Wenn der „Gaydar“ den Geist aufgibt – ein Erfahrungsbericht

Zwei Männer in rotem Nebel
Unser Autor wird oft für schwul gehalten.
Felix Jehn, funky-Jugendreporter

Beim Dating ist der erste Eindruck bekanntlich entscheidend. Ob wir eine Person attraktiv und interessant finden, zeigt sich oft in den ersten Sekunden eines Treffens. Naturgemäß achten wir dabei auf Äußerlichkeiten und sind sicherlich auch oberflächlich. Und natürlich versuchen wir auch, möglichst schnell herauszufinden, ob eine Person überhaupt unsere eigene sexuelle Orientierung teilt. In LGBTIQ-Communitys gibt es hierfür seit längerem einen Begriff: der Gaydar. Damit wird die Fähigkeit einer Person bezeichnet, ähnlich wie ein Radar zu erfassen, ob jemand homosexuell ist oder nicht. Die Überzeugung, man könne nur anhand von äußerlichen Merkmalen feststellen, ob jemand schwul oder lesbisch ist, kann dabei problematisch sein und zu unangenehmen Situationen führen. Fragen sexueller Orientierung sollten schließlich immer mit Empathie und Respekt abgeklärt werden. Einige Menschen sind dennoch der Meinung, über einen verlässlichen Gaydar zu verfügen.

Mich hat die Selbstgewissheit, mit der Menschen glauben, die sexuelle Orientierung einer Person nach wenigen Sekunden herausgefunden zu haben, immer irritiert – was vielleicht auch mit meiner eigenen Erfahrung zusammenhängt. Ich glaube nämlich, dass der Gaydar der meisten Menschen bei mir völlig versagt. Denn ich werde sehr häufig für schwul gehalten, obwohl ich es nicht bin. Um Missverständnissen vorzubeugen: Per se hatte ich nie ein Problem damit, wenn Leute dachten ich sei schwul. Wenn also ein Mann nach einem Gespräch überrascht die Augenbrauen hochzog und mich fragte: „Ach, deine Freundin kommt auch noch? Ich dachte, du bist schwul …“ hat mich das zwar verwundert, aber gestört hat es mich lange Zeit kaum.

Das änderte sich aber, als ich älter wurde, unfreiwillig Single war und hin und wieder ausging. Denn nicht nur erfuhr ich zunehmend übergriffige Situationen, bei denen Männer nicht wahrhaben wollten, dass ich nicht interessiert bin. Ich erlebte auch immer häufiger Abende, an denen ich auf einer Party von meinem weiblichen Crush abgewiesen wurde oder unbeachtet blieb und kurze Zeit später die unmissverständlichen Annäherungsversuche von Männern abwenden musste. Dieses Missverhältnis zwischen männlicher und weiblicher Aufmerksamkeit war für mich manchmal schwer auszuhalten.

Ich erinnere mich an den Zeitpunkt, als ich genug davon hatte. Das war vor etwa einem Jahr und mein Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung war an diesem Abend besonders stark. Nachdem ich mir zusammen mit meinem dritten Bier den fast schon obligatorischen Korb des Abends von einer hübschen Frau abgeholt hatte, ging ich auf die Tanzfläche. Es dauerte nicht lange und ein Mann kam auf mich zu. Er war attraktiv, tanzte noch besser und seine Energie strömte direkt auf mich über. Dieser Typ machte einfach gute Laune! Später haben wir uns in eine Ecke gesetzt und er hat seinem Arm um mich gelegt. Dann hat er mich gefragt, ob ich schwul oder straight bin und ich habe wahrheitsgetreu geantwortet.

Nach einer Weile fragte er schließlich: „Bist du dir sicher, dass du nicht schwul bist und hast du überhaupt schon einmal einen Mann geküsst?“ Ich antworte mit „Nein“ und da fiel mir erst auf, wie merkwürdig es doch ist, dass ich nach all den Jahren und zahlreichen Gelegenheiten nie den Wunsch verspürt habe, einen Kuss einfach mal zu versuchen. Ich dachte „Was soll’s“ und sagte „Dann küss mich eben“. Und das hat er auch getan. Wir haben uns dann sogar kurz so richtig geküsst und ich habe gemerkt, wie komisch sich verschwitzte Bartstoppeln anfühlen. Nach dem Kuss sagte er: „Das war vielleicht der langweiligste Kuss meines Lebens“. Wir mussten beide lachen, gingen zurück auf die Tanzfläche und damit hatte sich die Sache erledigt.

Inwiefern sich nur aus dem äußerlichen Erscheinungsbild einer Person direkte Rückschlüsse auf deren sexuelle Orientierung ziehen lassen, wird übrigens auch wissenschaftlich kontrovers diskutiert. Schon 2017 zeigte eine Studie der Stanford University, dass es zwar möglich ist, mithilfe von Computer-Algorithmen nur aus Bildern von Personen abzulesen, ob diese ihr Bett lieber mit einer Frau oder einem Mann teilen. Allerdings lag der Computer nur in 81 Prozent der Fälle richtig. Und wenn schon ein Computer in 19 von 100 Fällen daneben liegt, sollten auch Menschen beim Flirten nicht auf ihren sogenannten Gaydar vertrauen. Stattdessen schadet es nie, einfach nett und freundlich nachzufragen. Wenn man Pech hat, kassiert man womöglich einen Korb. Wenn man Glück hat, erlebt man aber vielleicht auch den langweiligsten Kuss seines Lebens.


funky-instagram-banner

Du willst mehr? Du bekommst mehr!

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.