Interview

Hat die Beziehung unserer Eltern Einfluss auf unser Liebesleben?

Paar geht lächelnd Straße entlang
Oft nehmen wir in Beziehungen gelernte Rollen und Muster ein, erklärt Psychotherapeutin Judith Kerchner. (Foto: Pexels)
Lisa Rethmeier, funky-Jugendreporterin
Psychotherapeutin Judith Kerchner lächelt in die Kamera.
Judith Kerchner verrät, wie einen die Beziehung der Eltern prägt.

Hast du dich auch schon mal gefragt, wie die Beziehung deiner Eltern dein eigenes Liebesleben beeinflusst? Auch die Psychotherapeutin Judith Kerchner geht dieser Frage nach. Sie hat sich auf Verhaltenstherapie spezialisiert und ist fast fertig zertifizierte Schematherapeutin. In der Schematherapie geht es darum, Betroffenen die ungünstigen Verhaltensmuster, die oft in ihrer Kindheit entstanden sind, bewusst zu machen und diese so zu verändern, dass sie sich nicht mehr negativ auf den Alltag auswirken.

Im Interview verrät sie, wann das Beziehungsmodell der eigenen Eltern übernommen wird, ob Scheidungskinder mehr Probleme in Beziehungen haben und wie man es schaffen kann, sich von den Eltern zu lösen.

Ab wann nehmen wir die Beziehung unserer Eltern wahr und wann beginnt sie, uns zu beeinflussen?
Ich bin der Meinung, dass man schon im Mutterleib die Schwingungen zwischen den Eltern spüren kann. Zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr bildet man dann die ersten Erinnerungen, die auch später noch abrufbar sind. Das ist auch der Zeitpunkt, wo die Beziehung der Eltern wahrgenommen wird und man mitbekommt, ob sie stabil und sicher oder problembehaftet ist. Kinder merken auch, ob kontinuierlich zwei Personen anwesend sind oder ihnen nur eine Person Sicherheit gibt.

Warum haben Eltern einen so großen Einfluss auf ihre Kinder?
Grundsätzlich sind wir Menschen soziale Wesen und wollen uns in der Gesellschaft bewegen. Für Kinder ist es sehr wichtig, wahrzunehmen, dass Menschen um sie herum sind. Der Psychologe Harry Harlow hat in den 1950er Jahren Experimente mit Rhesusaffen-Babys gemacht. Er hat sie unter anderem von ihren Müttern isoliert und nur mit Essen und Trinken versorgt. Alle waren danach stark verhaltensgestört. Das hat gezeigt, wie lebenswichtig es für eine gesunde Entwicklung ist, dass Kinder eine Bezugsperson haben. Es gibt ein mütterliches Sprechen mit dem Kind, das sich von der üblichen Kommunikation unterscheidet. Mütter verändern dabei das Tempo und den Klang ihrer Stimme, wodurch sie die Sprachentwicklung ihres Nachwuchses fördern. Auch das Laufen und die Nahrungsaufnahme lernen Kinder von ihren Eltern beziehungsweise schauen es sich von ihnen ab. Dem Modelllernen von Albert Bandura zufolge lernen wir Menschen, indem wir eine andere Person beobachten und ihr Verhalten nachahmen. Wenn ein Kind ein anderes Kind mit einem Kinderwagen herumlaufen sieht, dann will es dasselbe machen. Am besten funktioniert das Nachahmen aber tatsächlich, wenn Kinder Gleichaltrige beobachten. In dem Fall haben diese also einen noch größeren Einfluss als ihre erwachsenen Eltern.

In der Pubertät fangen viele Jugendliche an, sich über die Beziehung der Eltern Gedanken zu machen.

Judith Kerchner

Wie sehr beeinflussen Eltern die eigenen Vorstellungen von einer Beziehung?
Im frühen Kindesalter kann man sich gar nichts anderes vorstellen. Nach dem Motto: So wie meine Eltern das machen, so läuft es. In der Schulzeit bekommt man dann von den Mitschülerinnen und Mitschülern mit, dass es auch andere Beziehungsformen gibt. Gerade in der Pubertät, wo sowieso alles infrage gestellt wird, fangen viele Jugendliche an, sich über die Beziehung der Eltern Gedanken zu machen – über die guten und schlechten Seiten und auch darüber, was man selbst davon übernehmen möchte. 

Unter welchen Umständen übernehmen wir häufiger das Beziehungsmodell unserer Eltern?
Wer die Beziehung der Eltern nicht überdenkt, übernimmt sie häufig automatisch. Das passiert vor allem, wenn man in einem wenig hinterfragenden Umfeld aufwächst. Wenn es mir nicht erlaubt ist, Dinge infrage zu stellen, tue ich das meist auch nicht, wenn es um die Beziehung der Eltern geht. Es gibt auch äußere Umstände, die dazu führen, dass das Verhalten der Eltern nicht reflektiert wird. Wenn ich zum Beispiel einer Umweltkatastrophe ausgesetzt bin, kümmere ich mich in erster Linie um das Überleben und denke nicht über andere Dinge nach.

