Pilze immer und überall

Tristan Jurisch mit einem Pilz.
Tristan ist Pilzsachverständiger in Deutschland - und das mit nur 18 Jahren.
Anna Abraham, funky-Jugendreporterin

„Was ist das denn für ein Pilz?“, fragt mich Tristan Jurisch. In der ausgestreckten Hand hält er ein kleines Exemplar mit braunem Schirm. Wenn ich genau hinschaue, entdecke ich unter dem Schirm sogar Lamellen. Trotzdem bin ich komplett ratlos. „Ein Täubling?“, frage ich zögerlich. Tatsächlich handelt es sich um einen Goldröhrling. Wo ich einfach einen Pilz sehe, entdeckt Tristan Jurisch ein ganzes Reich. Während wir durch den Wald spazieren, scannt er mit den Augen die Böschung am Wegesrand, blickt wieder hoch zu den Bäumen, wieder hinab zu den Grasbüscheln. Immer wieder bleibt er dann stehen, hockt sich entspannt hin und wischt vorsichtig etwas Laub zur Seite. Darunter kommt dann meist ein Pilz zum Vorschein. Außerdem kennt sich Tristan nicht nur mit Pilzen aus: Er ist auch der jüngste Pilzsachverständige Sachsens.

Mindestens einmal in der Woche zieht er los in den Wald. In der linken Hand schaukelt ein geflochtener Korb. Darin liegt ein Pilzmesser. Es ist leicht gebogen und mit der eingebauten Bürste kann man die Pilze direkt putzen. In der rechten Hand hält er eine Zigarette. Meistens hört er bei seinen Spaziergängen Hip-Hop-Musik. „Die meisten überrascht das, die denken, dass ich eher so entspannendes Zeug höre“, sagt er.

Die Ausbeute einer Sammelaktion.

Zu den Pilzen gebracht habe ihn vor allem seine Oma. Mit ihr ist er schon im Kindergartenalter in den Wald gegangen. An den ersten Pilz kann er sich nicht erinnern, das sei unmöglich. Von seinem Vater und seiner Oma hat er viel gelernt, das restliche Wissen eignete er sich mithilfe von Büchern an. Wahrscheinlich kennt er Tausend oder mehr Pilzsorten.

Inzwischen wohnt Tristan bei seiner Oma in Fischbach, einem kleinen Dorf außerhalb des sächsischen Arnsdorfs, in einem ehemaligen Pfarrhaus. Von Dresden fahre ich dorthin etwa eine halbe Stundemit dem Zug. Dann setze ich mich in einen fast leeren Regionalbus. Alle anderen außer mir sind vermutlich Schülerinnen und Schüler. Die Haltestellen werden weder angesagt noch angezeigt. Manchmal wird der Bus langsamer, wenn wir an einem Haltestellenschild vorbeifahren, dann zieht er wieder an, wenn dort keiner steht. Später erzählt mir Tristan, dass er auch schon mal in einem anderen Dorf gelandet ist, weil er zu spät gedrückt hatte. „Dann bin ich eben dort in den Wald gegangen und habe Pilze gesammelt“, erinnert er sich.

Außen an der Mauer des alten Pfarrhauses hängt ein kleines Schild: „Tristan Jurisch, geprüfter Pilzsachverständiger“. Um das Schild herum reihen sich viele kleine Pilze aneinander. Vor der Tür steht ein geschnitzter Pilzmensch, auf einem Tisch warten die jüngsten Exemplare, gelagert auf einem Moosbett, auf Interessierte.

Dreißig Minuten laufen wir dann etwa von seinem Haus bis zum nächsten Wald. Im Dorf grüßen ihn manche, sie kennen den jungen Mann mit dem Pilzkorb. Während ich den Blick über die Felder und den Trecker in der Abendsonne schweifen lasse, findet Tristan schon den ersten Pilz: Nicht in einem dichten Wald, sondern direkt neben der Straße, kaum verdeckt von einem hölzernen Gartenzaun. Vorsichtig bricht er ihn ab und legt ihn in seinen Korb. Das ist die erste Lektion, die ich von ihm lerne: Pilze findet man überall. Wie ein staunendes Kind erzählt er mir von Pilzen, die selbst Asphaltdecken durchschießen und in der heißen Wüste bei Regen aufsprießen. Jede Vegetationszone hat ihre eigenen Pilze. In der sächsischen Region kennt Tristan sich gut aus, aber er würde gerne auch mal im Regenwald am Amazonas auf die Suche gehen. „An Pilzen gefällt mir die enorme Formenvielfalt“, verrät er.

