Interview

Gewalt gegen Frauen: „Es ist fast, als hätten die Täter ein Handbuch“ – Aktivistin Alina Kuhl im Interview

Alina Kuhl klärt auf Social Media über Gewalt gegen Frauen auf.
Alina Kuhl klärt auf Social Media über Gewalt gegen Frauen auf.
Celina Otto, funky-Jugendreporterin

Was unter dem Namen „The Monday Talks“ einst als feministische Talkrunde begann, entwickelte sich zu einer Plattform für lebenswichtige Informationen: Alina Kuhl klärt auf ihren Instagram- und Tiktok-Kanälen über Gewalt gegen Frauen auf. Täglich erreicht sie so zehntausende Menschen. Ihre Expertise kommt nicht von ungefähr: Sie war Trainee beim Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen, arbeitete als Datenanalystin für eine Häusliche-Gewalt-NGO in London und ist seit vielen Jahren ehrenamtlich bei Hilfetelefonen für häusliche und sexualisierte Gewalt aktiv. Im Interview erzählt sie, wie Täter vorgehen, wo betroffene Frauen Hilfe finden und warum Social Media ein mächtiges Werkzeug für dringend notwendige gesellschaftliche Veränderungen sein kann.

Liebe Alina, Du engagierst Dich seit langer Zeit beruflich und ehrenamtlich gegen Gewalt an Frauen. Was hat dich dazu bewogen, dich diesem schwierigen, aber wichtigen Thema zu widmen?
Alina Kuhl: Ich habe in England meinen Master in „Psychologie der sozialen Beziehungen“ gemacht und war ehrenamtlich als Research-Assistentin bei einer Professorin aktiv, die uns Studierenden empfohlen hat, Erfahrungen in der Beratung zu sammeln. Da ich schon immer sehr feministisch war, bin ich dann zum nationalen Hilfetelefon gegen häusliche Gewalt, der National Domestic Abuse Helpline, gegangen. Seitdem war für mich klar, dass es das ist, was ich machen möchte. Ich kann so vielen Frauen helfen und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Bei akuten Fällen häuslicher Gewalt weiß man allerdings oft nicht, ob die Frauen überleben werden. Ich habe mir deshalb immer alle Namen gemerkt und in den Zeitungen nachgeschaut, ob dort etwas über die Betroffenen berichtet wird. Deshalb bin ich an diesem Thema auch so hängengeblieben und habe nicht mehr lockergelassen.

Laut dem „Monitor Gewalt gegen Frauen“ werden jeden Tag 367 Frauen in Deutschland Opfer von Partnerschaftsgewalt, fast täglich gibt es dem „Lagebild geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“ zufolge einen Femizid. Gewalt gegen Frauen nimmt nicht ab, sondern kontinuierlich zu. Was muss sich aus deiner Sicht in der Gesellschaft und Politik ändern, um Gewalt gegen Frauen effektiv zu bekämpfen?
Was wir brauchen, ist vor allem Aufklärungsarbeit. Es müssen noch viel mehr Menschen über Gewalt gegen Frauen sprechen. Solange Partnerschaftsgewalt noch toleriert wird, wird sie auch nicht verschwinden. Wir merken, dass die bisherigen Gesetze nicht abschrecken. Es braucht soziale Kontrolle und Aufklärungsarbeit, damit betroffene Frauen merken, dass das, was ihnen passiert, nicht richtig ist. Im Idealfall verlässt die Frau den Täter dann bei den ersten Anzeichen häuslicher Gewalt – das ist die große Hoffnung. Laut dem neuen Koalitionsvertrag gibt es Pläne, die elektronische Fußfessel einzuführen, um Frauen in Hochrisikofällen vor Tätern zu schützen, wie in Spanien. Das wäre ein toller Fortschritt, um Femizide zu verhindern. Der Täter kann sich der Frau dann nicht mehr nähern. Und das ist das Hauptproblem: Die Täter müssen den Frauen fernbleiben. Außerdem ist es gut, dass man die elektronische Fußfessel sieht, sodass die Männer einer neuen Partnerin erklären müssten, weshalb sie diese Fußfessel tragen.

