Wenn die eigene Mutter Narzisstin ist

Mutter und Tocher stehen Rücken an Rücken.
Die Verhaltensmuster der eigenen Mutter zu durchschauen und zu verstehen hat bei Awa Zeit gebraucht.
Liora Shahrestani Mayer, funky-Jugendreporterin

Als sie in ihrem Krankenhausbett erwacht, ist ihre Mutter nicht mehr da. Eigentlich sollte Awas* Mutter sie bei einer Schönheits-OP unterstützen. Awa erlitt starke Komplikationen. „Das waren die schlimmsten 24 Stunden meines Lebens“, erinnert sie sich, „Ich dachte, ich muss jetzt sterben.“ Ihre Mutter hat derweil seelenruhig geschlafen, lädt später ein Bild von ihrem Weinglas auf Instagram hoch, das Lied „Lonely“ spielt im Hintergrund. Einsam fühlt sich in diesem Moment aber Awa.

Es gab immer nur sie beide: Awa ist ein Einzelkind und ihre Mutter ist alleinerziehend. Für Awa war die Mutter der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Doch da gab es auch schlimme Tage. Es brauchte nur eine Kleinigkeit und die Mutter explodierte und wurde sogar handgreiflich. Wenn Awa selbst Emotionen zeigte, schwieg ihre Mutter. Teilweise schloss sie sich dann tagelang in ihrem Zimmer ein und reagierte so lange nicht mehr, bis Awa es nicht mehr ertrug. Es brauchte viele Therapiestunden, bis Awa erkannte, dass ihre Mutter eine Narzisstin sein könnte.

Was bedeutet Narzissmus?

„Narzissmus ist ein Persönlichkeitsmerkmal mit einem Spektrum, in das sich zunächst einmal alle Menschen einordnen lassen“, sagt Psychologe Adrian Mayer. Menschen mit hoher Narzissmus-Ausprägung weisen ein ausgeprägtes Größengefühl, Machtfantasien und Neid auf. Zwischenmenschliche Beziehungen sind von Empathielosigkeit und Ausbeutung gekennzeichnet. Bei der Diagnose der narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist der Narzissmus stark ausgeprägt. Etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sind betroffen, wobei die Dunkelziffer höher sein könnte.

Dass Awa jahrelang von einer guten Beziehung mit ihrer Mutter ausging, kann mit den Manipulationstechniken der narzisstischen Mutter zusammenhängen. Awa wurde von Anfang an isoliert. Ihre besten Freundinnen bezeichnete die Mutter als schlechten Einfluss und der Kontakt wurde praktisch verboten. Und so wurde ihre Mutter zur einzigen Vertrauensperson.

Aussehen und Gewicht spielen für Awas Mutter immer eine große Rolle. Awa war gerade einmal fünf Jahre alt, als ihre Mutter von ihr verlangte, dass sie Diät halten solle. „Egal wie ich aussah, mein Körper wurde immer negativ bewertet“, erinnert sich Awa. „Wenn ich zugenommen habe, ließ sie es mich wissen, und wenn ich abgenommen habe, war ich ihre Konkurrenz.“ Awa entwickelte in ihrer Jugend eine Essstörung und schwere Depressionen. Sie schaute sich im Spiegel an und ihr fiel nur Negatives zu sich selbst ein – zu schwach, zu unsicher, zu unattraktiv. Mit ihrer Mutter konnte sie nicht über diese Gefühle reden. „Du bist so sensibel“, hieß es dann immer. Empathie hat ihre Mutter nicht, das versteht Awa jetzt. Heute leidet sie unter einer Binge-Eating-Störung: Wenn sie traurig oder enttäuscht ist, verarbeitet sie ihre Emotionen mit Essen.

Als Ursache für das Verhalten der Mutter vermutete Awa deren Alkoholismus und schwierige Vergangenheit. „Negative Erfahrungen in Beziehungen können zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung führen, wenn Personen ihr dadurch niedriges Selbstbewusstsein zum Beispiel kompensieren, indem sie andere Menschen abwerten“, erklärt Psychologe Adrian Mayer. „Andersherum kann sich die Störung auch bei Menschen entwickeln, die in ihrer Vergangenheit gelernt haben, dass sie mehr Bewunderung als andere verdienen.“

Awas Mutter war nie in Therapie, dafür hat sie Awa zufolge zu viel Angst vor ihren eigenen Emotionen. Eine offizielle Diagnose konnte daher nie gestellt werden. Dabei ist Therapie genau das, was narzisstische Personen brauchen. „Es ist zwar nicht einfach, aber in der Therapie lernen Betroffene, mit ihren Emotionen und anderen Menschen achtsam umzugehen“, so der Psychologe.

Awa arbeitet ihre Erlebnisse auf

Stattdessen ging Awa zur Therapie. Sie hat wenige Erinnerungen an ihre Kindheit und möchte aufarbeiten, was sie erlebt hat. Ihr Traumatherapeut bekräftigte den Verdacht bezüglich des Narzissmus ihrer Mutter. Für Awa kam der Stein ins Rollen: Sie erkannte immer mehr das System hinter den Verhaltensweisen ihrer Mutter und wie diese ihren eigenen Selbstwert zerstörten.

Den Kontakt nach der traumatischen Schönheitsoperation vollständig abzubrechen, war eine radikale Entscheidung, die alles andere als einfach war. „Ich liebe sie trotzdem als ihr Kind, egal wie schlimm alles ist“, sagt Awa. Es bleibt das Festhalten an guten Momenten. Ihre schönste Erinnerung ist, wie sie als Kind auf Partys im Schoß ihrer Mutter lag. Hunderte Menschen um sie herum, die Mutter mit einem Glas Wein in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand.

Aber sie versteht, dass sie eine Entscheidung für ihr eigenes Wohl und ihre Zukunft treffen muss. Und das tut sie. Seit Awa keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter hat, hat sich ihr Leben zum Positiven gewendet.

Sie steht heute vor dem Spiegel und findet sich schön. Sie lernt Spanisch, geht tanzen, tut Dinge, die sie erfüllen. Die Zeit der Operation war der Tiefpunkt ihres Lebens, aber Awa bezeichnet sie heute als ihre Neugeburt. Endlich weiß sie, dass sie gut genug ist und es schon immer war.

*Name von der Redaktion geändert

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