Der Psychotherapeut Lukas Maher spricht im Interview über die Chancen und Gefahren von Selbstdiagnosen.
Auf TikTok und Instagram lassen sich zahlreiche Videos finden, die dabei helfen sollen, Depressionen, ADHS und weitere Krankheitsbilder bei sich selbst zu erkennen. Der 30-jährige Lukas Maher ist Psychologischer Psychotherapeut für Systemische Therapie und hat sich auf ADHS spezialisiert. In den sozialen Medien klärt er unter dem Namen @systemischegesundheit über ADHS auf. Im Interview erklärt er, welche Auswirkungen solche Videos auf junge Menschen haben können und welche Strategien zur Vorbeugung falscher Diagnosen empfehlenswert sind.
Herr Maher, welche Faktoren sind Ihrer Einschätzung nach für die steigende Popularität von Selbstdiagnosen in den sozialen Medien verantwortlich? Lukas Maher: Dazu muss man sich zunächst auf eine gemeinsame Definition des Begriffs „Selbstdiagnose“ einigen. Ich würde sagen, dass die steigende Popularität von Selbstdiagnosen in den sozialen Medien vor allem auf den zunehmenden Content von Betroffenen für Betroffene zurückzuführen ist, der im Vergleich zur klassischen Diagnose als weniger deskriptiv verstanden wird.
Welche Vorteile ergeben sich aus der Verbreitung psychologischer Informationen auf Social Media? Ich denke, dass vor allem die leichtere Zugänglichkeit ein Vorteil ist. Früher war es so: Wer nicht Psychologie studiert hatte oder die Fachliteratur verstehen konnte, hatte praktisch keinen Einblick in die Diagnosekriterien. Außerdem können Diagnosekriterien weit ausgelegt werden. Zum Beispiel Hyperaktivität bei ADHS, das sich entweder durch innere Unruhe oder Schwierigkeiten, sich zu entspannen, äußert. In den sozialen Medien werden verschiedene Ausprägungen gezeigt. Das empfinden Betroffene oft als unterstützend.
Inwiefern können soziale Medien dazu beitragen, die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen zu reduzieren? Ich würde sagen, dass Social Media einen großen Beitrag bei denjenigen leisten kann, die sich sowieso für das Thema interessieren. Ich glaube, es gibt zwei Perspektiven. Zum einen die Ansicht, dass Social Media sehr hilft, weil das Thema mehr und mehr in den Mainstream gerät, sodass es dann auch mal einen Artikel in einem Medium wie der Zeit, der Süddeutschen oder der FAZ gibt, der auch andere Menschen erreicht. Die andere Perspektive ist die, dass es eine Art Rückkopplung ist: Man produziert Content für die Leute, die sowieso schon aufgeklärt sind. Aber ich würde sagen: Je lauter man ist, desto mehr schwappt das Thema in andere Bubbles über. Auch wenn das sehr viel Aufwand bedeutet.
Welche Risiken bergen Selbstdiagnosen im Vergleich zu professionellen Diagnosen? Zunächst einmal hat man bei einer Selbstdiagnose kein Gegenüber, das über Fachwissen verfügt. Bei ADHS sehe ich beispielsweise die Schwierigkeit, dass es viele andere Störungsbilder gibt, die entweder zusätzlich auftreten oder die Symptomatik besser erklären können. Das heißt natürlich nicht, dass sie nicht valide sind. Die Betroffenen erleben es schließlich so. Ob es sich aber tatsächlich um ADHS handelt, sollte in einem professionellen Rahmen untersucht werden, da sich das persönliche Erleben nicht immer mit den fachlichen Diagnosekriterien deckt. Zusammengefasst: Wenn es den Betroffenen um Therapie, medikamentöse Behandlung und soziale Teilhabe geht, sollte eine professionelle Diagnostik angestrebt werden. Geht es dagegen um reine Validität, ist die Selbstdiagnose ausreichend.