Welche gesellschaftlichen Strukturen tragen dazu bei, dass Täter oft ungestraft davonkommen und geschützt werden?
Sexismus ist ein Riesenthema. Ich finde es immer sehr erschreckend, welche Kommentare unter meinen Videos verfasst werden. Wenn ich über Femizide berichte, kommentieren Männer: „Ja, aber sie hat ihn ja auch betrogen!“. Erstens weiß man gar nicht, ob die Frau den Mann tatsächlich betrogen hat. Aber selbst wenn, ist das kein Grund, jemanden umzubringen. Ich bin mir ehrlicherweise auch sicher, dass diese Männer nicht der Meinung wären, dass ihre Freunde den Tod verdienen, weil sie ihre Freundin betrügen. Es ist in den gesellschaftlichen Strukturen noch so verankert, dass Frauen bestimmte Frauenbilder erfüllen müssen und dass Männer, die aggressiv auftreten, als besonders männlich gelten. Das muss sich dringend ändern.

Wie können soziale Medien dabei helfen, das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen zu schärfen?
Es passiert gerade ganz viel auf Social Media. Ich beschwere mich immer über die Männer, die Drohungen und Hasskommentare schicken, aber tatsächlich sind 90 Prozent der Kommentare von Männern, die ich täglich kriege, total positiv. Mir schreiben sehr viele Männer, dass sie ganz viel lernen und mit diesem Thema noch gar keine Berührungspunkte hatten. Sie danken mir für meine Aufklärungsarbeit. Wenn man sich noch nie mit der Thematik auseinandergesetzt hat, kauft man sich nicht unbedingt ein Buch, schaut eine Dokumentation oder recherchiert selbstständig. Durch Social Media erfährt man dann von Geschichten und Statistiken, die schockieren. Meine Videos sind meist kürzer als eine Minute und bieten somit einen guten Einstieg, um Menschen die Augen zu öffnen. Ich glaube, Social Media ist deshalb ein ganz wichtiger Faktor für die gesellschaftliche Veränderung.

Junge Menschen wachsen mit sozialen Medien auf, wo oft Fehlinformationen über den Feminismus verbreitet werden. Wie kann man junge Menschen frühzeitig für feministische Themen sensibilisieren und verhindern, dass gerade Jungen und junge Männer in antifeministische Kreise geraten?
Die Netflix-Serie „Adolescence“ hat sehr eindrucksvoll gezeigt, wie schnell sich junge Männer radikalisieren können. Ich glaube, man kann sehr schnell in so einen Strudel abrutschen. Sehr wichtig, um junge Männer oder generell junge Menschen für den Feminismus zu öffnen, ist es, darüber zu sprechen. Allerdings bin ich kein großer Fan davon, wenn sich feministische Arbeit darauf konzentriert, wie man Männer mitreißen kann. Trotzdem ist es ein wichtiger Faktor, Männern zu verdeutlichen, dass auch sie unter dem Patriarchat leiden. Sie müssen Rollenbilder erfüllen, dürfen keine Schwäche zeigen, sollen mit ihrem Einkommen die Familie versorgen – diese hohen Ansprüche sind für viele Männer sehr schlimm. Mehr Feminismus würde uns allen helfen und das Patriarchat schadet uns allen. Man muss Männern die Augen öffnen.

Bekommst du oft persönliche Rückmeldungen von Frauen, denen dein Content dabei geholfen hat, Gewalt zu erkennen oder zu verarbeiten?
Sehr oft. Die meisten Nachrichten, die ich erhalte, beziehen sich auf vergangene Partnerschaften. Viele Frauen schreiben mir, dass ihnen mein Content dabei geholfen hat, ihre Erfahrungen mit Partnerschaftsgewalt und sexualisierter Gewalt zu verarbeiten. Sie erkennen durch den Content erst, dass die Gewalt nicht ihre Schuld war, dass sie nicht besonders naiv waren, sondern es ein strukturelles Problem ist und ganz viele Frauen betroffen sind. Für die Frauen ist das ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist es schlimm, zu erfahren, wie viele Frauen ähnliche Erfahrungen gemacht haben, andererseits ist es beruhigend, zu wissen, dass man kein Einzelfall ist und es kein persönliches Versagen war. Mir haben auch schon Betroffene geschrieben, dass sie den Täter angezeigt haben oder aus der Prostitution ausgestiegen sind. Das bedeutet mir immer ganz viel.

