polizei getötet. Die Geschehnisse sorgen für Entsetzen und werfen die Frage auf, inwiefern Rassismus damit zu tun hat. Denn: Lorenz war Schwarz. In den sozialen Medien macht die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“ auf den Fall aufmerksam. Suraj Mailitafi ist Sprecher der Initiative und engagiert sich in der Aufklärungsarbeit zu Antirassismus und politischer Bildung im Netz und an Schulen. Im Interview spricht er darüber, wie es zu Lorenz’ Tod kommen konnte, wieso es dringend eine gesamtgesellschaftliche Debatte über Rassismus braucht und was sich verändern muss, damit Schwarze Menschen wieder Vertrauen in die Polizei fassen können.

Suraj, kannst du aus deiner Sicht schildern, was in der Nacht auf 20. April passiert ist? 
Suraj Mailitafi:
Das, was wir bisher wissen, beruht auf Informationen der Polizei und den Schilderungen von Personen, die selbst vor Ort waren. Beide Seiten berichten, dass Lorenz in der Nacht zu Ostersonntag in die Disko gehen wollte. Vor der Disko kam es zu einer Auseinandersetzung und Lorenz hat Pfefferspray versprüht. Daraufhin wurde die Polizei gerufen. Lorenz wollte weggelaufen, ist aber auf eine andere Polizeistreife gestoßen. Was dann konkret passiert ist, ist aktuell noch schwer zu sagen. Wir wissen, dass er das Pfefferspray auch gegenüber der Polizei eingesetzt hat und danach durch vier Schüsse von hinten erschossen wurde. Die Initiative und die Familie fragen sich, wie diese vier Schüsse der Polizei zu rechtfertigen sind. Da müssen wir die Ermittlungen abwarten.

Was ist in den Tagen danach geschehen?
Es hat sich sehr viel getan. Ich kenne den besten Freund von Lorenz, der zu dem Zeitpunkt seiner Tötung in Brasilien war. Er hat mich am Ostersonntag angerufen und gesagt, dass Lorenz getötet wurde. Daraufhin habe ich mit vielen Menschen gesprochen und wir haben die Initiative ins Leben gerufen. In Absprache mit der Familie von Lorenz habe ich dann ein Video aufgenommen, in dem ich geschildert habe, was wir bisher wissen. Dadurch ist die Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam geworden. Wir haben eine Demonstration organisiert, an der über 10.000 Menschen teilgenommen haben. Es war schön, zu sehen, dass so viele unserem Aufruf gefolgt sind und für Gerechtigkeit für Lorenz demonstriert haben. Das sind die positiven Dinge, die seitdem passiert sind. Auf der anderen Seite sehen wir auch immer wieder Kommentare oder Beiträge, die sagen, Lorenz habe es verdient zu sterben. Das finde ich nicht in Ordnung. Die Todesstrafe wurde nicht umsonst abgeschafft.  

Lorenz war ein Schwarzer junger Mann. Was hat das mit den Ereignissen zu tun?
Das bringt das Thema Rassismus ins Spiel. Für viele klingt das direkt nach einer Vorverurteilung, das stimmt in dem Fall aber nicht. Die Initiative sagt nicht, dass der Polizist explizit rassistisch gehandelt hat oder sich bewusst dazu entschieden hat, Lorenz zu erschießen, weil er Schwarz ist. Wir schauen uns den größeren Kontext und die Strukturen dahinter an. Wir sehen, dass sich ähnliche Fälle in den letzten Jahren gehäuft haben und wir sehen, dass People of Color besonders davon betroffen sind. In unserer Gesellschaft ist die Hautfarbe leider nicht egal. Wir sind alle rassistisch sozialisiert, auch ich, weil wir in einer Gesellschaft mit rassistischen Strukturen leben. Es gibt bestimmte rassistische Narrative, die wir alle internalisiert haben. Das müssen wir anerkennen, damit wir gemeinsam mit der Polizei und anderen Institutionen schauen können, wie wir für ein Zusammenleben in Vielfalt ohne Angst einstehen können.

Es hieß zunächst, Lorenz habe ein Messer bei sich getragen. Das hat sich als Falschmeldung herausgestellt. In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Debatten zu Messerangriffen migrantisch gelesener Personen. Glaubst du, dass es einen Zusammenhang zwischen dieser Debatte und der Falschbehauptung in Lorenz Fall gibt?
Ja, ich glaube definitiv, dass es da einen Zusammenhang gibt. Der Begriff „Messermänner“ ist zu einem Kampfbegriff geworden und bedient ein Narrativ, bei dem Schwarze Männer und People of Color immer wieder als Bedrohung wahrgenommen werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre das Narrativ nicht bedient worden, wäre Lorenz nicht Schwarz gewesen.

Was fordert die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“?
Lorenz war kein Einzelfall. Wir fordern eine lückenlose Aufklärung. Leider haben wir in den vergangenen Jahren bei ähnlichen Fällen beobachtet, dass es nicht ausreichend Aufklärung und Konsequenzen gab. Deswegen fordern wir außerdem eine unabhängige Untersuchung des Polizeieinsatzes. Für uns ist schwer nachvollziehbar, warum gerade die Polizei Delmenhorst mit den Ermittlungen beauftragt wurde. Delmenhorst ist sehr nah an Oldenburg und es gab in Delmenhorst bereits 2021 einen Fall, bei dem ein junger Mann in Polizeigewahrsam gestorben ist. In dem Fall hat die Polizei Oldenburg ermittelt. Die Initiative fragt sich, inwieweit die Untersuchungen im Fall Lorenz dann wirklich unabhängig sein können. Wir sehen, dass immer mehr Vertrauen in die Polizei verloren geht. Wenn dieser Fall lückenlos und unabhängig aufgeklärt wird, könnte dieses Vertrauen zurückgewonnen werden.

