Interview

Stefanie Stahl über Bindungsängste: „Dieser Kontrollverlust ist fatal.“

Psychologin Stefanie Stahl
Psychologin und Autorin Stefanie Stahl klärt über Bindungsängste auf.

Der Generation Z wird nachgesagt, sie sei bindungsunfähig und immer auf der Suche nach neuen aufregenden Erfahrungen, die dank dem Online-Dating hinter jeder Ecke zu lauern scheinen. Was aus dem Mund der älteren Generation abwertend klingt, kann auch als Neuinterpretation eingestaubter Beziehungsmodelle angesehen werden. Problematisch wird es nur, wenn Menschen Probleme haben, sich auf eine Beziehung einzulassen, obwohl sie es eigentlich gerne wollen. Im Interview spricht die Psychotherapeutin und Autorin Stefanie Stahl über die Ursprünge von Bindungsangst und was Betroffene gegen diese Angst tun können. 

Chayenne Wolfframm, funky-Jugendreporterin

Frau Stahl, was genau ist eigentlich Bindungsangst?
Stefanie Stahl:
Bindungsangst ist die Angst, sich wirklich auf eine nahe Beziehung einzulassen. Die Betroffenen können sich durchaus verlieben. Sie können auch Beziehungen eingehen, aber sie kommen immer dann in die Klemme, wenn die Beziehung wirklich verbindlich wird. In ihren Augen widersprechen sich der Wunsch nach Bindung und Nähe und das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie. Beides geht für sie nicht: Entweder sie sind in einer Beziehung oder frei.

Würden Sie sagen, Bindungsangst wird schon in der Kindheit angelegt?
Meistens ja. Normalerweise ist das ein Kindheitsmuster. Die Betroffenen mussten sich als Kinder zu viel anpassen und haben das für sich abgespeichert. Nach dem Motto: Wenn ich will, dass du mich liebst, muss ich all deine Erwartungen erfüllen. Und genau das setzt sie unter Druck, wenn eine Beziehung verbindlich wird.

Welche konkreten Auslöser in der Kindheit könnten zur Bindungsangst beitragen?
Gründe können sein, dass die Eltern zu streng oder lieblos waren. Man hatte als Kind zum Beispiel das Gefühl, dass man sich immer anstrengen muss, um überhaupt beachtet zu werden oder geliebt zu werden. Ein Grund könnte auch sein, dass die Eltern selbst eine schlechte Ehe hatten und das vorgelebt haben. Es gibt unterschiedliche Gründe, aber sie laufen alle darauf hinaus, dass ein Druckgefühl rund um das Thema Bindung entstanden ist. Den Kindern wurde der Eindruck vermittelt, dass sie für das Wohlergehen ihrer Eltern verantwortlich sind.

Es gibt unterschiedliche Gründe, aber sie laufen alle darauf hinaus, dass ein Druckgefühl rund um das Thema Bindung entstanden ist. Den Kindern wurde der Eindruck vermittelt, dass sie für das Wohlergehen ihrer Eltern verantwortlich sind.

Stefanie Stahl

Häufig wird von der Generation Beziehungsunfähig gesprochen. Würden Sie sagen, dass Bindungsangst eine Generationsfrage ist?
Nein, das würde ich überhaupt nicht sagen. Früher waren die Leute genauso bindungsängstlich wie heute. Es gab nur nicht den Begriff dafür. Es gibt heute offiziell auch mehr junge Menschen, die von Depressionen betroffen sind. Aber der Grund ist, dass es besser diagnostiziert wird und nicht, dass die Menschen depressiver sind. Und das gleiche gilt auch für Bindungsangst.

Wenn ich merke, dass mein Partner oder meine Partnerin unter Bindungsangst leidet, was kann ich tun? Kann ich überhaupt etwas tun?
Man kann nicht allzu viel tun. Die Lösung des Problems liegt bei der anderen Person. Das Perfide ist: Je mehr Druck ich ausübe, nach dem Motto „Da musst du mal was tun, du hast Bindungsangst“, desto mehr triggert es das Muster des Bindungsängstlichen. Denn man übt in diesem Moment Druck aus. Das Geschickteste, was man tun kann, ist, sich selber mehr zurückzuziehen und den anderen mehr kommen zu lassen. Das ist auf die Dauer natürlich wahnsinnig anstrengend und schwer auszuhalten.

Würden Sie sagen, dass Bindungsangst zu einer toxischen Beziehung führen kann?
Im schlimmsten Fall ja, aber es ist nicht per se eine toxische Beziehung. Es sind meistens einfach schwierige Beziehungen und solche mit heftigen Nähe- und Distanzwechseln. Der Partner oder die Partnerin, der oder die sich binden möchte, ist eventuell sehr unglücklich, da er kaum Kontrolle hat. Eines ist gewiss: Der oder die Bindungsängstliche ist Alleinherrschende über Nähe und Distanz in der Beziehung. Die Bindungsängstlichen stellen die Regeln auf, sie bestimmen, wie oft man sich sieht und wie nah man sich wird. Sie haben immer die Zügel in der Hand. Das löst natürlich auf der anderen Seite viel Ohnmacht aus.

