In Bildungsfragen polarisiert kaum ein Thema so wie die Waldorfschule. Deren Schülerinnen und Schüler sehen sich mit allerhand Klischees konfrontiert: Können sie ihren Namen tanzen? Lernen sie dort überhaupt etwas? Oder sind sie gar eine Art Sekte, die Rudolf Steiner, den Gründer der Waldorfpädagogik, regelrecht anbeten? Die meisten dieser Vorurteile sind sicherlich überzogen und veraltet. Dennoch scheint die Diskussion über dieses Thema ziemlich verhärtet: Die einen sehen in der Waldorfschule großes reformpädagogisches Potenzial und blenden dabei ihren anthroposophischen Unterbau aus, andere lehnen die Waldorfpädagogik wegen ihrer esoterischen Ursprünge kategorisch ab. Wer hat denn nun Recht?
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Waldorfschulen ihre Wurzeln im Menschenbild des Philosophen und Esoterikers Rudolf Steiner haben, dem Begründer der Anthroposophie. Hierbei handelt es sich um eine esoterische Weltanschauung, die den Menschen innerhalb einer geistigen Welt verordnet, die durch spezielle spirituelle Methoden erfahrbar sei. Steiner eröffnete 1919 die erste Waldorfschule in Stuttgart und ist als Person umstritten, da vielen seiner Theorien der Wissenschaftsanspruch fehlt und sogar Stellen zu finden sind, die aus heutiger Sicht rassistisch oder antisemitisch sind. Hiervon hat sich der Bund der Freien Waldorfschulen im Jahr 2007 allerdings mit der „Stuttgarter Erklärung“ öffentlich distanziert. Die Frage bleibt, wie viel der anthroposophischen Ideen Steiners heutzutage noch in der Waldorfpraxis stattfinden.
Prof. Dr. Heiner Barz ist Bildungswissenschaftler an der Uni Düsseldorf. (c) privat
Denn: Über 100 Jahre nach der ersten Schulgründung kann Waldorf durchaus als Erfolg gelten. Mittlerweile gibt es über 1000 Waldorfschulen weltweit, davon rund 250 in Deutschland. Diese Resonanz ist auf zwei Faktoren zurückzuführen, erklärt der Bildungsforscher Prof. Dr. Heiner Barz von der Universität Düsseldorf: „Es gibt zum einen diese interessante, offensichtlich funktionierende und von vielen als positiv wahrgenommene Pädagogik, auf der anderen Seite die Flucht von Schülerinnen, Schülern und Eltern aus dem staatlichen Schulsystem.“ Die Unzufriedenheit mit den Regelschulen und die Suche nach Alternativen sei maßgeblich für den Erfolg der Waldorfschulen verantwortlich, die als größte freie Schulbewegung weltweit gelten.
„Eigentlich eine ganz normale Schulzeit“
Mathilda Tzitzi und Felix Jehn sind ehemalige Waldorfschüler:innen und haben im Gespräch von ihren Erfahrungen, ihren Einstellungen zur Waldorfpädagogik und auch von Kuriositäten aus ihrer Schulzeit berichtet. Beide haben von der ersten Klasse bis zum Abitur eine Waldorfschule besucht, Mathilda war zuvor sogar in einem Waldorfkindergarten. Was im Gespräch schnell klar wird: Beide sind rückblickend im Grunde zufrieden mit ihrer Schulzeit. Natürlich habe es gute und schlechte Lehrkräfte, spannenden und langweiligen Unterricht und auch einige Kritikpunkte gegeben – so wie vermutlich an jeder Schule. Doch gerade in der Retrospektive äußern sich beide sehr dankbar über die vielen künstlerisch-praktischen Angebote und die Möglichkeiten, den Schulalltag mitzugestalten.
„Ich war auch oft genervt von der Waldorfschule, zum Beispiel von Handarbeiten oder davon, dass wir bei jedem Wetter in der Pause nach draußen mussten. Aber heute merke ich, dass es mir gutgetan hat, nicht jeden Tag sechs Stunden stillsitzen zu müssen“, erklärt Felix. Auch Mathilda betont, wie viel sie durch den praktischen Unterricht gelernt hat: „Menschen von der Waldorfschule haben einfach ein viel besseres handwerkliches Verständnis.“ Dass es im Unterricht nicht nur um die reine Wissensvermittlung, sondern auch um die emotionalen Bedürfnisse und die Bewegung der Schüler:innen geht, sieht auch Prof. Heiner Barz als einen zentralen Erfolgsfaktor des Schulkonzepts. Diese ganzheitliche Betrachtung des Menschen sei der wichtigste Punkt, der heute von den Lehren Steiners in der Waldorfpraxis übriggeblieben ist: Steiners humanistische Theorie, dass sich der Mensch in Geist, Leib und Seele teile.
