Meinung

„We listen and we… judge?“ – Ein Kommentar zum TikTok-Trend

Zwei Frauen sitzen an einem Tisch gegenüber und führen eine Unterhaltung, die ihnen offenbar nahegeht.
Beim „We listen and we don't judge“-Trend werden die Geheimnisse des Gegenübers wortlos hingenommen.
Jule Noike, funky-Jugendreporterin

Videos, in denen Paare, Freunde oder Familienmitglieder sich gegenseitig Geheimnisse gestehen, fluten derzeit das Internet. Das Besondere daran? Die offenbarten Wahrheiten werden kommentarlos hingenommen und nicht bewertet. Doch inwiefern ist „We listen and we don’t judge“ gesund für eine Beziehung – und wann beginnt Ehrlichkeit toxisch zu werden?

Neben verhältnismäßig harmlosen Geheimnissen, wie dem heimlichen Benutzen der Zahnbürste des Partners oder der Partnerin, kommen vor laufender Kamera auch so einige Wahrheiten ans Licht, die das Potenzial haben, Beziehungen zu zerstören. Von dem Geständnis, dass man morgens extra früher zur Arbeit fährt, um die Liebsten nicht länger ertragen zu müssen, bis hin zu einer verschwiegenen Affäre ist hier alles dabei.

Nicht selten bricht von den Geständnissen erschüttert mindestens eine:r der Beteiligten in Tränen aus, was die Frage aufkommen lässt, ob dieser Social Media-Trend Toleranz für Ehrlichkeit fördert oder doch eher ein Beziehungskiller ist.

Grundlegend macht der Trend auf ein gesellschaftliches Problem aufmerksam. Kaum jemand schafft es heutzutage noch, anderen aktiv zuzuhören und dabei die eigenen Bewertungen zurückzuhalten. Genau diesen oft fehlenden, wertfreien Raum schafft „We listen and we don’t judge“ und kann somit einen Beitrag zu gesunder Kommunikation leisten, die auf Offenheit und dem Respektieren anvertrauter Geständnisse basiert.

Ganz nach dem Motto „Bad news are good news” lässt sich die schonungslose Ehrlichkeit jedoch nicht von moralischen oder persönlichen Grenzen aufhalten und dient nicht selten dem Zweck, die Zuschauenden möglichst heftig zu schockieren. Je schrecklicher die Enthüllungen, desto mehr Kommentare und umso mehr Reichweite bekommt ein Video. Und so geht es letztendlich doch wieder um die Bewertungen von anderen Menschen, obwohl sich der Trend ursprünglich genau gegen den ständigen Drang richtet, das Leben anderer zu kommentieren.

Unter den Influencern scheint ein regelrechter „Beicht-Hype“ ausgebrochen zu sein, aber sollte man sich darüber freuen, dass man derart erschütternde Geheimnisse voreinander hat mit der man die Welt beeindrucken kann? Sind Paare, die problemlos mehrere dieser Videos füllen können, wirklich darum zu beneiden, dass es offenbar erst einen TikTok-Trend brauchte, damit sie ehrlich zueinander sind?

Bezogen auf das reale Leben täte ein kleines bisschen mehr aktives Zuhören und ein großes bisschen weniger Bewerten anderer Lebensweisen uns allen gut. Sicher könnte es das eine oder andere Familienessen entspannen, wenn der Onkel sich nicht wieder über die unkonventionelle Berufswahl seiner Nichte oder die dritte gescheiterte Ehe seiner Schwester aufregen würde. In der virtuellen Welt gilt es, Empathie zu zeigen und sich darüber bewusst zu sein, was Geheimnisse in anderen Menschen auslösen können, mögen sie für einen selbst auch noch so befreiend sein. Wie wäre es außerdem mit der positiven Abwandlung des Trends? In „We listen and we admire“-Videos gestehen sich Personen, was sie am jeweils anderen toll finden und schätzen. Vielleicht könnte der Trend so dazu beitragen, dass mehr Menschen erkennen, wie wichtig es ist, ihren Liebsten Anerkennung und Wertschätzung entgegenzubringen.

Du willst mehr? Du bekommst mehr!

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.