Können Selbstdiagnosen in sozialen Medien Symptome verstärken? Es gibt das Konzept der „sozialen Ansteckung“. Wenn ich viel Content zu einem bestimmten Thema konsumiere, stelle ich auch eher entsprechende Symptome bei mir fest. Eine Person, die zum Beispiel gar kein ADHS hat, sich jedoch viel mit diesem Thema in den sozialen Medien beschäftigt, wird eher ADHS-Symptome bei sich feststellen. Das kann passieren. Meine Erfahrung ist allerdings eher, dass Leute, die in die Thematik hineinrutschen, auch wieder herausrutschen. Die meisten Leute, die bei mir in der Sprechstunde landen, haben sich vorher sehr gut informiert. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Personen, die nach einigen Videos die Vermutung hatten, dass sie betroffen sein könnten, irgendwann gedacht haben: „Ja, wahrscheinlich eher nicht“ und dann wieder gegangen sind. Eine Diagnosephase braucht Zeit und ist mit Hürden verbunden.
Welchen Einfluss hat die Selbstdiagnose in sozialen Netzwerken auf das Selbstbild und das Verhalten von Jugendlichen im Alter von 13 bis 18 Jahren? Früher gab es im Bereich der Essstörungen die Pro-Ana-Foren. Die Betroffenen haben einander dort gedemütigt, um möglichst viel abzunehmen und sich so gegenseitig in ihrer Magersucht bestärkt. Da spielt wahrscheinlich das Konzept der „sozialen Ansteckung“ eine gewisse Rolle. Das kann auf Social Media auch mit anderen Symptomen und Beschwerdebildern passieren. Ich glaube, dass Jugendliche dafür besonders anfällig sind, weil die Jugendphase der Identitätsfindung dient. Auch hier gibt es wieder zwei Perspektiven: Zum einen die, dass Jugendliche vulnerabel sind und man sie davor schützen muss. Zum anderen die, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn man sich in der Jugend mit einem Störungsbild identifiziert und später merkt, dass das doch nicht passt. Die Frage ist eher: Bin ich defizitorientiert oder ressourcenorientiert? Besonders gefährdet sind weiblich sozialisierte Jugendliche aus vulnerablen Milieus. Da müsste man vielleicht ein bisschen aufpassen. Grundsätzlich habe ich jedoch ein Grundvertrauen in die Jugendlichen, dass sie das hinbekommen. Trotzdem braucht es natürlich eine medienpädagogische Begleitung.
Welche Strategien können von Jugendlichen und ihren Eltern angewendet werden, um Social Media verantwortungsbewusst zu nutzen und das Risiko von Fehldiagnosen zu minimieren? Die Eltern sollten sich zuerst selbst informieren. Es ist nicht gut, wenn die Jugendlichen ihnen voraus sind. Sie können mit ihren Kindern nach seriösen und informativen Seiten suchen. Dabei sollten sie auf die Qualifikation achten. Ist die Person spezialisiert? Wie werden die Informationen präsentiert? Werden Quellen verlinkt? Bei radikalen Aussagen wäre ich vorsichtig. Für Körperbild und Essstörungen empfehle ich @psychotherapie.essstörungen, für Psychotherapie und Psychologie @psychologin.nesibe, für Kinder, Jugendliche und Neurofeedback @psycho.logisch.hilal und für Tiefenpsychologie sowie tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie @la_psychologista.
Welche Maßnahmen sollten von den Betreibenden sozialer Medien ergriffen werden, um die Verbreitung von Fehldiagnosen zu verhindern und gleichzeitig die Vorteile der Aufklärung zu fördern? Es wäre wünschenswert, wenn Fehlinformationen irgendwann automatisch verschwinden würden. Eine andere Sache sind Verifizierungen in Form von Medical Accounts, die derzeit vor allem im amerikanischen Raum verbreitet sind. Dafür müssen bestimmte Qualitätskriterien erfüllt sein. Das sollte es auch im deutschen Bereich geben. Ich würde analog zum blauen Haken, den es ja schon gibt, einen grünen Haken vorschlagen, der anzeigt, dass die Person hinter dem Account qualifiziert ist. Dazu muss eine intensive Prüfung der Qualifikation und der praktischen Arbeit stattfinden.
