Interview

Bedürfnisse kommunizieren: „Ich traue mich nicht, zu sagen, dass ich mehr gemeinsame Zeit verbringen möchte.“

Zwei Mädchen liegen im Gras und unterhalten sich über ein Bechertelefon.
Bedürfnisse sind essenziell für das eigene Leben. Erfüllte Bedürfnisse bedeutet erfüllende Freundschaft, Beziehung oder Beruf. Doch um sich verstanden zu fühlen, bedarf es mehr als deren Kommunikation.
Hannah Kämpfer, funky-Jugendreporterin

Ob in der Partnerschaft, einer Freundschaft oder mit den Eltern: Streits können schnell mal eskalieren. An den Auslöser erinnert sich dann am Ende niemand mehr so richtig. Hinter scheinbar banalen Themen verbirgt sich in den meisten Fällen jedoch etwas Größeres. Es ist also gar nicht das Zuspätkommen an sich, das in Rage versetzt, sondern vielleicht das Bedürfnis, ernst genommen zu werden.

Die eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren ist aber nicht immer einfach. Warum das so ist, welche Zusammenhänge es gibt und wie man selbst erkennen kann, was die eigenen Bedürfnisse sind, erklärt der Psychotherapeut Christoph Uhl im Interview. Der gebürtige Bonner, der inzwischen Berliner ist, beschäftigt sich vor allem mit Paarberatung und Paartherapie, aber auch der Familienberatung. Sein Arbeitsfeld lässt sich der angewandten Psychologie zuordnen. Er selbst ist verheiratet – in seiner ersten Ehe. Das sei in seinem Beruf vielleicht nicht ganz unwichtig zu erwähnen, sagt er.

© Denise Specht

Herr Uhl, allgemein gesprochen: Was sind Bedürfnisse?
Das ist schwierig, da es nicht die eine Definition von Bedürfnissen gibt. In der angewandten Psychologie ist ein Bedürfnis etwas, dass auf emotionaler Ebene unbedingt erfüllt werden muss, anders als ein Wunsch. Bei diesem ist es schön, wenn er in Erfüllung geht, aber wenn nicht, kommen wir auch damit klar. Bedürfnisse sind existenzieller. Ein banales Beispiel, das uns alle betrifft, ist die Sauerstoffzufuhr. Die Bandbreite an Bedürfnissen ist jedoch riesig. Bedürfnisse sind so unterschiedlich, wie die Menschen unterschiedlich sind. 

Wie äußern sich unerfüllte Bedürfnisse? Wie merke ich beispielsweise, dass sie das Problem meiner Beziehung sind und nicht etwas anderes?
In fast allen Fällen ist es ein unerfülltes Bedürfnis. Es gibt ein einfaches System, an dem ich mich orientieren kann, ähnlich einer Ampel: Wenn ich mich wohlfühle, sind sie erfüllt und die Ampel ist grün. Wenn ich mich unwohl fühle, ist das ein ziemlich sicherer Indikator dafür, dass ein Bedürfnis nicht gänzlich befriedigt ist. Die Ampel ist also rot. Im Anschluss an diese Feststellung muss man reflektieren, um welches konkrete Bedürfnis es sich handelt, aber zunächst reicht dieses Ampelsystem.

Wie finde ich heraus, welche Bedürfnisse nicht befriedigt wurden?
Der erste Aspekt ist, anzuerkennen: „Aha, mir geht es nicht richtig gut!“. Dass man dieses Gefühl nicht haben will, ist berechtigt, aber es ist ein wichtiger erster Schritt, innezuhalten und genauer zu erforschen, was genau mich stört. Ist es vielleicht gar nicht meine Frau, sondern die Unordnung, die von meiner Frau ausgeht? Das aufzuschreiben kann sehr hilfreich sein, ist aber kein Muss.

Womit hängen die eigenen Bedürfnisse zusammen, besonders in Hinblick auf das eigene Selbstwertgefühl?
Das ist ein sehr komplexes Thema, aber im Allgemeinen kann man sagen: Je stärker mein Selbstwertgefühl ist, desto stärker und stabiler sind in der Regel auch meine Beziehungen. Je schwächer mein Selbstwertgefühl, umso höher ist die Gefahr, dass ich in meine*n Partner*in etwas hineinprojiziere und den Partner brauche, um mich mit mir selbst besser zu fühlen. Das gilt nicht nur für Liebesbeziehungen, sondern auch für Arbeitskontexte und Freundschaften. Es ist aber kein Automatismus, da spielt noch viel mehr hinein. 

