Globus

„Bardak“: Russlanddeutsche Migrationsgeschichte – die ewige Suche nach Heimat

Leonora Lang. Schülerin der 8. Klasse am Gymnasium Heißen in Mülheim an der Ruhr

Geboren und aufgewachsen in Deutschland lerne ich seit der ersten Klasse Russisch im „Herkunftssprachen Unterricht“. Das ermöglicht mir nicht nur mit meinen Großeltern zu sprechen, sondern auch mit dem Teil meiner Familie, der hauptsächlich russisch spricht.

Vor 25 Jahren kamen meine Eltern aus Kasachstan nach Deutschland. Sie lernten sich hier kennen, wurden gemeinsam vor einen Neuanfang gestellt. Neues Land, neue Sprache. Das Land, aus dem sie teilweise abstammen, war ihnen so fremd. Als Spätaussiedler, als Teil der sogenannten Russlanddeutschen, reicht ihre Migrationsgeschichte bis vor den Zweiten Weltkrieg zurück.

Den deutschen Kolonisten, die ab 1763 nach Russland zogen, wurde bewohnbares Land, Steuerfreiheit und Glaubensfreiheit von der Zarin Katharina Die Große versprochen. So siedelten sich Deutsche in weiten Teilen Russlands an und bauten sich ein Leben auf. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden jedoch viele ihrer Privilegien durch den Zaren Alexander II. wieder aufgehoben. Als Konsequenz wanderten viele Deutsche nach Amerika aus. Die Russlanddeutschen waren zu dieser Zeit geleitet von ihrem Reisedrang und verbreiteten sich so bald auf vier Kontinente. Wichtig ist hier anzumerken, dass diese Migrationsbewegungen durchaus freiwillig stattfanden. Das sollte sich im 20. Jahrhundert ändern, als die Zwangsmigrationen anfingen.

Bereits zu Beginn des Jahrhunderts im Ersten Weltkrieg begannen kollektive Umsiedlungen von „illoyalen“ Bevölkerungsgruppen. Wenige Zeit später, it Hitlers Angriff auf die Sowjetunion im Jahr 1941, wurden die Russlanddeutschen zu Fremden in ihrer Heimat. Der Weg zurück nach Deutschland, wo sie einst herkamen, war keine Option mehr, dort wurden sie als Feinde angesehen. Aus dem Wolgagebiet, in dem sie sich niedergelassen und ein Leben aufgebaut hatten, wurden sie vertrieben, viele flohen nach Kasachstan oder Sibirien. Ganze Familien wurden auseinandergerissen, als viele Russlanddeutsche zur Zwangsarbeit in Arbeitslager eingezogen wurden. Etwa 150.000 Menschen starben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden viele von ihnen wieder nach Russland zurückgeführt, andere hingegen blieben. So wuchs mein Opa in Sibirien auf, lebte später mit meiner Oma, meinem Vater und meiner Tante in Krasnoarmejka, in Kasachstan. Meine Mutter wuchs in Karaganda, Kasachstan auf.

Heute erzählen mir meine Großeltern oft von ihrem Leben dort. Von einem Leben, das sie sich aufgebaut hatten, von der Stadt und ihren Freunden dort und sie zeigen mir Länder und Gebiete auf Landkarten. Dann erzählen sie auch oft vom Zerfall der SSSR. „Bardak“, nannte mein Opa diese Zeit einmal. Chaos. Ihnen war es gut ergangen, sie hatten sichere Berufe und ihrer Familie ging es gut. Mit den Vertreibungen, konnten sie jedoch nur noch jeden Monat hoffen, ihren Lohn zu zu erhalten. Sie hatten oft keinen Strom und kein Gas, also kein Licht und keine Möglichkeit, zu kochen. Produkte aus dem Ausland waren eine Seltenheit und alltägliche Grundnahrungsmittel wie Fleisch, Butter, Wurst und Käse gab es nur an Feiertagen. Sie erzählen mir häufig vom Garten meiner Uroma, mithilfe dessen sie sich viel selbst versorgten: Es gab selbst angebautes und eingelegtes Gemüse und Kartoffeln, um den Winter zu überstehen.

Wie Millionen andere Ende des 20. Jahrhunderts, ließen sie ihr ganzes Leben hinter sich, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland. Ihre Hoffnung auf Stabilität, Freiheit, die Möglichkeit, ihre Träume zu verwirklichen, trieb sie an. „Deutschland wurde immer als Märchenland, als Paradiesland beschrieben. Als Land der Träume, in dem man alles erreichen kann“, erzählt mir meine Mutter.

Eine der größten Herausforderungen war die Sprache. Trotz deutscher Vorfahren hatte man ihnen nie richtig Deutsch beigebracht. Das erschwerte zu Beginn auch die Integration in der Schule oder der Arbeit. „Unsere Eltern haben alles für uns aufgegeben, damit wir ein besseres Leben führen können. Ich denke, wir wollten sie stolz machen und ihnen zeigen, dass wir etwas erreichen konnten, dass sie all das nicht umsonst auf sich genommen hatten.“, erklärt meine Mutter. Das war ihre Motivation zu lernen und nicht aufzugeben.

Diese Geschichten zu hören ist jedes Mal so inspirierend. Jedes Mal erweckt es die Neugier und eine Faszination in mir. Ich bin Teil einer Geschichte, die über Generationen zurückreicht und viele Familien für immer prägen wird.

Du willst mehr? Du bekommst mehr!

Von Reinickendorf bis Bochum, von Fulda bis Ottensen – überall schreiben Schülerinnen und Schüler Artikel über das, was um sie herum passiert. Jeder und jede aus ihrer eigenen Sichtweise, mit eigener Meinung und eigenem Schwerpunkt. Bei all den Unterschieden eint sie, dass sie mit ihrer Klasse an MEDIACAMPUS teilnehmen, dem medienpädagogischen Projekt der Funke Mediengruppe. Das erlernte Wissen wenden sie dann praktisch an, indem sie erste journalistische Texte schreiben. Auf funky können sie die Früchte ihrer Arbeit präsentieren.