Der Psychotherapeut Lukas Maher spricht im Interview über die Chancen und Gefahren von Selbstdiagnosen.
Auf TikTok und Instagram lassen sich zahlreiche Videos finden, die dabei helfen sollen, Depressionen, ADHS und weitere Krankheitsbilder bei sich selbst zu erkennen. Der 30-jährige Lukas Maher ist Psychologischer Psychotherapeut für Systemische Therapie und hat sich auf ADHS spezialisiert. In den sozialen Medien klärt er unter dem Namen @systemischegesundheit über ADHS auf. Im Interview erklärt er, welche Auswirkungen solche Videos auf junge Menschen haben können und welche Strategien zur Vorbeugung falscher Diagnosen empfehlenswert sind.
Herr Maher, welche Faktoren sind Ihrer Einschätzung nach für die steigende Popularität von Selbstdiagnosen in den sozialen Medien verantwortlich?
Lukas Maher: Dazu muss man sich zunächst auf eine gemeinsame Definition des Begriffs „Selbstdiagnose“ einigen. Ich würde sagen, dass die steigende Popularität von Selbstdiagnosen in den sozialen Medien vor allem auf den zunehmenden Content von Betroffenen für Betroffene zurückzuführen ist, der im Vergleich zur klassischen Diagnose als weniger deskriptiv verstanden wird.
Welche Vorteile ergeben sich aus der Verbreitung psychologischer Informationen auf Social Media?
Ich denke, dass vor allem die leichtere Zugänglichkeit ein Vorteil ist. Früher war es so: Wer nicht Psychologie studiert hatte oder die Fachliteratur verstehen konnte, hatte praktisch keinen Einblick in die Diagnosekriterien. Außerdem können Diagnosekriterien weit ausgelegt werden. Zum Beispiel Hyperaktivität bei ADHS, das sich entweder durch innere Unruhe oder Schwierigkeiten, sich zu entspannen, äußert. In den sozialen Medien werden verschiedene Ausprägungen gezeigt. Das empfinden Betroffene oft als unterstützend.
Inwiefern können soziale Medien dazu beitragen, die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen zu reduzieren?
Ich würde sagen, dass Social Media einen großen Beitrag bei denjenigen leisten kann, die sich sowieso für das Thema interessieren. Ich glaube, es gibt zwei Perspektiven. Zum einen die Ansicht, dass Social Media sehr hilft, weil das Thema mehr und mehr in den Mainstream gerät, sodass es dann auch mal einen Artikel in einem Medium wie der Zeit, der Süddeutschen oder der FAZ gibt, der auch andere Menschen erreicht. Die andere Perspektive ist die, dass es eine Art Rückkopplung ist: Man produziert Content für die Leute, die sowieso schon aufgeklärt sind. Aber ich würde sagen: Je lauter man ist, desto mehr schwappt das Thema in andere Bubbles über. Auch wenn das sehr viel Aufwand bedeutet.
Welche Risiken bergen Selbstdiagnosen im Vergleich zu professionellen Diagnosen?
Zunächst einmal hat man bei einer Selbstdiagnose kein Gegenüber, das über Fachwissen verfügt. Bei ADHS sehe ich beispielsweise die Schwierigkeit, dass es viele andere Störungsbilder gibt, die entweder zusätzlich auftreten oder die Symptomatik besser erklären können. Das heißt natürlich nicht, dass sie nicht valide sind. Die Betroffenen erleben es schließlich so. Ob es sich aber tatsächlich um ADHS handelt, sollte in einem professionellen Rahmen untersucht werden, da sich das persönliche Erleben nicht immer mit den fachlichen Diagnosekriterien deckt. Zusammengefasst: Wenn es den Betroffenen um Therapie, medikamentöse Behandlung und soziale Teilhabe geht, sollte eine professionelle Diagnostik angestrebt werden. Geht es dagegen um reine Validität, ist die Selbstdiagnose ausreichend.
Können Selbstdiagnosen in sozialen Medien Symptome verstärken?