Viele Frauen haben Angst über ihre Erfahrungen zu sprechen oder sich Hilfe zu holen. Warum ist dieser Schritt für betroffene Frauen so schwierig? Was könnte ihnen Mut machen?
Tatsächlich ist diese Angst berechtigt. Meistens ist es so, dass den Frauen nicht geglaubt wird. Oft haben sie sich sogar schon einer Person anvertraut und wurden dann beispielsweise gefragt „Was hast du denn gemacht, um dazu beizutragen?“ oder sie hören „Ach, du suchst dir aber auch immer solche Männer!“. Diese Vorwürfe führen dazu, dass man sich nicht weiter öffnet. Deshalb ist es das Beste, erst einmal mit einer Beratungsstelle oder einem Hilfetelefon zu sprechen. Dort wird den Frauen geglaubt. Es gibt keinen Grund, bei einem Hilfetelefon anzurufen und zu lügen. Wir wissen, dass die Frauen die Wahrheit erzählen und geben ihnen die Unterstützung und Hilfe, die sie brauchen. Meistens geht es im ersten Gespräch darum, erst einmal einzuordnen, dass das, was passiert ist, nicht richtig ist. Es ist manchmal wichtig, dass eine außenstehende Person das bestätigt.

Auch Mädchen sind bereits oft von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen. Gibt es spezielle Hilfsangebote für Minderjährige?
Ja, die gibt es. Alle Beratungsstellen helfen auch jungen Frauen. Als erste Anlaufstelle würde ich immer das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ empfehlen, die 116 016. Dort wird auch auf lokale Hilfsangebote verwiesen, zum Beispiel auf spezielle Mädchenangebote. Es gibt auch Mädchenhäuser – wie Frauenhäuser, aber für Mädchen. Auch auf der Website des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, kurz bff, kann man lokale Anlaufstellen finden.

Hast du Tipps, wie Frauen frühe Anzeichen dafür erkennen können, dass ein Partner gewalttätig wird?
Vor der Gewalt kommt zuerst die Isolation. Die Frauen werden von Freunden und der Familie abgetrennt. Der Partner ruft zum Beispiel immer wieder an und will, dass die Frau nach Hause kommt, wenn sie sich mit Freunden trifft. Außerdem wird das Selbstwertgefühl zerstört. Kommentare wie „Wenn du mich nicht hättest, hättest du niemanden“ oder „Deine Freunde und deine Familie wollen dir schaden“. Gewalt geschieht nicht aus dem Nichts. Es ist fast, als hätten die Täter ein Handbuch. Das Vorgehen ist immer wieder sehr ähnlich.

Wie kann man unterstützen, wenn man den Verdacht hat, dass eine Frau im eigenen Umfeld Opfer von häuslicher oder sexualisierter Gewalt wurde?
Das ist eine schwierige Frage. Eigentlich will man die betroffene Frau sofort aus der Situation herausholen, aber das funktioniert leider nicht. Meist braucht es mehrere Anläufe, bis es gelingt, eine Gewaltbeziehung zu verlassen. Druck von außen ist dabei nicht erfolgsversprechend. Je mehr Druck ausgeübt wird, desto weniger öffnet sich die Frau. Stattdessen sollte man signalisieren, dass man bereits Hilfsangebote herausgesucht hat und immer da ist, wenn die Betroffene Unterstützung möchte. Dennoch muss man auf die eigenen Grenzen achten. Es ist schwer auszuhalten, wenn es jemandem im eigenen Umfeld so schlecht geht. Es hilft, sich selbst gut über das Thema zu informieren, um sich sicherer zu fühlen. Außerdem kann man versuchen, der Frau zu helfen, sich zu öffnen, indem man mit ihr über bekannte Fälle spricht, die aktuell durch die Presse gehen und klarstellt, dass man Gewalt gegen Frauen verurteilt und Betroffenen glaubt.

