Interview

„Du bist total dünn geworden“ – Essstörungen und die Pandemie

Mädchen sitzt auf einem Stuhl und starrt aus dem Fenster.
Pauline berichtet vom Klinikalltag und den Folgen der Krankheit. Denn die Folgeschäden von Essstörungen können weit reichen: Von Ohnmacht und starkem Haarausfall bis hin zu lebenslangen Herz-Kreislauf-Schäden oder Osteoporose.
Rita Rjabow, funky-Jugendreporterin

Während der Pandemie ist die Zahl an psychischen Erkrankungen in Deutschland deutlich gestiegen. Einer Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit (2022) zufolge sind die Fallzahlen bei Jugendlichen insbesondere bei Depressionen sowie Essstörungen gestiegen. Im Interview sprechen Frau Dr. Naab und Pauline (17) über Magersucht bei Jugendlichen und den Umgang mit der Krankheit.

Pauline (17) berichtet von ihrem Klinikalltag und über ihre Krankheit.

Wie hat für dich die Magersucht angefangen?
In meinem Körper habe ich mich eigentlich immer wohl gefühlt. Ich war schlank und Sport war ein wichtiger Teil meines Lebens. Mein Körper hat mit der Pubertät angefangen sich zu verändern und ich habe mir immer wieder Fragen gestellt wie: Wie viel Fett enthält dieses Essen? Wie viel Eiweiß hat das Produkt? Meine Ernährung habe ich hinterfragt und kritisch beäugt. Das Kochen habe ich immer mehr selbst übernommen. Und während die Portionen auf meinem Teller immer kleiner und kleiner wurden, ich mehr und mehr Sport machte, wurde ich immer dünner. Innerhalb kurzer Zeit habe ich viel Gewicht verloren.

Wie hat dein Umfeld auf diese Veränderung reagiert?
Mein Umfeld reagierte schnell. Meine Eltern bemerkten, dass mein Verhalten sich verändert hat und dass ich anders mit Essen umgegangen bin. Meine Familie hat schnell gehandelt: Sie haben mit mir gesprochen und wir sind zur Kinderärztin. Meine Freund*innen haben am Anfang nichts gesagt, doch dann kamen Kommentare wie: „Iss doch einfach mal mehr“ oder „Du bist total dünn geworden“. Zu dem Zeitpunkt habe ich alles abgestritten, gesagt, dass alles in Ordnung ist. Lange Zeit habe ich geleugnet, dass ich stark abgenommen habe.

Wenn man einfach der Magersucht verfällt und hungert, denkt man gar nicht darüber nach, was Essstörungen alles mit sich bringen.

Pauline

Magersucht beschreiben einige als Kampf gegen den eigenen Körper. Wie hast du diesen Kampf wahrgenommen?
Sport. Ich habe einfach sehr viel Sport gemacht und auch nicht aufgehört als mein Körper nicht mehr konnte und am Ende war. Inzwischen weiß ich, dass mein Körper zu dem Zeitpunkt bereits absolut entkräftet war. Mein Körper im Untergewicht hatte durch zu wenig Essen nicht die Energie, um sich immer weiter zu bewegen. Ich habe nicht auf meinen Körper gehört und einfach weiter gemacht. Ruhe habe ich mir und meinem Körper nicht gegönnt. Durch das ständige Hungern und das Untergewicht kommt es auch zu gesundheitlichen Schäden. Diese Folgeschäden sind sowohl kurzfristig als auch langfristig. Von Ohnmacht und starkem Haarausfall wie bis zu lebenslangen Herz-Kreislauf-Schäden oder auch Osteoporose, es ist einem meistens gar nicht bewusst, was das alles mit sich bringt. Wenn man einfach der Magersucht verfällt und hungert, denkt man gar nicht darüber nach, was Essstörungen alles mit sich bringen.

Auch die Autorin Antonia Wesseling beschreibt im funky-Interview, wie ihr der Aufenthalt in der Klinik geholfen hat mit ihrer Magersucht umzugehen. In ihrem Sachbuch „Wie viel wiegt mein Leben“ beschreibt ihren Umgang mit der Essstörung.


Dr. Naab, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, berichtet über Faktoren, die Jugendliche beeinflussen und über den Druck den Patient*innen verspüren.

Warum treten Essstörungen häufig im Jugendalter auf?
Psychische Erkrankungen können in allen Lebensphasen auftreten. Das eigene Umfeld und genetische Komponenten haben Einfluss darauf, wie Menschen in bestimmten Stresssituationen reagieren. Die Veranlagung und Persönlichkeitsmerkmale können dabei eine Rolle spielen wie etwa ein starkes Streben nach Perfektion oder Selbstunsicherheit.
Die Übergangsphase von Kind zur heranwachsenden Person stellt sich als schwierig da: der Körper verändert sich, das Verhältnis zu Autoritätspersonen auch und Themen wie Identität oder Sexualität spielen plötzlich eine größere Rolle. Patient*innen beschreiben mir, dass sie nicht wissen, wie sie mit den körperlichen oder psychischen Veränderungen umgehen sollen. Besonders in den Vordergrund rücken in dieser Lebensphase die Fragen: Wie nehmen mich andere wahr, wie nehme ich mich selbst wahr?