Kann die Wahrnehmung von viel Schlechtem in der Beziehung der eigenen Eltern auch dazu führen, dass man ein dazu konträres Beziehungsmodell wählt?
Ja, das kann es. Aber nur, weil wahrgenommen wird, dass die Beziehung der Eltern nicht gut ist, heißt das noch lange nicht, dass man es auch schafft, anders zu handeln. Generell ist es immer viel anstrengender, Verhalten neu zu lernen, als Verhalten beizubehalten.

Ein Kind, das von seinen Eltern Gewalt und Streit mitbekommt, wird diese Mittel oft auch im weiteren Leben anwenden.

Judith Kirchner

Gibt es bestimmte Eigenschaften der elterlichen Beziehung, die stärker prägen als andere? Zum Beispiel die Streitkultur oder die Rollenverteilung?
Es ist hier schwierig zwischen mehr oder weniger prägend zu unterscheiden, denn es kommt auf viele Faktoren an, wie zum Beispiel die Persönlichkeit des Kindes. Generell kann man sagen, dass sich alles, was man den Kindern vorlebt, auch auf sie auswirkt. Ein Kind, das von seinen Eltern Gewalt und Streit mitbekommt, wird diese Mittel oft auch im weiteren Leben anwenden. Ein emotional positives, anregendes und wenig autoritäres Klima hingegen bietet die besten Voraussetzungen für ein glückliches Aufwachsen.

Welche Verhaltensweisen aus der Beziehung der Eltern wirken sich besonders positiv auf das Kind aus? Und welche besonders negativ?
Alle Verhaltensweisen, die Grundbedürfnisse befriedigen, wirken sich besonders positiv aus. Dazu gehört laut dem Psychologen Klaus Grawe Orientierung, also Regeln, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung und Selbstwert sowie Lust und Sicherheit. Wenn beide Eltern signalisieren, dass sie zusammenbleiben, wirkt sich das sehr positiv auf das Kind aus. Auf der anderen Seite hat es meist eine besonders negative Auswirkung, wenn die Grundbedürfnisse schon früh frustriert wurden. Das kann dazu führen, dass kein gutes Rollen- und Beziehungsvorbild weitergegeben wird und dass man sich in eigenen Beziehungen oder auf der Suche nach einer Beziehung oft orientierungslos fühlt.

Beeinflusst ein Elternteil in der Regel mehr? Und wenn ja: Wodurch wird bestimmt, an wem man sich orientiert?
Generell beeinflusst das Elternteil, das mehr da ist, auch mehr. Wenn das Kind älter ist, kann es aber auch vorkommen, dass es sich an der Person orientiert, die mehr „beeindruckt“. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Elternteil zwar immer da ist, man mit dem andern aber viel tiefgründigere Gespräche führen kann. Für einen selbst ist immer das, was man gut verarbeiten und in den Alltag integrieren kann, das Wichtigste.

Dabei ist es wichtig, viel über eigene Beziehungsmuster zu reflektieren, zu sprechen und kritikfähig zu sein.

Judith Kerchner

Spielen die eigenen Eltern und ihre vorgelebte Beziehung eine Rolle bei der Wahl einer Partnerin oder eines Partners?
Ja, das tun sie auf jeden Fall. Wenn man sich schematherapeutische Grundsätze anschaut, ist es so, dass man die gelernten Beziehungsmuster verinnerlicht hat, sich selbst einer bestimmten Rolle zuordnet und sich den Gegenpart dazu sucht. Sowohl bei positiven als auch bei kritischen Beziehungen. Auch wenn es sich umso negativer auf die eigene Person auswirkt, das, worunter man schon früher gelitten hat, wieder zu erleben.

Neigen Scheidungskinder automatisch dazu, beziehungsgestörter zu sein?
Die Wahrscheinlichkeit ist höher, wenn das Kind die Konflikte, die zur Scheidung geführt haben, bewusst miterlebt hat. Dann kommt es noch darauf an, in welcher Form die Konflikte angegangen und gelöst wurden. Hatten die Eltern einen regelrechten Rosenkrieg oder haben sie es geschafft, die Konflikte vergleichsweise sachlich zu lösen? Wenn eine Scheidung relativ harmonisch über die Bühne gegangen ist, dann muss ein Kind keine problematischen Verhaltensweisen in späteren Beziehungen übernehmen.

Kann man sich jemals ganz vom Einfluss der Eltern lösen?
Ich möchte nicht, dass jetzt jemand tief verzweifelt, wenn ich sage, dass das sehr, sehr schwierig ist. Ich fasse die Definition von Einfluss aber auch relativ weit. Die eigenen Eltern waren während der sensiblen Zeit im Baby- und Kindesalter immer da, das lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Man hat die Erfahrungen gemacht und im Gehirn abgespeichert. Also muss man versuchen, einen guten Umgang damit zu finden. Es ist immer ein Prozess, sein Verhalten umzustrukturieren. Dabei ist es wichtig, viel über eigene Beziehungsmuster zu reflektieren, zu sprechen und kritikfähig zu sein. Wer sein Beziehungsverhalten wirklich ändern möchte, kann das auch schaffen.

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