Interview

Lena Schmidt über Demenz: „Es gibt weniger Verständnis für Krankheiten, die man nicht sieht.“

Besonders für Familienangehörige ist Demenz nicht immer greifbar und es fällt schwer, einen Umgang mit der Krankheit zu finden.
Besonders für Familienangehörige ist Demenz nicht immer greifbar und es fällt schwer, einen Umgang mit der Krankheit zu finden.
Lena Enders, funky-Jugendreporterin
Lena Schmidt (links) und Corinna Northe (rechts) sind die Köpfe hinter JUPP, einem Start-up, das Menschen mit Demenz hilft. (Foto: Schall und Schnabel)

Wie auch bei psychischen Krankheiten, ist Demenz nicht unmittelbar ersichtlich, was den Zugang zu ihr erschwert. Doch ein Demenzfall betrifft immer die ganze Familie. Wie Jung und Alt gemeinsam Herausforderungen anpacken und wie der Umgang mit Demenz durch junge Menschen neue Perspektiven erhält, erklärt Lena Schmidt von JUPP, einem innovativen Unternehmen für Menschen mit Demenz, im Interview.

Liebe Lena, was passiert bei einer Demenz mit den betroffenen Personen?
Demenz ist ein Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Formen, zum Beispiel Alzheimer. Was sie alle gemeinsam haben, ist eine Verschlechterung der geistigen Fähigkeiten: Es kann mit Störungen im Kurzzeitgedächtnis und der Merkfähigkeit anfangen, hat aber auch Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit, Sprache, Auffassungsgabe, das Denkvermögen oder die Orientierung.

Was bedeutet es, eine demenzerkrankte Person in der Familie zu haben?
Bei meinem Großvater wurde im hohen Alter Demenz diagnostiziert. Das hat alles auf den Kopf gestellt, was vorher selbstverständlich schien, unter anderem die Wahrnehmung. Mein Großvater hat an einem warmen Tag auf den hell gepflasterten Hof gesehen und gesagt: „Heute morgen haben sie draußen Schnee geschippt.“ Der erste Impuls ist, die Aussage zu korrigieren. Doch seine Wahrnehmung bedarf Akzeptanz und die Suche nach etwas Positivem darin, zum Beispiel seine Leidenschaft für Wintersport. Das nennt sich Validation: Den Ball, den man zugespielt bekommt, nimmt man auf und leitet ihn in ein Gespräch.

Was hat dich motiviert, deinen persönlichen Bezug zu Demenz zum Beruf zu machen?
Ich habe ursprünglich BWL studiert und als Unternehmensberaterin gearbeitet. Durch die Demenz meines Großvaters habe mich viel mit dem Thema auseinandergesetzt und mir Wissen angeeignet. Doch nicht jede betroffene Familie hat neben der Pflege Zeit, sich einzulesen. Die Informationen sind zwar da, doch sie müssten leichter zu konsumieren sein.

Das gesellschaftliche Bild von Demenz ist negativ geprägt. Außerdem gibt es weniger Verständnis für Krankheiten, die man nicht sieht.

Was sind Herausforderungen im Umgang mit Demenz?
Das gesellschaftliche Bild von Demenz ist negativ geprägt: Es wird hauptsächlich über die Schwächen gesprochen. Außerdem gibt es weniger Verständnis für Krankheiten, die man nicht sieht. Das führt dazu, dass Betroffene sich zurückziehen und keine ärztliche Hilfe suchen um die Bloßstellung zu vermeiden.

Können auch junge Menschen daran erkranken?
Tatsächlich ja. Es gibt die Kinder-Demenz: Kinder, die im Grundschulalter bereits demenzielle Veränderungen haben. Es erkranken aber auch Menschen mit Ende 20 bereits an Alzheimer. Es ist ein Prozess, der lange im Gehirn voranschreitet. Das Gehirn kann die Demenz teilweise jahrelang ausgleichen, bis irgendwann der Punkt kommt, an dem die Auswirkungen sichtbar werden.

Wieso ist die Brücke zwischen Jung und Alt bei dem Thema so wichtig?
Viele Familien lösen es so, dass nur ein oder zwei Familienmitglieder die demente Person pflegen, während die anderen nicht an der Situation teilnehmen. Doch besonders junge Menschen sind weniger voreingenommen und haben weniger Berührungsängste, was einen neuen Blickwinkel bieten kann. Jeder und jede kann mit individuellen Stärken beitragen: Eine Person kennt sich mit Anträgen aus, die andere kann gemeinsame Aktivitäten gestalten oder neue Denkimpulse reinbringen.

Mittlerweile merke ich, wie junge Leute viel reflektierter über psychische Gesundheit sprechen.

Was ist der Gedanke hinter JUPP?
Wir wollen Familien unterstützen ein gutes Leben mit Demenz zu gestalten. Deutschlandweit erkranken täglich 900 Menschen an Demenz, womit täglich auch 900 Familien betroffen sind. Wir wollen Stigmatisierung abbauen und Verständnis schaffen, damit Betroffene über die eigene Situation sprechen können und Unterstützung annehmen. Zum anderen kreieren wir schöne Produkte, die die Orientierung unterstützen oder die Beziehung stärken. Wir haben ein Achtsamkeits-Tagebuch auf dem Markt, es folgen aber auch Schrank- und Schubladenbeschriftung, optimiert für Menschen mit Demenz und trotzdem ästhetisch. Jedes Alter schätzt gutes Design. Das steigert die Akzeptanz, Hilfe anzunehmen und vermeidet Frustration.

Verliert man manchmal die Geduld?
Auf jeden Fall. Ich habe ehrenamtlich in der Tagespflege für Menschen mit Demenz gearbeitet und Menschen mit ganz individuellen Demenz-Verläufen kennengelernt. Dort bin ich an meine Grenzen gestoßen, aber es hat mir geholfen, über die Situation zu sprechen. Andernfalls ist man schnell in einem Gedankenkarussell gefangen.

Welche Tipps würdest du jungen Menschen, die Demenzerkrankte im familiären Umfeld haben, mit auf den Weg geben?
Lasst euch von schwierigen Situationen und Stigmatisierung nicht abschrecken. Mittlerweile merke ich, wie junge Leute viel reflektierter über psychische Gesundheit sprechen. Zu meinen Schulzeiten war das noch anders: Da wurden über die demente Oma ein paar lustige Geschichten erzählt, mehr Auseinandersetzung mit dem Thema gab es nicht. Manche Menschen übernehmen bereits mit 20 Jahren die Pflege für ihre dementen Eltern. Das ist sehr eindrucksvoll. Das Thema wird mittlerweile flexibler gedacht, was neue Perspektiven schafft. Diese Entwicklung gibt mir Hoffnung, dass wir schnell zu einem besseren Umgang mit Menschen mit Demenz kommen.

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