Der Mensch ist so einmalig wie sein Fingerabdruck und das kann keine Statistik und keine Kategorie abbilden. 

Für welche Bedürfnisse meines:r Partner:in trage ich nicht die Verantwortung, sie zu erfüllen?
Die Kunst besteht darin, eine Verantwortung für mich und meine eigenen Bedürfnisse zu übernehmen – also mir Bedürfnisse einzugestehen und diese zu vermitteln –, gleichzeitig aber auch eine Mitverantwortung für die Bedürfnisse der anderen Person zu übernehmen. Besonders dort, wo es andere sind als meine. Ich sollte nicht versuchen, diese Unterschiede aufzuheben, sondern Verantwortung für diesen Gegensatz übernehmen und nicht nur das eigene Bedürfnis durchsetzen. 

Warum kommunizieren Menschen ihre Bedürfnisse in Partnerschaften nicht?
Häufig hat es damit zu tun, das Bedürfnis gar nicht genau benennen zu können. Wenn ein junger Mann zum Beispiel mit seiner Partnerin um 19:00 Uhr zum Essen verabredet ist, und sie kommt eine halbe Stunde zu spät, dann ist er vielleicht darüber sauer und macht ihr Vorwürfe: „Schon wieder bist Du zu spät!“. Dahinter liegt vielleicht aber etwas anderes, nämlich die Sorge, die Partnerin könne vielleicht gar kein ernsthaftes Interesse an dem gemeinsamen Abendessen und dem Partner haben. Wenn der Mann sich über diesen Hintergrund nicht im Klaren ist, kann er sein Bedürfnis nach mehr Ernsthaftigkeit in der Beziehung auch nicht vermitteln. Doch wenn das Bedürfnis klar ist, dann werden Bedürfnisse nicht kommuniziert, wenn Scham besteht, dass mit mir irgendetwas nicht stimmen oder ich nicht der Norm entsprechen könnte. Das andere ist Angst, dass ich abgewiesen werden könnte, wenn ich mein Bedürfnis äußere. 

Wie kann man mit dieser Angst umgehen?
Erst einmal in eine Beobachterperspektive kommen und anerkennen: „Ich habe jetzt Angst!“  Wenn ich das dann aus einer Vogelperspektive betrachte, gehe ich dem auf den Grund. Wovor habe ich Angst? Was ist das Schlimmste, das mir passieren könnte? Dann kann ich beispielsweise ausprobieren, mein Bedürfnis erst einmal einem Fremden mitzuteilen. Dieser Vorgang ist so ähnlich wie das Erlernen einer Fremdsprache oder wenn man mit einem Ausdauersport anfängt. Wenn man sich vornimmt, gleich eine Stunde zu laufen, wird man scheitern. Man fängt also erstmal in einer Größenordnung an, wo man das Gefühl hat: Das könnte klappen. Das Prinzip durch kleine Schritte in einen Entwicklungsprozess zu kommen, ist sehr wichtig.

Wenn ich mich in einem Umfeld befinde, in dem es normal ist, Bedürfnissen einen Raum zu geben, dann versteht man sich auch ohne Worte. 

Wie geht man mit Autorität der Eltern um, wenn die Vermutung besteht, dass Bedürfnisse nicht erfüllt werden?
Autorität wird zu einem Problem, wenn ich Angst habe, meinen Eltern Bedürfnisse von mir mitzuteilen, weil ich beispielsweise die Sorge habe, das Thema wird mir um die Ohren fliegen oder sie werden mein Bedürfnis nicht richtig ernst nehmen. Dann kann es auch hier das Beste sein, wenn ich mich herantaste. Wenn das alles nicht funktioniert und man sich wirklich abgelehnt und abgestoßen fühlt, sollte man schauen, ob es im Umfeld, in der Schule oder in anderen Kontexten Vertrauenspersonen gibt. Dann kann man gemeinsam überlegen, wie man damit umgehen kann.

