Ein Stapel verschiedener Zeitungen auf einem Tisch.

Medienkompetenz: Wann nennen Medien die Herkunft von Tatverdächtigen?

Jan-Malte Wortmann, funky-Jugendreporter

Es ist ein presseethisches Dilemma, das in den vergangenen Monaten wieder traurige Aktualität erlangt hat: In welchem Fall sollten Medien die Nationalität, die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit oder die Migrationsgeschichte mutmaßlicher Straftäter:innen nennen? Schließlich kann dies dazu beitragen, Vorurteile zu schüren, Stereotype zu verstärken und im schlimmsten Fall zur Diskriminierung von Minderheiten beitragen. Auf der anderen Seite erklären Medienschaffende, dass ihnen Verzerrung vorgeworfen werde, wenn sie solche Informationen aussparen, besonders bei schweren und medial breit diskutierten Straftaten. Aber welche Regeln gelten für die Berichterstattung?

Bei den Gewaltverbrechen und Amokfahrten, beispielsweise in Magdeburg, Aschaffenburg oder Mannheim, die die Bundesrepublik erschütterten, wurde dieses journalistische Dilemma erneut deutlich. Laut und breit wurde in Politik und Medien diskutiert, plötzlich drehte sich alles nur noch um Migration und Abschiebungen, anstatt sich mit tieferen, strukturellen Problemen oder Lücken in der Strafverfolgung auseinanderzusetzen. Beim Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg schien es besonders perfide: Der Täter hatte zwar eine afghanische Migrationsgeschichte, war in den letzten Jahren aber vor allem als rechter Verschwörungsanhänger und AfD-Fan aufgefallen. Doch bis diese Informationen durchgedrungen waren, waren die entmenschlichten und völlig faktenfernen Debatten über Abschiebungen nach Afghanistan in gewissen Medien längst wieder entfacht. Hätten Journalist:innen hier also vorsichtiger sein und nicht direkt das Wort „Afghane“ in ihre Überschriften setzen sollen? 

Wann besteht ein öffentliches Interesse?

Der deutsche Presserat hat zu diesem Thema einen Leitsatz veröffentlicht. Darin heißt es, die Berichterstattung dürfe „…nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens“ führen. Deshalb solle die Herkunft oder Zugehörigkeit zu ethnischen oder religiösen Gruppen von Tatverdächtigen in der Regel nicht genannt werden. Aber: Bei einem „begründeten öffentlichen Interesse“ könne bzw. solle diese Information durchaus preisgegeben werden. Doch was bedeutet das genau? 

Der Presserat führt einige Beispiele an, in welchem Fall ein solches öffentliches Interesse bestehen würde, etwa bei einer besonders schweren Straftat wie Terrorismus. Andere Punkte, die genannt werden, erscheinen eher schwammig, etwa wenn der „…Zusammenhang zwischen der Häufigkeit einer Straftat und der Gruppenzugehörigkeit von Tatverdächtigen selbst Gegenstand der Berichterstattung“ sei – oder wenn die „…Biografie eines Tatverdächtigen für die Berichterstattung über die Straftat von Bedeutung“ sei. Obwohl der deutsche Presserat in dieser Leitlinie vor allem auf den Schutz von Minderheiten vor Diskriminierung hinweist, lassen solche Formulierungen einigen Interpretationsspielraum.

Selbstreflexion der Medien

Daher müssen sich Medien selbst reflektieren und ihre eigenen Leitlinien herausarbeiten. Im besten Fall teilen sie diese sogar mit ihrem Publikum, wie es etwa der Westdeutsche Rundfunk WDR getan hat. Dieser betont in einer Stellungnahme, dass seine Berichterstattung in keinem Fall Stereotype bedienen oder Vorurteile schüren solle, dass es sich aber letztlich immer um eine Abwägung von Einzelfällen handele. Denn eine Nichterwähnung könne ebenfalls zu „Fehlinterpretationen“ führen und den WDR dem Vorwurf der „bewussten Verzerrung“ aussetzen. In jedem Fall sei es wichtig, die Entscheidung einer Nennung oder Nichterwähnung transparent zu machen. 

Eine eindeutige Antwort auf die Frage, wann Medien die Herkunft Tatverdächtiger veröffentlichen, scheint es also nicht zu geben. Vielmehr sollten Redaktionen sich bei jedem konkreten Fall von neuem fragen: Welche Auswirkung könnte eine Nennung dieser Information haben? Ist sie für die Berichterstattung relevant? Oder wie es der WDR in seiner Leitlinie formuliert: „Würden wir die Herkunft auch nennen, wenn der Tatverdächtige Norweger statt Syrer wäre?“

Mahnung zur Zurückhaltung

Angesichts der aufgeheizten Debatten zu Themen wie Migration und Kriminalität mahnen viele Medienschaffende zur Zurückhaltung bei der Berichterstattung, um nicht weiter rechte Ressentiments zu bedienen. Der frühere SZ-Redakteur und Professor für Journalistik Tanjev Schultz schreibt etwa in der Branchenzeitschrift Medium Magazin, die Herkunft von Tatverdächtigen spiele im Grunde nur bei ideologisch motivierten Straftaten oder internationalem Terrorismus eine Rolle. Ansonsten biete die Nennung selten einen Mehrwert, außer beispielsweise in ausführlichen Porträts einer Person. Zudem sollten solche Informationen nie einfach undifferenziert veröffentlicht, sondern immer der Bezug der biografischen Hintergründe zur Tat erläutert werden.

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