Die Irrfahrten des Erwachsenwerdens: Mit Mitte 20 noch bei den Eltern wohnen?

Wie entspannt lebt es sich zuhause? Die wenigsten jungen Erwachsenen bleiben nur aus Bequemlichkeitsgründen im Elternhaus.
Wie entspannt lebt es sich zuhause? Die wenigsten jungen Erwachsenen bleiben nur aus Bequemlichkeitsgründen im Elternhaus.

Bis zu seinem 25. Geburtstag lebte Andreas* gemeinsam mit seinem kleinen Bruder in der elterlichen Wohnung – damit ist er nicht allein: Im Jahr 2021 lebten 28 Prozent der 25-Jährigen in Deutschland noch bei ihren Eltern. Entgegen dem Vorurteil der immer unselbstständigeren Jugend blieb dieser Wert in den letzten zwanzig Jahren im europäischen Durchschnitt relativ konstant. Aber warum bleiben so viele junge Menschen noch bis weit in ihre Zwanziger hinein dem Elternhaus verbunden? Wie wirkt sich das auf das Erwachsenwerden aus?

Matheo Berndt, funky-Jugendreporter

„Ich hatte und habe ein gutes Verhältnis zu meiner Familie, ich war nie in der Situation, dass ich unbedingt rauswollte“, sagt Andreas. So lang zuhause geblieben sei er jedoch auch aus finanziellen Gründen: „Es hat bis dahin einfach nicht in meine Lebenssituation gepasst, auszuziehen. Ich war die ganze Zeit entweder im Studium oder in der Ausbildung und man kennt ja den Berliner Wohnungsmarkt. Mit meinem Budget hätte ich keine Wohnung gefunden. Manche Eltern sagen ja: ‚Wir bezahlen dir die Wohnung, Hauptsache du ziehst aus‘, aber so waren meine Eltern eben nicht. Ich musste warten, bis ich das finanziell selbst stemmen konnte.“

Wer den Sprung nicht wagt, geht Schritt für Schritt

Diplom-Psychologe Dr. Claus Koch kennt sich mit jungen Erwachsenen aus

Der Diplom-Psychologe Dr. Claus Koch beschäftigt sich in seiner Arbeit intensiv mit der Entwicklungsphase zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr und fasste seine Erkenntnisse im Buch „Pubertät war erst der Vorwaschgang“ zusammen. Für ihn trägt neben den finanziellen Gründen und der sich entspannenden Beziehung zwischen Eltern und Kindern noch ein dritter Grund zum späten Auszug vieler junger Menschen bei: „Das Alter zwischen 18 und 25 Jahren ist enorm krisenanfällig, weil zwei wichtige Leitplanken fehlen: Eltern auf der einen Seite, Schule auf der anderen.“ Dass Jugendliche aus reiner Bequemlichkeit zuhause bleiben, sei nicht der Regelfall. „Ich glaube, dass das oft junge Menschen sind, die den Sprung nicht wagen“, sagt Koch. 

Hierbei kann es hilfreich sein, sich in kleinen Schritten langsam an die Unabhängigkeit heranzutasten. Die Eltern spielen dabei trotzdem eine wichtige Rolle: „Sie können die Jugendlichen beraten, indem sie sagen: Wir unterstützen dich. Du kannst jederzeit zu uns zurückkommen, also probier’s einfach mal aus.“ 

Auf eigenen Beinen stehen lernen

Andreas‘ Eltern haben ihm keinen großen Druck gemacht, auszuziehen. Wenn es nach seiner Mutter gegangen wäre, hätte er ruhig noch länger bleiben können. „Mein Papa hat mich schon ab und zu gefragt: Wann suchst du dir denn etwas Eigenes? Du musst mal auf eigenen Beinen im Leben stehen.“ Auf die Frage hin, ob Ausziehen zum Erwachsenwerden notwendig sei, zögert Andreas. „Eher ja. Es ist ja nochmal ein ganz anderes Level, sein Leben selbstständig zu organisieren.“ Auch Dr. Koch rät in der Regel zum Auszug, jedoch nicht nur zum Zweck besagter Selbstorganisation: „Wenn keine ökonomischen Gründe dagegensprechen, ist es für die Selbstständigkeit der jungen Erwachsenen enorm wichtig, von den Eltern Abschied zu nehmen. Der Grund: Eltern bleiben immer Eltern. Das heißt, wenn du im Elternhaus bleibst, wirst du, auch wenn du dir noch so viel Mühe gibst, aus dieser Eltern-Kind-Beziehung nicht herauskommen.“ 

Wenn es finanziell jedoch nicht anders möglich ist, rät er den Eltern, ihren Erziehungsanspruch und die klassische Elternrolle möglichst nicht weiter auszuüben. Die „Kinder“ hingegen sollten dem Konflikt bewusst nicht aus dem Weg gehen, wenn es um Selbstständigkeit und Autonomie im Alltag geht.

Für die Altersgruppe 18 bis 30 scheint Claus Koch einer von sehr wenigen Forschenden zu sein, Fachliteratur gibt es kaum. „Ich erkläre mir das durch das landläufige Vorurteil vieler, dass mit 18 die Entwicklung des Kindes abgeschlossen sei. Viele denken, dass sie als Eltern nun weder Verantwortung noch Einfluss haben. Dass das eben nicht so ist, sondern dass dann eine irrsinnig wichtige Entwicklungsphase folgt, weil eben diese Leitplanken wegfallen, versuche ich zu vermitteln.“ Empirisch zeigt sich das Koch zufolge beispielsweise daran, dass während der Coronazeit die psychischen Krisen in diesem Altersabschnitt besonders zugenommen haben.

Erwachsenwerden – Die große Irrfahrt

Andere klassische Merkmale des Erwachsenwerdens, wie der Eintritt in den festen Beruf oder die Familiengründung, haben sich im Gegensatz zum Auszugsalter sichtbar nach hinten verschoben. Das hat verschiedene sozioökonomische Gründe, laut Koch aber auch psychologische: „Eine große Rolle spielt das Jugendideal unserer Gesellschaft, das zum Beispiel in Popsongs, wie Taylor Swifts ‚22‘ zum Ausdruck kommt: ‚It’s miserable and magical.‘ Einerseits lauern in dieser Zeit Einsamkeit und Krisen, andererseits wird es als ein goldenes Zeitalter dargestellt. Familie, Kinder, nine-to-five, das engt den Spielraum des Lebens ein, das goldene Zeitalter geht dann zu Ende. Viele versuchen, diesen Prozess so lange wie möglich aufzuschieben, wegen dieser Enge, die am Horizont auftaucht.“ Für junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren, die er treffend „Odysseusjahre“ nennt, hat er vor allem einen Rat, um die Irrfahrt zu meistern: „Verantwortung übernehmen – für sich und andere.“

Andreas ist jetzt 26 Jahre alt, hat sein Studium und seine Ausbildung seit einem Jahr abgeschlossen, etwa zeitgleich mit seinem Auszug. Auf die Frage, ob er nun erwachsen sei, lacht er. „Nein. Vielleicht auch, weil man das Erwachsensein irgendwie auch mit alt sein in Verbindung bringt. Ja, vielleicht betrachte ich mich nicht als erwachsen, weil ich mir einfach nicht eingestehen will, dass ich alt werde.“ 

*Name von der Redaktion geändert

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