Welche anderen Faktoren können es erschweren, die eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren? 
Wenn ich ein Bedürfnis habe, das 80 Prozent der anderen Menschen auch haben, ist es viel einfacher, dafür einzustehen, als wenn ich mich allein damit fühle. Schwierig wird es, wenn das Ansprechen von Bedürfnissen nicht selbstverständlich ist. Wenn ich mich in einem Umfeld befinde, in dem es normal ist, Bedürfnissen einen Raum zu geben, dann versteht man sich auch ohne oder mit wenigen Worten. Es wird in unserer modernen Welt häufig missverständlich vermittelt, dass man viel miteinander kommunizieren müsste. Vielmehr braucht es eine Haltung, wo das akzeptiert ist. Wenn das nicht gegeben ist, fällt das Ansprechen von Bedürfnissen schwerer.

Es gibt diesen Ausdruck „communication is key“. Sie würden aber eher sagen, die Grundeinstellung bei der Kommunikation ist der Schlüssel?
Richtig! Es dreht sich in unserer modernen Welt viel zu viel um den Aspekt „Ich muss nur richtig kommunizieren“. Aber wann ist denn die Kommunikation richtig? Viel eher braucht man eine gewisse Offenheit und Engagement sowie Verantwortung und echtes Interesse an der anderen Person. Und das ist zunächst einmal eine Einstellungssache. Wenn ich diese Einstellung habe, dann ergibt sich der Rest. Kommunikation ist ein Mittel zum Zweck – nicht mehr, aber auch nicht weniger.  

Wenn ich das Gespräch suche, was sollte dabei vermieden werden?
Vorwürfe und Kritik sollten idealerweise vermieden werden. Vielmehr sollte man sich damit beschäftigen, was das Thema hinter dem Vorwurf ist. Das bedeutet nicht, niemals einen Vorwurf zu machen! Schwierig ist es nur, wenn die Vorwürfe überwiegen und dies der übliche Umgang mit ungestillten Bedürfnissen ist. Also: Vorwürfe, ja, so viel wie nötig, so wenig wie möglich.

Was wenn meine Bedürfnisse nach einem Gespräch trotzdem nicht beachtet werden?
Erstens: Bevor ich in das Gespräch gehe, sollte ich mir klar machen, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sich erstmal nichts ändert. Verhaltensmuster ändern sich nicht von heute auf morgen. Zweitens: Wenn ich sehe, etwas ändert sich nicht so, wie ich es brauche, sollte man genau das wieder zum Thema machen und gemeinsam eine gute Balance finden. Sodass niemand sich verbiegen muss. Idealerweise sollte man auch dem Gegenüber mit einer offenen Haltung begegnen und akzeptieren, dass es nun mal Unterschiede gibt. Wenn in der Beziehung dann trotzdem über eine lange Zeit hinweg wichtige Bedürfnisse auf der Strecke bleiben, kann man die Unterstützung durch Paartherapie in Betracht ziehen. Wenn auch das keinen Erfolg bringt, sollte ich tatsächlich darüber nachdenken, ob diese Beziehung die richtige ist.

Das Prinzip durch kleine Schritte in einen Entwicklungsprozess zu kommen, ist sehr wichtig. 

In sozialen Netzwerken werden häufig die vier „Love Languages“ diskutiert. Dazu gehören „Quality time“ und „Physical touch“. Wie stehen Sie dazu?
Ja, genau, das sind Bedürfnisse. Aber mit der Einschränkung, dass wir aufpassen müssen, nicht in eine Kategorisierung zu verfallen. Die Gefahr ist nämlich groß, dass Menschen in Schubladen gepresst werden: „Welcher Typ bist du? Ok dann muss ich so auf dich reagieren.“ Meinem Verständnis nach wird in der modernen Welt zu viel psychologisiert und therapeutisiert. So hilfreich alle Erkenntnisse aus der Psychologie sind, muss man wirklich aufpassen, das nicht überzustrapazieren. Ein wichtiger Aspekt ist die Anerkennung, dass ich selbst einen Wert habe. Nicht etwa weil ich in eine Kategorie passe, sondern einen Wert als Individuum, als einzigartige Persönlichkeit habe. Der Mensch ist so einmalig wie sein Fingerabdruck und das kann keine Statistik und keine Kategorie abbilden.                                          

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