Meinung

Netflix-Serie „Adolescence“: Das Opfer im Schatten

Jamies Gespräch mit der Psychologin Briony Ariston zählt zu den eindrücklichsten Szenen in Adolescence.
Jamies Gespräch mit der Psychologin Briony Ariston zählt zu den eindrücklichsten Szenen in Adolescence.
Celina Otto, funky-Jugendreporterin

Die Netflix-Serie „Adolescence“ beleuchtet die Radikalisierung männlicher Jugendlicher im Internet – und vergisst dabei das Opfer

Das Leben der Familie Miller gerät eines morgens aus den Fugen: Um 6:15 Uhr stürmen Spezialeinheiten der Polizei das Haus. Der 13-jährige Sohn Jamie wird wegen Mordverdachts festgenommen. Er soll seine Mitschülerin Katie brutal ermordet haben. Die Eltern – allen voran Vater Eddie – sind überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Auch Jamie streitet zunächst alles ab. Doch die Beweise sprechen eine andere Sprache: Überwachungskameras zeigen, wie Jamie Katie am Tatabend verfolgte und sie schließlich auf einem Parkplatz durch sieben Messerstiche tötete.

Das Motiv? Misogynie. Jamie verbrachte seine Freizeit zumeist alleine im Kinderzimmer und verlor sich in frauenfeindlichen Online-Subkulturen. In Gesprächen mit der Psychologin Briony Ariston, die ein Gerichtsgutachten über Jamie erstellen soll, offenbart er später, dass er sich hässlich und von Mädchen abgelehnt fühle. Er und seine Freunde Ryan und Tommy seien außerdem gemobbt worden. Katie habe ihn zurückgewiesen, als er sie nach einem Treffen fragte, und auf Instagram öffentlich als Incel bezeichnet.

Die Stärke der Serie liegt in der Thematisierung eines hochaktuellen und brisanten Phänomens: die Radikalisierung männlicher Jugendlicher in Online-Communities, in denen misogyne Ideologien und toxische Männlichkeitsbilder verbreitet werden. Dass dies reale Folgen hat, beweisen Statistiken des Bundeskriminalamtes: 2023 wurden in Deutschland 360 Frauen und Mädchen Opfer vollendeter Tötungsdelikte. Viele dieser Taten sind Femizide – Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Genau davon erzählt Adolescence. Und gleichzeitig: eben doch nicht ganz.

So wichtig die Analyse von Jamies Innenleben auch erscheint – sie dominiert die Serie fast vollständig. Adolescence blickt tief in die Gedanken des Täters, beleuchtet seine Wut und die Folgen für Jamies Familie. Doch Katie, das Opfer, bleibt fast unsichtbar. Ihr Leid, der Schmerz ihrer Angehörigen, die Leerstelle, die ihr Tod hinterlässt, kommt kaum zur Sprache. Lediglich ein Satz ihrer besten Freundin Jade bleibt im Gedächtnis: „Sie ist tot, was sie nicht sein sollte. Sie wurde abgestochen“.

Fazit: Adolescence ist eine eindringliche, hervorragend inszenierte und absolut sehenswerte Serie. Sie rückt ein Thema in den Fokus, das lange verdrängt wurde: Die Gefahr, die von Misogynie im digitalen Raum ausgeht. Trotzdem bleibt ein bitterer Beigeschmack: Katie steht – wie so viele weibliche Opfer männlicher Gewalt – im Schatten.

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Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.