Nur ein Fach haben sowohl Felix als auch Mathilda nicht unbedingt in bester Erinnerung: Eurythmie. Hierbei handelt es sich um einen darstellenden Tanz, der an Waldorfschulen zum Pflichtunterricht zählt – das berühmte Klischee vom Namen-Tanzen. Beide sind sich einig: Gerade als pubertierende Jugendliche habe sich das sehr aufgezwungen angefühlt.
„Es war ein bisschen dschungelmäßig“
Waldorfschulen sind Schulen in freier Trägerschaft. Das heißt, dass sie selbstorganisiert sind und einigen Gestaltungsspielraum haben, was Vor- und Nachteile mit sich bringt. Schüler:innen hatten Mitspracherecht, berichten Mathilda und Felix, und konnten durchaus zu Veränderungen im Schulalltag oder den Unterrichtsinhalten beitragen. Doch vieles komme ihr im Nachhinein auch etwas unorganisiert vor, erklärt Mathilda: „Gerade am Anfang hatte ich manchmal das Gefühl, dass unsere Lehrerinnen und Lehrer irgendwie zusammengewürfelt waren, weil die Schule noch sehr neu war. Es war alles ein bisschen dschungelmäßig.“ Auch Prof. Heiner Barz sieht die Selbstverwaltung der Waldorfschulen ambivalent, denn sie bedeute eine starke Doppelbelastung für das Lehrkollegium. Neben dem Unterrichten müssen die Lehrkräfte über alle wichtigen Fragen der Schulorganisation selbst entscheiden.
Darüber hinaus kritisieren Felix und Mathilda auch andere Punkte, die zur klassischen Reformpädagogik der Waldorfschulen zählen. Da ist zum einen der Epochenunterricht, dass also einzelne Fächer über mehrere Wochen jeden Tag behandelt werden, während sie zu anderen Zeitpunkten im Schuljahr gar nicht auf dem Lehrplan stehen. Das habe dazu geführt, dass gegen Ende des Schuljahres sehr viel Stoff in den letzten Monat gequetscht werden musste, erinnert sich Mathilda. Auch die letzten ein bis zwei Jahre vor dem Abitur nahmen beide als intensiv und anstrengend wahr: „Das war sehr hart und sehr viel, für viele dann auch zu viel“, so Mathilda. Andere pädagogische Ansätze hingegen lobt sie sehr, etwa den ausbleibenden Leistungsdruck dank fehlender Noten und die über die ganze Schulzeit gleichbleibende Klassenkonstellation. Der Bildungsforscher Heiner Barz befürwortet außerdem besonders den Verzicht auf das Sitzenbleiben: „Es gibt mittlerweile viele Studien, die aus erziehungswissenschaftlicher Sicht nachweisen konnten, dass Sitzenbleiben mehr schadet, als dass es hilft.“
Das sogenannte Klassenlehrerprinzip hingegen bewerten Mathilda und Felix kritisch. Auf der Waldorfschule haben Klassen über die ersten acht Schuljahre idealerweise dieselbe Klassenlehrerin oder denselben Klassenlehrer. Diese Person soll für die Schüler:innen nicht nur eine Vertrauensperson, sondern auch eine Art Vorbild sein. Wenn man aber, aus welchem Grund auch immer, mit dieser Lehrkraft unzufrieden ist oder kein gutes Verhältnis zu ihr hat, ist man trotzdem über viele Jahre an sie gebunden, erklärt Felix.
