Welchen Einfluss hat die Geschwisterposition auf die Persönlichkeit?  

Drei Kinder mit blonden Haaren von hinten. In der Mitte steht das größte Kind, links daneben das Mittlere und rechts das Kleinste.
Die einen Lieben sich, die anderen können sich nicht ausstehen: Geschwisterbeziehungen sind in jeder Familie anders.

Emely Hofmann, funky-Jugendreporterin

Für die einen sind Geschwister die besten Freunde, für andere die größten Rivalen. Sie begleiten einen oft das Leben lang, aussuchen kann man sie sich aber nicht. Es gibt jede Menge Klischees, die sich hartnäckig halten und in der Wissenschaft hoch umstritten sind: Ältere Geschwister seien verantwortungsbewusst und intelligent, die mittleren „Sandwich-Kinder“ würden oft übersehen und seien sehr zurückhaltend und die Nesthäkchen wiederum sollen kreative Freigeister sein, die gerne auch mal aus der Reihe tanzen. Doch was steckt hinter diesen Vorurteilen?

Sind die erstgeborenen Geschwister verantwortungsbewusster und gewissenhafter?

Jede Geschwisterbeziehung ist anders – und jede Familie auch. Während früher Familien mit drei, vier oder mehr Geschwistern keine Seltenheit waren, ist die Durchschnittsfamilie über die Zeit geschrumpft. Ein Großteil der Kinder wächst mit einem oder gar keinem Geschwisterkind auf.

Jutta Gemima aber kommt aus einer Großfamilie. Sie hat sechs ältere Geschwister, drei Brüder und drei Schwestern. „Meine älteren Geschwister haben viel Verantwortung übernommen. Durch den Altersunterschied war mein ältester Bruder so etwas wie ein Ersatzvater und meine älteste Schwester so etwas wie eine Ersatzmutter. Ich bin sehr dankbar dafür, so tolle Geschwister zu haben“, erzählt Jutta Gemima. Sie habe die Rolle des Nesthäkchens, das sich um nichts kümmern muss, genossen. „Ich war die Einzige von meinen Geschwistern, die Taschengeld bekommen hat. Alle anderen haben mit 13 anfangen, Zeitungen auszutragen oder arbeiten zu gehen. Das musste ich nicht machen“, erklärt sie. Auch im Haushalt musste Jutta Gemima erst später Aufgaben übernehmen – es gab ja schließlich ihre Geschwister.

Auch Beatrice* ist die Jüngste in ihrer Familie – um genau drei Minuten, denn sie hat eine Zwillingsschwester. Trotz des marginalen Altersunterschieds gibt es in ihrer Schwesternbeziehung eine klare Rollenverteilung: Beatrice als Jüngere und ihre Schwester als Ältere. „Meine Schwester war schon als Kind deutlich dominanter als ist. Ich war immer eher schüchtern und habe mich hinter ihr versteckt“, erzählt Beatrice. „Ich habe mich auch ein bisschen darauf ausgeruht, dass sie immer die Verantwortung übernommen hat.“ Beatrice vermutet, dass ihre Schwester deswegen auch zu einer zielstrebigen Frau geworden ist, die die Dinge direkt anpackt.

Marie* hingegen hat lange ausschließlich die Position der älteren Schwester übernommen, bis sie mit 16 wieder Kontakt zu ihrer 20 Jahre älteren Halbschwester aufgenommen hat. „Ich war für meine kleine Schwester früher ein Vorbild und eine Bezugsperson. Ich habe immer Verantwortung getragen, insbesondere für die Gefühle anderer“, erzählt sie. „Früher wollte meine kleine Schwester genauso sein wie ich. Sie wollte, dass wir uns wie Zwillinge anziehen und hat mir oft nachgeeifert. Einmal habe ich mir einen Pony schneiden lassen, dann wollte sie auch einen. Als ich den Pony dann immer mit Haarspangen zur Seite gesteckt habe, hat sie auch damit angefangen“, erzählt sie. Inzwischen verstehen sich die beiden zwar immer noch sehr gut, sind aber zu eigenständigen Menschen herangereift. „Jetzt hat meine Schwester ganz andere Interessen als ich und wir gehen beide eher unseren eigenen Weg.“ Bei ihrer älteren Halbschwester kann Marie auch mal die Jüngere sein und selbst um Rat fragen. „Das genieße ich sehr“, sagt sie.