Neben Pilzen kennt er sich auch mit Bäumen aus, stelle ich fest. Mit einer Hand zeigt er zu einer Lärche, nur unter ihr wachsen nämlich die begehrten Lärchenröhrlinge. Pilze und Bäume gehören zusammen und gehen eine Symbiose ein, erfahre ich von Tristan. Meine zweite Lektion.

Steinpilze, Täublinge, andere kleine braune Kollegen, deren Namen ich mir nicht merken konnte – immer mehr Pilze wandern in den Korb. Jetzt im Herbst wachsen durch die Feuchtigkeit viele Pilze am Wegesrand. Aber: Pilze wachsen nicht nur überall, sondern auch immer. Die dritte Lektion. Manchmal fokussiert Tristan die Pilze auch mit seinem Handy, geht nah ran und drückt dann ab. Die Fotos der schönsten Pilze landen auf seinem Instagram Kanal @pilzaddicted. Den betreibt er seit mehreren Jahren, zwischendurch hatte er auch mal für ein Jahr sein Passwort vergessen. Inzwischen hat er über 4000 Followerinnen und Follower.

So wird auch die Aufmerksamkeit auf seine Pilzwanderungen gelenkt. Bis zum Ende des Jahres ist bei ihm jedes Wochenende ausgebucht: Jeweils ein Tag mit Fußball, der andere Tag mit Pilzen. Dabei hilft ihm die Zertifizierung zum Pilzsachverständigen. Diese Prüfung hat Tristan mit 17 Jahren abgelegt. Extra für ihn wurde das Mindestalter von 18 auf 16 Jahre gesenkt. Drei Wochen vor Prüfungstermin habe er einen Anruf von einem befreundeten Sachverständigen bekommen, dass er wider Erwarten teilnehmen dürfe. Vorbereitet habe er sich nicht wirklich. „Ich vertraue da meinem Wissen“, erklärt der inzwischen 18-Jährige. Nach einer simulierten Pilzberatung und einem schriftlichen Test steht fest: Tristan Jurisch kennt sich sehr gut mit Pilzen aus und darf sein Wissen weitergeben.

Zu fast jedem Pilz hat er Spezialinformationen parat, kleine Wissensanekdoten. Zum Beispiel färbt sich der Maronenröhrling blau, wenn man ihn anschneidet. Das heißt aber nicht, dass er giftig ist – er oxidiert einfach. Auf seinen Pilzwanderungen wundern sich die meisten über die Tatsache, dass zum Beispiel Täublinge in so vielen unterschiedlichen Farben auftreten können.

Neben einer Bank entdecken wir schließlich auch einen Knollenblätterpilz. Unscheinbar sieht er aus, dabei gehört er zu den giftigen Pilzsorten Deutschlands. Persönlich interessiert sich der junge Pilzsachverständige am meisten für Vitalpilze, deren Inhaltsstoffe bei kleinen Krankheiten helfen.

Am Ende der Wanderung ist das Körbchen fast voll. Daraus kocht Tristan sich zuhause jetzt ein Pilzrisotto. Als wir zurück ins Dorf schlendern, erfahre ich, wie er sich seine Zukunft vorstellt. Biologie möchte er trotz aller Pilzliebe nicht studieren. Erst einmal sollen die Pilze ein Hobby bleiben.  Stattdessen setzt er sich jeden Tag in den Bus nach Dresden, um sich dort zum Sozialassistenten ausbilden zu lassen. Sein Traum ist es, die Kinder wieder in die Natur zu bringen. Denn eine Sache steht für ihn fest: „In die Stadt ziehe ich niemals.“

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