„Wir hatten jetzt nicht Rudolf-Steiner-Unterricht“
Abseits dieser pädagogischen Überlegungen bleibt da natürlich noch der anthroposophische Unterbau der Waldorfpädagogik, der meist Gegenstand scharfer Kritik ist. Auf die Frage, welche Rolle die Lehren Rudolf Steiners oder sonstige esoterische Inhalte in ihrem Schulalltag gespielt hätten, sagt Mathilda: „Ich hatte Glück mit meiner Schule. Wir hatten nirgendwo ein Bild von Rudolf Steiner hängen. Er wurde fast nie erwähnt.“ Auch Felix erklärt: „Wir hatten jetzt nicht Rudolf-Steiner-Unterricht.“ Aber: „Es wurde zwar nie explizit so begründet, aber es kann durchaus sein, dass wir bestimmte Dinge gemacht haben, weil sie dieser anthroposophischen Lehre entsprochen haben.“ Dazu hätten sie dann eben eine kritische Distanz gewahrt und sich im Zweifel auch darüber amüsiert.
Einige kuriose Geschichten gab es nämlich doch, so habe eine von Felix‘ Lehrerinnen ständig von den Zwergen in ihrem Garten erzählt. Andererseits habe er auf die Frage, ob Rudolf Steiner denn nun ein Rassist gewesen sei oder nicht, als Schüler nie eine befriedigende Antwort erhalten. Mathilda erinnert sich wiederum an eine Lehrerin, die sich vehement gegen Solarpaneele auf dem Dach gewehrt habe, da sie gewisse Geister abhalten würden. Auch während der Pandemie sei es zu einigen heftigen Diskussionen gekommen. Den Anteil der Lehrkräfte mit esoterischer Weltanschauung beschreibt sie als „Fifty-Fifty“.
Mathilda und Felix sagen aber beide: Sie wurden nicht zur Anthroposophie erzogen, wenngleich esoterische Ideen in den Einstellungen mancher Lehrkräfte oder in gewissen Abläufen mitgeschwungen sind. Beide könnten sich aber vorstellen, dass es sich an anderen Waldorfschulen durchaus anders verhält. Damit decken sich ihre Aussagen mit den Beobachtungen von Heiner Barz, der auch umfassende Befragungen mit Waldorfschüler:innen durchgeführt hat. Seiner Ansicht nach spielt die Anthroposophie als Unterrichtsinhalt heutzutage in den Waldorfschulen so gut wie keine Rolle. Auch bei den Lehrkräften und Eltern nehme die Identifizierung mit der Anthroposophie tendenziell ab: „Da ist ein starker Säkularisierungsprozess eingetreten. Menschen werden seltener Waldorflehrerin oder -lehrer, weil sie die Anthroposophie toll finden oder Rudolf Steiner verehren, sondern weil sie so die Möglichkeit haben, einen kindgerechten Unterricht zu machen und nicht an staatliche Lehrpläne gebunden zu sein.“
„Waldorfschulen sind sehr weiße Schulen“
Kritisiert werden Waldorfschulen auch häufig dafür, dass sie nur ein bestimmtes Milieu ansprechen würden. Wie Heiner Barz, der sich ebenfalls mit der Milieu-Forschung beschäftigt, betont, haben die Schüler:innen an Waldorfschulen einen eher homogenen Hintergrund. Viele stammen aus einem Elternhaus mit hoher Bildungsaffinität, Kinder aus Arbeiterfamilien oder Familien mit Migrationsgeschichte seien eher selten.
Auch Felix und Mathilda beschreiben ihre Schulen als Blase: „Mich hat persönlich immer gestört, dass Waldorfschulen sehr weiße Schulen sind. Viele Menschen dort leben sehr in ihrem eigenen Kosmos“, erklärt Mathilda. Deswegen hängt es ihrer Ansicht nach auch vor allem vom Elternhaus ab, ob die Schüler:innen selbst esoterischen Ideen anhängen würden oder nicht. Die Schule könne aber durchaus zur Festigung dieser Ansichten beitragen, weil es sich um eine sehr geschlossene Bubble handelt, die viele nicht verlassen.