Gerade in den sozialen Medien erleben Aktivist:innen oft Hass. Bekommst du auch negative Reaktionen, insbesondere von Männern? Wie gehst du damit um?
Mir geht das ehrlicherweise nicht so nah. Bedrohungen zeige ich an, aber letztlich werden immer irgendwelche Männer sauer sein. Wenn man über Gewalt gegen Frauen spricht, dann sind zwangsläufig auch Täter dabei. Oft outen sich Männer auch ganz bewusst als Täter und fühlen sich persönlich angesprochen. Ich hoffe, ich bin da nicht zu naiv, aber ich habe keine Angst.

Warum ist es so wichtig, dass sich auch Männer für den Feminismus einsetzen und sich gegen Gewalt an Frauen engagieren?
Männer, die Frauen nicht respektieren wollen, werden das auch durch meine Aufklärung nicht tun. Dann kann ich mir den Mund fusselig reden, sie werden mir nicht zuhören. Sie müssen das von einem anderen Mann hören. Wenn frauenfeindliche Witze toleriert werden oder Männer im Freundeskreis von ihren Gewalttaten an Frauen berichten und keiner der Freunde das kritisiert, dann wird sich auch nichts ändern. Männer können viel tun, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern.

Welche Möglichkeiten gibt es für Frauen (und Männer), die sich aktiv gegen Gewalt an Frauen engagieren möchten?
Ich glaube, dass es tatsächlich sehr hilfreich ist, wenn Informationen auf Social Media geteilt werden und das Thema aktiv im Freundeskreis zur Sprache kommt. Damit bewirkt man schon ganz viel. Außerdem helfen Spenden an feministische Vereine, denen aktuell viele Gelder gekürzt werden. Man kann auch Mitglied in feministischen Organisationen werden, um sich mit anderen Feminist:innen zu vernetzen und mehr über die Thematik zu lernen.

Mit „The Monday Talks“ hast du außerdem eine Talkrunde für feministische Themen gegründet. Wie entstand die Idee für die „Monday Talks“ und welches Ziel verfolgst du mit dieser Veranstaltungsreihe?
Ich habe angefangen, weil ich oft an feministischen Veranstaltungen teilgenommen habe und im Publikum dann Menschen saßen, die sowieso seit Jahrzehnten in diesem Bereich arbeiten. Die Veranstaltungen wurden nur über Verteiler feministischer Organisationen bekannt gemacht und fanden meist am Stadtrand statt. Darum dachte ich, dass wir Veranstaltungen brauchen, die „Feminismus für Anfänger:innen“ bieten. Wo man alle Fragen stellen kann und sich jeder Mensch willkommen fühlt. Feministische Räume sind manchmal einschüchternd, weil man immer Angst hat, etwas Falsches zu sagen. Es geht mir darum, Feminismus zugänglicher zu machen.

Deine Arbeit erfordert sicher viel emotionale Kraft. Woher nimmst du die Energie, dich täglich mit so belastenden Themen auseinanderzusetzen?
Tatsächlich gibt mir die Arbeit Kraft. Manchmal ist das auch frustrierend, weil man immer wieder mit schlimmen Gewaltvorfällen zu tun hat. Auf Social Media habe ich aber das Gefühl, dass ich etwas bewirken kann. Menschen lernen etwas, Frauen können leichter Gewaltbeziehungen verlassen oder finden Anlaufstellen. Auch die feministische Community hilft mir sehr. Außerdem mache ich sehr viele schöne Sachen. Ich gehe gerne zum Sport oder hänge mit meiner Katze ab und treffe Freund:innen, mit denen ich mich austauschen kann.

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Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.