Wie politisch sind Haare?

Kim de l'Horizon rasiert während der Verleihung des Deutschen Buchpreises die Haare.
Kim de l'Horizon schneidet sich nach der Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis 2022 aus Solidarität mit den Frauen im Iran die Haare ab.

Seit dem Tod der 22-jährigen Masha Amani Mitte September finden im Iran große Proteste gegen die Regierung statt. Es wird vermutet, dass sie an den Folgen von Misshandlungen durch die Sittenpolizei gestorben ist – und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wegen jahrelanger Repression durch das Regime geht die Bevölkerung auf die Straße. Viele Menschen schneiden sich als Protestaktion öffentlich die Haare ab. Um Solidarität mit der iranischen Bevölkerung zu bekunden, tun es ihnen weltweit Prominente, Politiker*innen und Demonstrierende nach. Doch wozu das Ganze? Inwiefern können Haare politisch sein? Angesichts der aktuellen Ereignisse lohnt sich ein Blick in die letzten Jahrhunderte.

Lena Enders, funky-Jugendreporterin

Für viele iranische Frauen ist das Haar ein Zeichen von Schönheit, das in der Islamischen Republik jedoch durch einen Hidschab bedeckt werden muss. In der Geschichte des Irans haben sich Frauen die Haare abgeschnitten, um sich zur Wehr zu setzen. Es war schon immer ein Symbol der Rebellion und der Selbstbestimmung gegen das Patriarchat – tatsächlich geht das Abschneiden der Haare als Symbol des Protests und der Trauer auf das Nationalepos „Shahnamehdes“ des Irans zurück, das circa um das Jahr 1000 geschrieben wurde. Dort ist das Haar ein wiederkehrendes Motiv: Es wird zerrissen oder abgeschnitten, um Trauer oder Verlust zu signalisieren.

Doch nicht nur in der Geschichte des Irans kommt den Haaren eine besondere Bedeutung zu. Auch in der europäischen Literatur des Mittelalters wird das Raufen, Abreißen und Abschneiden der Haare als performativer Akt der Trauer, Verzweiflung und des Verlusts beschrieben.

Auf der anderen Seite kann das Abschneiden der Haare auch zum Ausdruck von sozialer Kontrolle werden, um das Einordnen und Eingliedern in die Gesellschaft oder auch die Disziplinierung durchzusetzen. Zum Beispiel werden im Militärdienst, im Gefängnis oder im Rahmen der Askese unterschiedlicher Mönchsgruppen die Haare geschnitten oder geschoren – bis hin zur vollständigen Kopfrasur.

Umgekehrt waren die langen Haare der Hippies in den 1970ern ein Ausdruck von Rebellion und Protest. Junge Menschen, die während des Vietnamkriegs, ihre Haare lang wachsen ließen, haben damit folglich nicht nur den ordentlich gepflegten Frisuren ihrer Eltern getrotzt, sondern auch ein politisches Statement gesetzt. Nur ein paar Jahrzehnte später markierten auch bunt gefärbte Haare oder der Irokesen als Erkennungszeichen der Punks eine klare politische Einstellung.

Haare sind also viel mehr als bloß ein Kopfschmuck mit biologischer Funktion. Schon immer kam ihnen eine gesellschaftspolitische Bedeutung zu. Diese konnte und kann je nach Zeit und den großen Themen der unterschiedlichen Kulturen variieren und unterschiedliche Anliegen und Ansichten repräsentieren.

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