„Man sollte sich ein eigenes Bild machen“
Dennoch: Sowohl Felix als auch Mathilda würden eine Waldorfschule nie kategorisch ausschließen. „Man sollte zum Tag der offenen Tür gehen, mit den Lehrerinnen und Lehrern reden und sich vorher anschauen, was an der Schule so passiert“, erklärt Felix. Mathilda ergänzt: „Mir persönlich gefallen die Waldorfschulen einfach besser als die staatlichen Schulen in Deutschland, auch wenn ich einige Punkte kritisch sehe. Bestimmte Waldorfschulen würde ich ablehnen, andere würde ich annehmen. Ich glaube, keine Schule ist perfekt.“
In Bildungsfragen polarisiert kaum ein Thema so wie die Waldorfschule. Deren Schülerinnen und Schüler sehen sich mit allerhand Klischees konfrontiert: Können sie ihren Namen tanzen? Lernen sie dort überhaupt etwas? Oder sind sie gar eine Art Sekte, die Rudolf Steiner, den Gründer der Waldorfpädagogik, regelrecht anbeten? Die meisten dieser Vorurteile sind sicherlich überzogen und veraltet. Dennoch scheint die Diskussion über dieses Thema ziemlich verhärtet: Die einen sehen in der Waldorfschule großes reformpädagogisches Potenzial und blenden dabei ihren anthroposophischen Unterbau aus, andere lehnen die Waldorfpädagogik wegen ihrer esoterischen Ursprünge kategorisch ab. Wer hat denn nun Recht?
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Waldorfschulen ihre Wurzeln im Menschenbild des Philosophen und Esoterikers Rudolf Steiner haben, dem Begründer der Anthroposophie. Hierbei handelt es sich um eine esoterische Weltanschauung, die den Menschen innerhalb einer geistigen Welt verordnet, die durch spezielle spirituelle Methoden erfahrbar sei. Steiner eröffnete 1919 die erste Waldorfschule in Stuttgart und ist als Person umstritten, da vielen seiner Theorien der Wissenschaftsanspruch fehlt und sogar Stellen zu finden sind, die aus heutiger Sicht rassistisch oder antisemitisch sind. Hiervon hat sich der Bund der Freien Waldorfschulen im Jahr 2007 allerdings mit der „Stuttgarter Erklärung“ öffentlich distanziert. Die Frage bleibt, wie viel der anthroposophischen Ideen Steiners heutzutage noch in der Waldorfpraxis stattfinden.
Denn: Über 100 Jahre nach der ersten Schulgründung kann Waldorf durchaus als Erfolg gelten. Mittlerweile gibt es über 1000 Waldorfschulen weltweit, davon rund 250 in Deutschland. Diese Resonanz ist auf zwei Faktoren zurückzuführen, erklärt der Bildungsforscher Prof. Dr. Heiner Barz von der Universität Düsseldorf: „Es gibt zum einen diese interessante, offensichtlich funktionierende und von vielen als positiv wahrgenommene Pädagogik, auf der anderen Seite die Flucht von Schülerinnen, Schülern und Eltern aus dem staatlichen Schulsystem.“ Die Unzufriedenheit mit den Regelschulen und die Suche nach Alternativen sei maßgeblich für den Erfolg der Waldorfschulen verantwortlich, die als größte freie Schulbewegung weltweit gelten.
„Eigentlich eine ganz normale Schulzeit“
Mathilda Tzitzi und Felix Jehn sind ehemalige Waldorfschüler:innen und haben im Gespräch von ihren Erfahrungen, ihren Einstellungen zur Waldorfpädagogik und auch von Kuriositäten aus ihrer Schulzeit berichtet. Beide haben von der ersten Klasse bis zum Abitur eine Waldorfschule besucht, Mathilda war zuvor sogar in einem Waldorfkindergarten. Was im Gespräch schnell klar wird: Beide sind rückblickend im Grunde zufrieden mit ihrer Schulzeit. Natürlich habe es gute und schlechte Lehrkräfte, spannenden und langweiligen Unterricht und auch einige Kritikpunkte gegeben – so wie vermutlich an jeder Schule. Doch gerade in der Retrospektive äußern sich beide sehr dankbar über die vielen künstlerisch-praktischen Angebote und die Möglichkeiten, den Schulalltag mitzugestalten.
„Ich war auch oft genervt von der Waldorfschule, zum Beispiel von Handarbeiten oder davon, dass wir bei jedem Wetter in der Pause nach draußen mussten. Aber heute merke ich, dass es mir gutgetan hat, nicht jeden Tag sechs Stunden stillsitzen zu müssen“, erklärt Felix. Auch Mathilda betont, wie viel sie durch den praktischen Unterricht gelernt hat: „Menschen von der Waldorfschule haben einfach ein viel besseres handwerkliches Verständnis.“ Dass es im Unterricht nicht nur um die reine Wissensvermittlung, sondern auch um die emotionalen Bedürfnisse und die Bewegung der Schüler:innen geht, sieht auch Prof. Heiner Barz als einen zentralen Erfolgsfaktor des Schulkonzepts. Diese ganzheitliche Betrachtung des Menschen sei der wichtigste Punkt, der heute von den Lehren Steiners in der Waldorfpraxis übriggeblieben ist: Steiners humanistische Theorie, dass sich der Mensch in Geist, Leib und Seele teile.