Dass ältere Geschwister mehr Verantwortung übernehmen, ist nicht ungewöhnlich, bestätigt auch Dr. Julia Rohrer. Sie ist Persönlichkeitspsychologin und forscht zu Geschwisterdynamiken. Einen langfristigen Einfluss auf die Entwicklung bestimmter Charaktereigenschaften gibt es aber nicht – weder bei älteren, noch bei jüngeren Geschwisterkindern. „Im Kindheitsalter sind vielleicht stereotype Unterschiede zu erkennen, zum Beispiel, dass später Geborene etwas extrovertierter sind und die Älteren vernünftiger. Im Erwachsenalter ist davon aber nichts mehr übrig“, erläutert Rohrer.

Es sei aber durchaus plausibel, dass Erstgeborene gewissenhafter erscheinen, sagt die Expertin: „Gewissenhaftigkeit ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich mit dem Alter entwickelt. Bis Mitte dreißig oder sogar darüber hinaus steigt die Gewissenhaftigkeit normativ an. Wenn man also ältere mit jüngeren Geschwistern vergleicht, ist es immer ein unfairer Vergleich, weil die Älteren mehr Zeit hatten, in ihrer Persönlichkeit zu reifen.“ Dieser scheinbare Unterschied, dass ältere Geschwister gewissenhafter seien, wird also durch den Altersunterschied verursacht. Auch dass das jüngste Geschwisterkind eher rebellisch ist, kann laut der Persönlichkeitspsychologin nicht durch Daten bestätigt werden.

Sind Erstgeborene intelligenter und Nesthäkchen kreativer?

Was sich allerdings beobachten lässt, ist ein Intelligenzvorsprung der Erstgeborenen gegenüber ihren jüngeren Geschwistern. „Im Intellektuellen oder auch in akademischen und beruflichen Bereichen finden wir tatsächlich kleine Effekte“, erklärt Julia Roher. Dabei sei einigen Datenerhebungen sogar zu entnehmen, dass die Intelligenz pro Geschwisterposition geringfügig abnimmt. Dieser Effekt ist aber so klein, dass er bei einem perfekt durchschnittlichen Erstgeborenen und perfekt durchschnittlich Zweitgeborenen nicht auffallen würde. Dennoch erreichen Erstgeborene im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse. „In schwedischen Registerdaten kann man gut nachvollziehen, dass Erstgeborene tatsächlich eher Medizin oder Ingenieurswissenschaften studieren und die später Geborenen eher in den kreativen Bereich gehen“, erläutert Rohrer.

Ganz unbegründet ist das Klischee, dass ältere Geschwister schlauer sind und eher „klassische“ Berufe ausüben, also nicht. Das konnte auch Beatrice bei ihrer Zwillingsschwester beobachten: „Sie wollte früher immer Medizin studieren. Jetzt studiert sie Stadtplanung, wohingegen ich mir mit Journalismus einen eher kreativen Studiengang ausgesucht habe“, schildert sie. Bei Marie ist es ähnlich. Sie ist vier Jahre älter als ihre Schwester und studiert Psychologie. „Meine jüngere Schwester ist musikalisch sehr begabt und macht aktuell ein Musik-Frühstudium. Ich hingegen bin gar nicht musikalisch“, erzählt Marie. Als Nesthäkchen unter ihren Geschwistern passt auch Jutta Gemima zu diesem Klischee: „Ich habe mit einem kreativen Studiengang einen völlig anderen Weg eingeschlagen als meine Geschwister.“ Der Intelligenzunterschied zwischen den jüngeren und älteren Geschwistern liegt aber nicht etwa an den Genen oder am Können. Viel mehr spielen äußere Einflüsse eine Rolle erklärt Julia Rohrer. Dafür gibt es drei Erklärungsansätze: „Eltern haben bei ihrem ersten Kind einfach mehr Zeit, sich voll und ganz auf die Erziehung zu fokussieren. Sie können also besser stimulieren und die Entwicklung vorantreiben“, beschreibt Rohrer. „Andererseits lastet auf dem Erstgeborenen oft auch mehr Druck. Wenn Papa Arzt ist, dann muss das erste Kind vielleicht auch Medizin studieren. Wenn diese Erwartungshaltung bereits von einem älteren Geschwisterkind erfüllt wird, haben die jüngeren mehr Freiheiten“, führt die Persönlichkeitspsychologin weiter aus. Der dritte Erklärungsansatz ist so charmant wie plausibel: Ältere lernen, indem sie ihren jüngeren Geschwistern etwas beibringen. „Ich selbst habe Statistik viel besser verstanden, indem ich Statistiktutorien gegeben habe“, erklärt Rohrer. Dass die Älteren den Jüngeren etwas beibringen, ist also eine Win-Win-Situation.