Du hast in einer Rede auf der Demonstration für Lorenz gesagt: „Viele Menschen sind erschüttert. Gerade Schwarze Menschen und People of Color sind aber nicht überrascht.“ Warum ist das so?
Ich möchte gar nicht, dass Fälle wie Lorenz uns nicht mehr überraschen. Aber die Vergangenheit zeigt, dass es kein Einzelfall war. Oury Jalloh im Jahr 2005 oder Qosay Khalaf im Jahr 2021 sind Beispiele dafür. Auch hier gab es unserer Meinung nach nicht ausreichend Konsequenzen. Es wurde eher wieder das Narrativ des gefährlichen Migranten bedient. Das wurde auch bei Lorenz versucht anzuwenden, obwohl Lorenz Deutscher war. Es gibt eine bestimmte Art, wie du als Deutscher auszusehen hast und da passt er als der nicht ins Bild. Deswegen hat es uns nicht überrascht –  weil wir es schon so oft gesehen haben.

Ich erinnere mich noch an die Demonstrationen im Sommer 2020, nachdem in den USA George Floyd von der Polizei ermordet wurde. Hast du das Gefühl, dass die „Black Lives Matter“-Proteste etwas in Deutschland verändert haben? 
Pauschal kann ich das schlecht beantworten, aber nach meinem Gefühl hat sich schon etwas getan. Trotzdem tut Deutschland sich immer noch schwer damit, über Rassismus zu sprechen, insbesondere über institutionellen Rassismus. Ich merke immer wieder in Interviews, dass man versucht, diesen strukturellen Rassismus auf die individuelle Ebene zu reduzieren. Nicht falsch verstehen: Alltagsrassismus und Mikroaggressionen gibt es auch, aber sie machen das strukturelle Problem klein. Denn es handelt sich nicht nur um Fehler von Einzelpersonen, sondern um ein rassistisches System, das dem zugrunde liegt.

Was müsste sich ändern, damit Schwarze Menschen und People of Color in Deutschland wieder Vertrauen in die Polizei fassen können?
Wir brauchen eine ehrliche Debatte. Wir brauchen die Perspektiven von Schwarzen Menschen, ihre Erfahrungen mit der Polizei und was sich ihrer Meinung nach ändern muss. Diese Perspektiven müssen innerhalb der Polizei gehört und die Änderungsvorschläge umgesetzt werden. Es braucht konkrete Maßnahmen wie Antirassismus-Schulungen für Polizistinnen und Polizisten. Antirassistische Strukturen können nur aufgebaut werden, wenn man sich mit dem eigenen internalisierten Rassismus auseinandersetzt und das System hinterfragt. Es gibt auch noch keine flächendeckenden Studien dazu, inwiefern institutioneller Rassismus innerhalb der Polizei existiert, in welchen Arbeitsabläufen er sich manifestiert und wie er sich konkret äußert.

Es ist immer wieder von „Polizeigewalt“ die Rede. Was bedeutet der Begriff?
Zuerst möchte ich klarstellen, dass wir die Polizei für eine funktionierende Gesellschaft brauchen. Wenn wir über Polizeigewalt sprechen, geht es darum, ob die Handlungen der Polizei verhältnismäßig sind und damit gerechtfertigt oder nicht. Wir als Initiative sehen die Polizei in bestimmten Situationen als Instanz zur Deeskalation. Sie sollte nur im schlimmsten Fall, also wenn sie selbst oder andere Menschen akut bedroht werden und keine andere Möglichkeit besteht, ihre Schusswaffe ziehen. Deswegen sehen wir das, was Lorenz passiert ist, als Polizeigewalt. Uns ist die Gefahrenlage nicht klar, wenn jemand von hinten erschossen wird. Das ist schwierig nachzuvollziehen.

Du bist im Austausch mit Lorenz Familie. Was war Lorenz für ein Mensch?
Diese Frage bekomme ich immer wieder gestellt. Ich bin zwar als Sprecher der Initiative im engen Austausch mit seinen Angehörigen, kann dazu zu diesem Zeitpunkt aber nicht viel sagen. Die Familie wird sich dazu selbst äußern, wenn sie bereit ist. Was wir aber sagen können: Lorenz war ein Mensch. Das ist das Einzige, was zählt.

Was kann die Gesellschaft jetzt tun, um für die Rechte und die Sicherheit von People of Color und Schwarzen Menschen einzustehen?
Nicht wegschauen. Trotzdem laut bleiben, auch wenn die mediale Aufmerksamkeit abnimmt. Sich solidarisch an die Seite von marginalisierten Menschen stellen. Sich selbst mit rassistischen Strukturen beschäftigen und schauen, was man konkret bearbeiten und verändern kann. Ich weiß, dass das schwierig ist, wenn man nicht davon betroffen ist. Die eigenen Privilegien können in diesem Fall ein Hindernis sein. Es ist aber wichtig, betroffenen Menschen zuzuhören und sich selbst zu hinterfragen.

Hinweis: Das Interview wurde am 02.05.2025 geführt und bezieht sich auf den Kenntnisstand zu diesem Zeitpunkt.

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