Nur ein Fach haben sowohl Felix als auch Mathilda nicht unbedingt in bester Erinnerung: Eurythmie. Hierbei handelt es sich um einen darstellenden Tanz, der an Waldorfschulen zum Pflichtunterricht zählt – das berühmte Klischee vom Namen-Tanzen. Beide sind sich einig: Gerade als pubertierende Jugendliche habe sich das sehr aufgezwungen angefühlt.
„Es war ein bisschen dschungelmäßig“
Waldorfschulen sind Schulen in freier Trägerschaft. Das heißt, dass sie selbstorganisiert sind und einigen Gestaltungsspielraum haben, was Vor- und Nachteile mit sich bringt. Schüler:innen hatten Mitspracherecht, berichten Mathilda und Felix, und konnten durchaus zu Veränderungen im Schulalltag oder den Unterrichtsinhalten beitragen. Doch vieles komme ihr im Nachhinein auch etwas unorganisiert vor, erklärt Mathilda: „Gerade am Anfang hatte ich manchmal das Gefühl, dass unsere Lehrerinnen und Lehrer irgendwie zusammengewürfelt waren, weil die Schule noch sehr neu war. Es war alles ein bisschen dschungelmäßig.“ Auch Prof. Heiner Barz sieht die Selbstverwaltung der Waldorfschulen ambivalent, denn sie bedeute eine starke Doppelbelastung für das Lehrkollegium. Neben dem Unterrichten müssen die Lehrkräfte über alle wichtigen Fragen der Schulorganisation selbst entscheiden.
Darüber hinaus kritisieren Felix und Mathilda auch andere Punkte, die zur klassischen Reformpädagogik der Waldorfschulen zählen. Da ist zum einen der Epochenunterricht, dass also einzelne Fächer über mehrere Wochen jeden Tag behandelt werden, während sie zu anderen Zeitpunkten im Schuljahr gar nicht auf dem Lehrplan stehen. Das habe dazu geführt, dass gegen Ende des Schuljahres sehr viel Stoff in den letzten Monat gequetscht werden musste, erinnert sich Mathilda. Auch die letzten ein bis zwei Jahre vor dem Abitur nahmen beide als intensiv und anstrengend wahr: „Das war sehr hart und sehr viel, für viele dann auch zu viel“, so Mathilda. Andere pädagogische Ansätze hingegen lobt sie sehr, etwa den ausbleibenden Leistungsdruck dank fehlender Noten und die über die ganze Schulzeit gleichbleibende Klassenkonstellation. Der Bildungsforscher Heiner Barz befürwortet außerdem besonders den Verzicht auf das Sitzenbleiben: „Es gibt mittlerweile viele Studien, die aus erziehungswissenschaftlicher Sicht nachweisen konnten, dass Sitzenbleiben mehr schadet, als dass es hilft.“
Das sogenannte Klassenlehrerprinzip hingegen bewerten Mathilda und Felix kritisch. Auf der Waldorfschule haben Klassen über die ersten acht Schuljahre idealerweise dieselbe Klassenlehrerin oder denselben Klassenlehrer. Diese Person soll für die Schüler:innen nicht nur eine Vertrauensperson, sondern auch eine Art Vorbild sein. Wenn man aber, aus welchem Grund auch immer, mit dieser Lehrkraft unzufrieden ist oder kein gutes Verhältnis zu ihr hat, ist man trotzdem über viele Jahre an sie gebunden, erklärt Felix.