Isolation und der fehlende Kontakt zu Gleichaltrigen sind die entscheidenden Punkte.

Dr. Naab

Welche Veränderungen beschreiben Patient*innen im Zusammenhang mit den zwei Jahren Pandemie?
Es gibt die Gruppe von Heranwachsenden, die mit der Pandemie und ihren Auswirkungen auf den Alltag eine Essstörung oder auch andere Probleme entwickelt haben. Und es gibt die Gruppe, bei denen sich die Essstörung durch die Pandemie verstärkt hat.
Isolation und der fehlende Kontakt zu Gleichaltrigen sind die entscheidenden Punkte, die von meinen Patient*innen angesprochen werden. Mehrfacher Lockdown hatte viele Veränderungen für die Jugendlichen zur Folge, wie zum Beispiel: Distanzlernen, Einsamkeit, Unsicherheiten, veränderte Freizeitgestaltung und die Familie, die von heute auf morgen in den eigenen vier Wänden mehr Zeit als sonst beieinander ist. Auch die Tagesstruktur steht auf dem Kopf. Der Sport zum Ausgleich oder auch „Auspowern“, der innere Druck steigt und das Auspowern fielen auch weg. Viele Heranwachsende beschreiben, dass sie in dieser Zeit vermehrt das Internet genutzt haben und sich z.B. nach Informationen gesucht haben, wie sie zuhause Sport machen können

Welche Rolle nimmt Social Media dabei ein?
Social Media bringt positive Faktoren mit, wie die Vernetzung und der Austausch von Menschen miteinander. Während der Pandemie besonders entscheidend: Kontakt halten. Die Nutzung von Social Media kann jedoch auch für Heranwachsende negative Aspekte haben, denn es werden auch vorgefertigte Ideale hinsichtlich Alltags- und Lebensgestaltung (z.B. Ernährung und Fitness) und vermehrt unrealistische Körperbilder vermittelt. Influencer*innen transportieren eine Lebenseinstellung oder ein Lebensgefühl, das Jugendliche wahrnehmen können als „wenn du es genauso machst wie ich, geht es dir gut.“ Dies ist ein heikles Thema für Jugendliche, da sie in dieser Lebensphase leichter zu beeinflussen sind. Insbesondere selbstkritische Heranwachsende neigen dazu, sich diese scheinbar ideale Welt zum Vorbild zu nehmen. In diesem Zusammenhang kann der Druck steigen, sich zu perfektionieren und dem vorgezeigten Lifestyle, den Workout-Routinen und den Essgewohnheiten zu entsprechen.

Wichtig ist der Aufbau eines stabilen, positiven Selbstbilds und ein gutes Selbstwertgefühl.

Dr. Naab

Wie nehmen sie aus therapeutischer Sicht den inneren Druck ihrer Patient*innen und auch den „Kampf gegen den eigenen Körper“ wahr?
Mit innerem Druck bezeichnen die Patient*innen in der Regel ihre Gefühle, mit denen sie schlecht umgehen können. Viele trauen sich nicht, insbesondere unangenehme Gefühle zu äußern oder haben damit bereits schlechte Erfahrungen gemacht. Manchmal spielen auch ungünstige Modelle im Umgang mit Gefühlen eine Rolle, welche die Patientin vor Augen hatte. Entsprechend ist die Verbesserung des Umgangs mit Gefühlen ein wichtiges Therapieziel. Ebenso wichtig ist der Aufbau eines stabilen, positiven Selbstbilds und ein gutes Selbstwertgefühl. Dann ist es für die Patientin aus eigener Sicht nicht mehr nötig, sich zu verbessern und deshalb ihr Gewicht zu reduzieren. Die Betroffenen sollen lernen, sich selbst und ihren Körper anzunehmen, und dass es sehr viele verschiedene Varianten und Aspekte von Attraktivität gibt.

Zum Abschluss: Welche Ratschläge können Sie jungen Menschen mitgeben, die merken, dass es ihnen nicht gut geht?
Wichtig ist es zunächst, dass die Betroffenen sich selbst und ihr Problem ernst nehmen. Dann sollten Sie sich an eine Vertrauensperson wenden. Mit dieser können dann gemeinsam weitere Schritte überlegt werden.

Die nächsten Schritte könnten sein:

  • Fundierte Informationen auf Plattformen einholen
  • Niederschwellige Hilfsangebote wahrnehmen
  • Beratungsstellen aufsuchen und über Schwierigkeiten sprechen
  • Therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen

Für den weiteren Krankheitsverlauf ist es von Vorteil, wenn die Entwicklung einer Essstörung frühzeitig erkannt wird und die betroffene Person fachkundige Hilfe und Unterstützung erhält. Betroffene sollten nicht zögern, eine störungsspezifische Psychotherapie zu beginnen.


Wenn du selbst von Essstörungen betroffen bist oder jemanden kennst, kannst du dich beim Beratungstelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unter der 0221 892031 melden.

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