Was kann die oder der Bindungsängstliche konkret tun, um die Bindungsangst zu überwinden?
Das, was man immer tun kann, wenn man in einem Muster gefangen ist, ist die Selbstreflexion und sich mit diesem Muster auseinanderzusetzen. Wenn ich überhaupt nicht verstehe, welche psychischen Mechanismen in mir am Wirken sind, dann kann ich diese natürlich auch nicht aufbrechen. Ich muss ja erstmal verstehen, was mit mir los ist und erkennen, dass ich Bindungsangst habe. Solange ich denke, dass meine Partnerin oder mein Partner mich einengt und ich somit das Problem im Außen verorte, komme ich mir selbst natürlich nicht näher.

Typisch ist der „Schwächenzoom“. Das heißt, man zoomt sich in eine Schwäche oder vermeintliche Schwäche des anderen hinein und ist immer abgeturnter. Daraus entstehen Zweifel.

Stefanie Stahl

Haben Sie Tipps, wie man selber erkennen kann, ob man Bindungsangst hat?
Typisch ist zum Beispiel, wenn ich feststelle, dass ich mich immer wieder verliebe, aber mir nach der Phase der ersten Verliebtheit immer wieder viele Zweifel an dem Partner oder der Partnerin kommen. Ich spreche in diesem Zusammenhang auch gerne vom sogenannten „Schwächenzoom“. Das heißt, man zoomt sich in eine Schwäche oder vermeintliche Schwäche des anderen hinein und ist immer abgeturnter. Daraus entstehen Zweifel.

Denken Sie, dass Menschen, die mit einem Bindungsängstlichen in einer Beziehung sind, eventuell zu viel durchgehen lassen würden und dessen Verhalten immer wieder entschuldigen?
Das normale Phänomen ist, dass die Person auf der anderen Seite dem Bindungsängstlichen gegenüber immer mehr Zugeständnisse macht. Diese Person möchte den anderen beispielsweise jeden Tag sehen oder sogar zusammenziehen. Der Bindungsängstliche will sich nur alle drei Tage treffen. Die betroffene Person lässt sich auf diese Beschränkung ein, bis der Bindungsängstliche sich irgendwann nur noch einen Tag in der Woche treffen möchte. Man greift nach jedem kleinen Strohhalm und klammert sich daran fest. Oft ist die normale Dynamik, dass der oder die Abhängige immer mehr nachgibt und immer mehr Kompromisse macht. Aus lauter Angst, den anderen ganz zu verlieren, nimmt diese Person immer mehr schlechte Beziehungsqualität hin. Wenn dann aber klar ist, dass die andere Person Bindungsangst hat, dann kommt plötzlich eine Einsicht. Okay, wenn du Bindungsangst hast, dann hat das ja gar nicht so viel mit mir und meinem Verhalten zu tun oder mit meinem Wert, dann liegt das Problem bei dir. Dann entsteht mehr Raum für die Frage, habe ich überhaupt Lust darauf oder ist mir das alles zu anstrengend.

Das ist doch sicherlich für die Person, die mit der bindungsängstlichen Person zusammen ist, verletzend, wenn diese sich distanziert. Was kann man selbst tun?
Es ist total verletzend. Und dieser riesige Kontrollverlust ist fatal. Kontrollverlust schürt nicht nur die Leidenschaft, sondern löst auch den starken Impuls aus, die Kontrolle wiederherzustellen. Man macht alle möglichen Dinge mit, um den anderen wieder an sich zu binden. Man gibt sich Mühe, indem man versucht, noch schöner zu sein, noch attraktiver, noch verständnisvoller. Man erhöht sozusagen die Maßnahmen der Werbung und verstrickt sich dadurch häufig immer mehr. Das Beste, was man tun kann, ist zu reflektieren: Was sagt es eigentlich über meinen Wert aus, wenn der andere sich so verhält? Und was sind eigentlich meine Prinzipien? Will ich jemanden, der ständig unzuverlässig ist, der mir kurzfristig Dates absagt, der mich vielleicht auch belügt oder betrügt? Vor allem sollte das Verhalten des anderen vom eigenen Selbstwert abgelöst werden. Dadurch, dass sie immer wieder gekränkt werden, kämpfen die Partnerinnen und Partner von Menschen mit Bindungsangst häufig mit ihrem Selbstwert. Je bewusster man sich macht, dass man eigentlich mit solchen Gedanken und Gefühlen den eigenen Selbstwert in die Hände des Bindungsängstlichen legt, desto klarer kann man für sich zu dem Ergebnis kommen, dass das totaler Quatsch ist.

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