Es gibt das Konzept der „sozialen Ansteckung“. Wenn ich viel Content zu einem bestimmten Thema konsumiere, stelle ich auch eher entsprechende Symptome bei mir fest. Eine Person, die zum Beispiel gar kein ADHS hat, sich jedoch viel mit diesem Thema in den sozialen Medien beschäftigt, wird eher ADHS-Symptome bei sich feststellen. Das kann passieren. Meine Erfahrung ist allerdings eher, dass Leute, die in die Thematik hineinrutschen, auch wieder herausrutschen. Die meisten Leute, die bei mir in der Sprechstunde landen, haben sich vorher sehr gut informiert. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Personen, die nach einigen Videos die Vermutung hatten, dass sie betroffen sein könnten, irgendwann gedacht haben: „Ja, wahrscheinlich eher nicht“ und dann wieder gegangen sind. Eine Diagnosephase braucht Zeit und ist mit Hürden verbunden.
Welchen Einfluss hat die Selbstdiagnose in sozialen Netzwerken auf das Selbstbild und das Verhalten von Jugendlichen im Alter von 13 bis 18 Jahren?
Früher gab es im Bereich der Essstörungen die Pro-Ana-Foren. Die Betroffenen haben einander dort gedemütigt, um möglichst viel abzunehmen und sich so gegenseitig in ihrer Magersucht bestärkt. Da spielt wahrscheinlich das Konzept der „sozialen Ansteckung“ eine gewisse Rolle. Das kann auf Social Media auch mit anderen Symptomen und Beschwerdebildern passieren. Ich glaube, dass Jugendliche dafür besonders anfällig sind, weil die Jugendphase der Identitätsfindung dient. Auch hier gibt es wieder zwei Perspektiven: Zum einen die, dass Jugendliche vulnerabel sind und man sie davor schützen muss. Zum anderen die, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn man sich in der Jugend mit einem Störungsbild identifiziert und später merkt, dass das doch nicht passt. Die Frage ist eher: Bin ich defizitorientiert oder ressourcenorientiert? Besonders gefährdet sind weiblich sozialisierte Jugendliche aus vulnerablen Milieus. Da müsste man vielleicht ein bisschen aufpassen. Grundsätzlich habe ich jedoch ein Grundvertrauen in die Jugendlichen, dass sie das hinbekommen. Trotzdem braucht es natürlich eine medienpädagogische Begleitung.
Welche Strategien können von Jugendlichen und ihren Eltern angewendet werden, um Social Media verantwortungsbewusst zu nutzen und das Risiko von Fehldiagnosen zu minimieren?
Die Eltern sollten sich zuerst selbst informieren. Es ist nicht gut, wenn die Jugendlichen ihnen voraus sind. Sie können mit ihren Kindern nach seriösen und informativen Seiten suchen. Dabei sollten sie auf die Qualifikation achten. Ist die Person spezialisiert? Wie werden die Informationen präsentiert? Werden Quellen verlinkt? Bei radikalen Aussagen wäre ich vorsichtig. Für Körperbild und Essstörungen empfehle ich @psychotherapie.essstörungen, für Psychotherapie und Psychologie @psychologin.nesibe, für Kinder, Jugendliche und Neurofeedback @psycho.logisch.hilal und für Tiefenpsychologie sowie tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie @la_psychologista.
Welche Maßnahmen sollten von den Betreibenden sozialer Medien ergriffen werden, um die Verbreitung von Fehldiagnosen zu verhindern und gleichzeitig die Vorteile der Aufklärung zu fördern?
Es wäre wünschenswert, wenn Fehlinformationen irgendwann automatisch verschwinden würden. Eine andere Sache sind Verifizierungen in Form von Medical Accounts, die derzeit vor allem im amerikanischen Raum verbreitet sind. Dafür müssen bestimmte Qualitätskriterien erfüllt sein. Das sollte es auch im deutschen Bereich geben. Ich würde analog zum blauen Haken, den es ja schon gibt, einen grünen Haken vorschlagen, der anzeigt, dass die Person hinter dem Account qualifiziert ist. Dazu muss eine intensive Prüfung der Qualifikation und der praktischen Arbeit stattfinden.
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