„Wir hatten jetzt nicht Rudolf-Steiner-Unterricht“
Abseits dieser pädagogischen Überlegungen bleibt da natürlich noch der anthroposophische Unterbau der Waldorfpädagogik, der meist Gegenstand scharfer Kritik ist. Auf die Frage, welche Rolle die Lehren Rudolf Steiners oder sonstige esoterische Inhalte in ihrem Schulalltag gespielt hätten, sagt Mathilda: „Ich hatte Glück mit meiner Schule. Wir hatten nirgendwo ein Bild von Rudolf Steiner hängen. Er wurde fast nie erwähnt.“ Auch Felix erklärt: „Wir hatten jetzt nicht Rudolf-Steiner-Unterricht.“ Aber: „Es wurde zwar nie explizit so begründet, aber es kann durchaus sein, dass wir bestimmte Dinge gemacht haben, weil sie dieser anthroposophischen Lehre entsprochen haben.“ Dazu hätten sie dann eben eine kritische Distanz gewahrt und sich im Zweifel auch darüber amüsiert.
Einige kuriose Geschichten gab es nämlich doch, so habe eine von Felix‘ Lehrerinnen ständig von den Zwergen in ihrem Garten erzählt. Andererseits habe er auf die Frage, ob Rudolf Steiner denn nun ein Rassist gewesen sei oder nicht, als Schüler nie eine befriedigende Antwort erhalten. Mathilda erinnert sich wiederum an eine Lehrerin, die sich vehement gegen Solarpaneele auf dem Dach gewehrt habe, da sie gewisse Geister abhalten würden. Auch während der Pandemie sei es zu einigen heftigen Diskussionen gekommen. Den Anteil der Lehrkräfte mit esoterischer Weltanschauung beschreibt sie als „Fifty-Fifty“.
Mathilda und Felix sagen aber beide: Sie wurden nicht zur Anthroposophie erzogen, wenngleich esoterische Ideen in den Einstellungen mancher Lehrkräfte oder in gewissen Abläufen mitgeschwungen sind. Beide könnten sich aber vorstellen, dass es sich an anderen Waldorfschulen durchaus anders verhält. Damit decken sich ihre Aussagen mit den Beobachtungen von Heiner Barz, der auch umfassende Befragungen mit Waldorfschüler:innen durchgeführt hat. Seiner Ansicht nach spielt die Anthroposophie als Unterrichtsinhalt heutzutage in den Waldorfschulen so gut wie keine Rolle. Auch bei den Lehrkräften und Eltern nehme die Identifizierung mit der Anthroposophie tendenziell ab: „Da ist ein starker Säkularisierungsprozess eingetreten. Menschen werden seltener Waldorflehrerin oder -lehrer, weil sie die Anthroposophie toll finden oder Rudolf Steiner verehren, sondern weil sie so die Möglichkeit haben, einen kindgerechten Unterricht zu machen und nicht an staatliche Lehrpläne gebunden zu sein.“
„Waldorfschulen sind sehr weiße Schulen“
Kritisiert werden Waldorfschulen auch häufig dafür, dass sie nur ein bestimmtes Milieu ansprechen würden. Wie Heiner Barz, der sich ebenfalls mit der Milieu-Forschung beschäftigt, betont, haben die Schüler:innen an Waldorfschulen einen eher homogenen Hintergrund. Viele stammen aus einem Elternhaus mit hoher Bildungsaffinität, Kinder aus Arbeiterfamilien oder Familien mit Migrationsgeschichte seien eher selten.
Auch Felix und Mathilda beschreiben ihre Schulen als Blase: „Mich hat persönlich immer gestört, dass Waldorfschulen sehr weiße Schulen sind. Viele Menschen dort leben sehr in ihrem eigenen Kosmos“, erklärt Mathilda. Deswegen hängt es ihrer Ansicht nach auch vor allem vom Elternhaus ab, ob die Schüler:innen selbst esoterischen Ideen anhängen würden oder nicht. Die Schule könne aber durchaus zur Festigung dieser Ansichten beitragen, weil es sich um eine sehr geschlossene Bubble handelt, die viele nicht verlassen.
„Man sollte sich ein eigenes Bild machen“
Dennoch: Sowohl Felix als auch Mathilda würden eine Waldorfschule nie kategorisch ausschließen. „Man sollte zum Tag der offenen Tür gehen, mit den Lehrerinnen und Lehrern reden und sich vorher anschauen, was an der Schule so passiert“, erklärt Felix. Mathilda ergänzt: „Mir persönlich gefallen die Waldorfschulen einfach besser als die staatlichen Schulen in Deutschland, auch wenn ich einige Punkte kritisch sehe. Bestimmte Waldorfschulen würde ich ablehnen, andere würde ich annehmen. Ich glaube, keine Schule ist perfekt.“
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