Interview

Extrovertiert vs. introvertiert

Ein springender Hund und eine Eule in ihrem Bau im Ast.
Wie auch unterschiedliche Tierarten, sind auch Menschen sehr verschieden: Manche ziehen Energie aus Gesellschaft, andere wiederum aus der Zeit alleine.

Bezeichnet ihr euch als extrovertiert, introvertiert oder vielleicht als einen Mix aus beidem? Diese Begriffe sind zwar weit verbreitet, doch trotzdem schwer greifbar und mit vielen Klischees behaftet. Anschaulich werden die Charakterbezeichnungen häufig erst in konkreten Alltagssituationen.

Lena Enders, funky-Jugendreporterin
Marley Ebelt
Foto: privat

Party oder gemütlicher Fernsehabend? Viel unter Menschen oder lieber alleine sein? Je nach Vorliebe bezeichnet man eine Person als introvertiert oder extrovertiert: Nach innen gekehrt, verschlossen und kontaktscheu oder nach außen gerichtet, aufgeschlossen und kontaktfreudig. Extrovertierte Personen fühlen sich in sozialen Situationen wohl und empfinden den aktiven Austausch mit Mitmenschen als anregend. Introvertierte Personen hingegen richten ihre Aufmerksamkeit mehr auf ihr Innenleben und schöpfen aus allein verbrachter Zeit Energie. Natürlich ist die Spanne zwischen beiden Extremen groß. Die gegenteiligen Begriffe bieten eher eine Art Orientierung für die Fremd- oder Selbstbezeichnung, keinesfalls jedoch eine psychologische Diagnose.

Özge Asanbayli
Foto: Saskia Keilbach

Befragt man eine introvertierte und eine extrovertierte Person zu ihren Wahrnehmungen von bestimmten Alltagssituationen, fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Spannend ist dabei zu beobachten, wie Klischees über Extrovertierte oder Introvertierte in sich zusammenfallen oder sich interessante Wendungen ergeben können. Marley Ebelt und Özge Asanbayli erzählen, wie sie in folgenden Situationen fühlen, reagieren oder handeln würden.

Es ist der erste Tag deiner Ausbildung/deines Studiums. Du stehst vor dem Unterrichtsraum mit vielen anderen gleichaltrigen Leuten. Was tust du?
Marley: Ich stelle mich an den Rand und lese. Ich habe für solche Situationen immer ein Buch dabei. Ich möchte beschäftigt aussehen, denn in solchen Situationen fühle ich mich unwohl, will aber verhindern, dass man das von außen sofort erkennt. Ich weiß natürlich, dass es gut wäre, Kontakte zu knüpfen. Manchmal nehme ich mir extra vor, auf Menschen zuzugehen – doch häufig kehre ich auf halbem Weg wieder um. Ich hoffe, dass mich vielleicht jemand anspricht, der*die das Buch, das ich gerade lese, kennt.

Özge: Ich spreche eine Person an, um abzuklären, ob ich im richtigen Kurs und am richtigen Raum stehe. Meistens kommt man über eine organisatorische Frage direkt ins Gespräch.

Ich räume den Weg um der Situation zu entkommen und keine weitere Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Marley

Die öffentlichen Verkehrsmittel sind voll und eng. Du wirst aus dem Nichts von einem älteren Herrn angeschnauzt, du würdest im Weg stehen und mit deinem großen Rucksack auf dem Rücken alles blockieren. Wie reagierst du?
Marley: Ich fühle mich direkt unwohl. Im Beisein von Menschen habe ich häufig Angst, angesprochen zu werden oder etwas falschzumachen. Wenn das dann wirklich passiert, entschuldige ich mich (leise) und räume den Weg – auch um der Situation zu entkommen und keine weitere Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Özge: Intuitiv entschuldige ich mich häufig erst einmal – ob ich nun im Recht bin oder nicht, einfach weil ich ein friedliebender Mensch bin. Trotzdem versuche ich mich zu rechtfertigen und für mich einzustehen. Wenn es nicht meine Schuld ist, lasse ich mich ungern anschnauzen. Ich bin der Meinung, der Ton macht die Musik – alles kann freundlich formuliert werden.

Es ist Klassenfahrt/Seminarfahrt und du teilst dir ein Zimmer in einer Jugendherberge/einem Hostel mit anderen Teilnehmenden.
Marley: Um Gottes willen! Innerhalb des Raums traue ich mich nicht mehr als das Nötigste zu machen. Ich will niemandem im Weg stehen, da ich vermeiden möchte, angesprochen zu werden. Um nicht aufzufallen, mache ich die Gruppenaktivitäten mit, doch in Gruppengesprächen bin ich eher still. Wenn es möglich ist, ziehe ich mich zurück und lese.

Özge: Ich liebe es, unter Leuten zu sein. Hostelzimmer sind eine gute Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen und eine tolle Gelegenheit, um Leute kennenzulernen. Allerdings ist man in einem Hostel den ganzen Tag von Menschen umgeben, sodass ich ab und an auch einen Rückzugsort brauche. Ich versuche mir einen Vorhang an das Hochbett zu basteln, damit ich wenigstens den Moment kurz vor dem Schlafen und beim Aufwachen für mich habe.