Werden Sandwichkinder vernachlässigt?

Aber wie sieht es nun eigentlich beim Sandwichkind aus, also dem Geschwisterkind in der Mitte? „Meine mittlere Schwester hat sich früher manchmal vernachlässigt gefühlt“, erzählt Jutta Gemima. Inzwischen hat sie sich damit abgefunden und macht eher ihr eigenes Ding. Natürlich haben meine Eltern versucht, es allen Kindern recht zu machen. Bei so vielen Geschwistern kann es aber vorkommen, dass manchmal der ein oder andere untergeht,“ erläutert sie. Das hört man immer wieder: Sandwichkinder würden übersehen, bekämen am wenigsten Aufmerksamkeit und seien dadurch zurückhaltend und genügsam. Persönlichkeitspsychologin Julia Rohrer bestätigt, dass wissenschaftliche Überlegungen nahelegen, dass die mittleren Kinder am wenigsten ungeteilte Aufmerksamkeit von ihren Eltern bekommen – auch wenn diese sich bemühen, ihre Zeit zwischen den Kindern fair aufzuteilen. „Die mittleren Kinder wohnen meist nie allein mit ihren Eltern, weil immer noch ein jüngeres Geschwisterkind da ist. Dadurch kommen sie oft zu kurz“, erläutert die Expertin. Welchen Einfluss das auf die Persönlichkeit hat, sei aber schwer zu sagen. Eine neue kanadische Studie legt jedoch nahe, dass Sandwichkinder besonders ehrlich, demütig und verträglich im Vergleich zu ihren Geschwistern sind.

Immer wieder tauchen Studien auf, die einen geringfügigen Zusammenhang zwischen Geschwisterreihenfolge und Persönlichkeitsmerkmalen nachweisen. Andere hingegen finden keinen eindeutigen Zusammenhang. Damit lässt sich die Frage, ob der Charakter mit der Position in der Geburtsreihenfolge zusammenhängt, nicht endgültig beantworten. Rohrer aber kommt zu dem Fazit: „Nach bestem Wissen und Gewissen haben die Geschwister keinen großen systematischen Einfluss auf die Persönlichkeit.“

Ähnliches ist auch in den Gesprächen mit Jutta Gemima, Beatrice und Marie erkennbar. An manchen Stellen überschneiden sich ihre Eindrücke und passen zu den Klischees. Oft gehen sie aber auch auseinander. Wie sehr Geschwisterbeziehungen die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen können, hat auch Beatrice mit ihrer Zwillingsschwester gemerkt. „Wir haben aktuell ein schwieriges Verhältnis, weil wir erstmal herausfinden müssen, wer wir sind. Als Zwillinge wird man oft nur als Einheit wahrgenommen. Das war in der Kindheit schön, hat jetzt aber dazu geführt, dass wir uns eher voneinander abgrenzen wollen“, erzählt sie. „Aber ich bin froh, dass sie so ist, wie sie ist und ich so bin, wie ich bin – auch wenn das sehr oft zu Reiberein geführt hat. Ohne sie wäre ich nicht die Person, die ich heute bin.“ Egal wie ähnlich oder ganz verschieden, Erstgeborene, Sandwichkind oder Nesthäkchen also sind und ob sie den Stereotypen entsprechen oder nicht: Irgendwie beeinflussen Geschwister einander also immer.

*Namen geändert

Du willst mehr? Du bekommst mehr!

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.