Du bist alleine in der Mensa und stehst mit vollem Tablett im Essensraum und findest auf Anhieb keine Person, die du kennst. Was nun?
Marley: Ich stelle mich an den Rand und halte intensiv Ausschau nach Leuten, die ich kenne. Wenn ich wirklich kein bekanntes Gesicht entdecke, suche ich mir einen Platz am Rand, etwas abseits von anderen Leuten. Ich widme mich meinem Essen und möchte so aussehen, als ob ich beschäftigt bin.

Özge: Das ist okay für mich. Ich habe keine Lust, ewig nach bekannten Gesichtern zu suchen, also nehme ich mir einen freien Platz und sehe mir während des Essens etwas auf dem Handy an. Es macht zwar mehr Spaß, gemeinschaftlich zu essen, es ist aber auch völlig in Ordnung, hin und wieder mal alleine zu essen.

Nach einer Woche ohne Sport und menschlichen Kontakt fällt mir die Decke auf den Kopf.

Özge

Du musst 14 Tage Quarantäne machen ohne Symptome zu haben. Wie fühlst du dich dabei?
Marley: Ich genieße diese Tage. Dann habe ich viel Zeit zum Lesen und Schreiben. Vielleicht telefoniere ich mit einer Freundin, aber das ist kein Muss. Es stört mich gar nicht, meine Ruhe zu haben, denn dann kann ich besser entspannen.

Özge: Die ersten Tage tut mir das unglaublich gut, zwangsweise zur Ruhe zu kommen. Wird mir von außen auferlegt, dass ich mal chillen muss, dann habe ich keine Wahl – was mir richtig gut gefällt. Von außen ausgebremst zu werden ist insofern wichtig für mich, weil ich sonst immer unterwegs bin. Allerdings bin ich eine Person, die ständig „fomo“ (fear of missing out) hat, sodass mir nach einer Woche ohne Sport und menschlichen Kontakt die Decke auf den Kopf fällt.

Es ist große Familienfeier bei den entfernten Verwandten. Jede Person soll etwas vortragen, singen oder in ähnlicher Art beisteuern. Was unternimmst du?
Marley: Tatsächlich liebe ich es, auf der Bühne zu stehen. Ich genieße es, Dinge vorzutragen und die Aufmerksamkeit für diesen einen Moment zu bekommen. Auf der Bühne weiß man genau, was getan werden muss – es ist vorhersehbar. Das Unwohlsein kommt immer erst, wenn ich konkret mit Menschen sprechen muss und mir im Gespräch spontan etwas einfallen lassen muss.

Özge: Ich habe auf jeden Fall Muffensausen. Im Kontext der Familie ist mir diese Art der Aufmerksamkeit unangenehm. Aufgrund des Pflichtbewusstseins trage ich natürlich meinen Teil dazu bei, fühle mich dabei aber nicht wohl.

Du findest, dass deine Prüfungsleistung in der Schule/Uni unfair bewertet wurde. Wie reagierst du?
Marley: Ich überprüfe, ob das wirklich der Fall ist. Nur wenn es mir wirklich wichtig ist, frage ich bei der Lehrkraft nach, wie die Bewertung zustande kam, lasse mir aber nicht anmerken, dass ich mich unfair bewertet fühle. Geht die Lehrkraft nicht darauf ein, verfolge ich mein Anliegen nicht weiter.

Özge: Das finde ich nicht in Ordnung und spreche den Vorfall an. Wenn ich etwas als ungerecht empfinde, setze ich mich sowohl für mich als auch für andere Schüler*innen oder Studierende ein. Wenn es um etwas geht, dann erst recht. Ich frage bei der Lehrkraft nach, wie bewertet wurde. Ich fordere eine Auskunft und Begründung, damit ich nachvollziehen kann, wie mein Ergebnis zustande kommt.

Ich gehe ungern auf Partys. Dort kann man nicht einfach ein Buch herausholen und lesen.

Marley

Über zwei Ecken bist du zu einer WG-Party/Geburtstagsparty eingeladen, du kennst dort leider niemanden. Gehst du hin?
Marley: Ganz schwierig! Da ich ungern auf Partys gehe, sage ich die Party ab. Wenn überhaupt, gehe ich nur bei engen Freund*innen auf Partys. Eine Fete ist für mich eine schlimme Situation, da viele Menschen um mich herum sind und ich befürchte, dass sie etwas von mir erwarten. Außerdem kann man auf Feiern nicht einfach ein Buch herausholen und lesen.

Özge: Zum Glück ist es eine Party, da geht es ja auch um den Kontaktaustausch. Ich spreche die Person, die die Tür öffnet, an und erkläre, wie ich eingeladen wurde. Um nicht alleine herumzustehen, suche ich eine Person oder Personengruppe und geselle mich dazu.

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