Dekolonisierung von Literatur

Die Teilnehmer:innen der Podiumsdiskussion
Unter anderem die Teilnehmer:innen der Podiumsdiskussion Dan Thy Nguyen, Canê Çağlar, Dayan Kodua, Millicent Adjei.
Rita Rjabow, funky-Jugendreporterin

In der einladenden Atmosphäre der Bücherhalle Altona versammelten sich am Abend des 6. Novembers 2023 kreative Akteur:innen aus der Literatur- und Schauspielbranche. Es war der Auftakt zu einer fesselnden Decolonize-Reihe, organisiert von den Eine Welt-Fachpromotorinnen für Dekolonisierung beim Trägerverein Ossara e.V. Unter dem Motto Decolonize Literature standen nicht nur Bücher im Rampenlicht, sondern auch die Köpfe und Stimmen, die hinter den Zeilen stehen. Die Veranstaltung bietet einen kritischen Blick auf koloniale Denkmuster und einen leidenschaftlichen Ansatz zur Dekolonisierung.

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Die Diskussionsteilnehmer:innen waren Dan Thy Nguyen, Autor, Theaterregisseur und einer der Produktionsleiter beim Studio Marshmallow; Dayan Kodua, Schauspielerin, Kinderbuchautorin und Gründerin des Gratitude Verlags; Millicent Adjei, Gründerin von Arca – Afrikanisches Bildungszentrum e. V. und der Fasiathek, einer Präsenzbibliothek aus Schwarzer Perspektive. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Bildungsreferentin Canê Çağlar.

Die Moderatorin eröffnete die Diskussion mit zwei grundlegenden Fragen: Was ist Dekolonisierung? Und braucht Literatur Dekolonisierung? Millicent Adjei betonte dabei die inklusive Natur, die für sie bedeutet, dass alle Menschen miteinander leben können. Dekolonisierung sei für sie untrennbar mit den Auswirkungen von Kolonialisierungen auf die Gesellschaft und der Entstehung von rassistischen Strukturen verbunden. Dayan Kodua brachte ihre Sichtweise ein, indem sie Dekolonisierung als persönlichen Akt des Handelns beschrieb. Als Schauspielerin sah sie die Notwendigkeit, Geschichten und Erzählungen aus ihrer Perspektive zu erzählen, um bestehende Strukturen zu hinterfragen und zu verändern. Dan Thy Nguyen betonte die Bedeutung der Dekolonisierung des aktuellen Literaturkanons.

Der aktuelle Literaturkanon ist primär weiß, männlich und westdeutsch geprägt.

Dan Thy Nguyen

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Die Diskussion schwenkte auf den Begriff „Weiße Räume“ in der deutschen Schulliteratur. Dayan Kodua wies darauf hin, dass die Mehrheit der Räume in Deutschland weiß seien, und betonte die Wichtigkeit von Räumen wie der Fasiathek von Millicent Adjei, um verschiedene Perspektiven sichtbar zu machen.

Der Begriff „Weißer Raum“ bezieht sich oft auf einen sozialen oder kulturellen Kontext. In diesem „Weißen Raum“ (meistens literarisch und nicht plastisch) sind Perspektiven, Erfahrungen und Einflüsse von Weißen dominant, während die Stimmen und Erfahrungen von Nicht weißen Menschen oder BPOCs marginalisiert oder unterrepräsentiert sind.

Die Diskussionsteilnehmer:innen teilten zudem persönliche Erfahrungen, wie etwa Dayan Koduas Erkenntnis über Rassismus in ihrer Kindheit oder Millicent Adjeis Antrieb, die Fasiathek ehrenamtlich zu gründen. Die Frage nach Macht und den Rahmenbedingungen in einer pluralen Gesellschaft wurde aufgeworfen. Dabei ist die Frage gestellt worden, was jede einzelne Person im Kontext von Dekolonisierung und Globalisierung tun könne.

Ich betrachte es als meine Lebensaufgabe, Kindern andere Figuren in Erzählungen, Geschichten und Büchern aufzuzeigen.

Dayan Kodua

Canê Çağlar trug das Gedicht „blues in Schwarzweiß“ von May Ayim vor, in dem die letzte Zeile lautet: „2/3 der Menschheit macht nicht mit.“

Eine Interpretation kann sein, dass die kraftvolle Schlusszeile des Gedichts das Problem und den gesellschaftlichen Missstand verdeutlicht, dass sich zwei Drittel der Menschheit nicht im festlichen, als „weiß“ bezeichneten Raum teilnehmen können. Der Ausdruck bezieht sich hier auf Herausforderungen der Dekolonisierung und Globalisierung. Dieser „weiße“ Raum symbolisiert eine feierliche Sphäre, in der bestimmte Gruppen dominieren, während andere ausgeschlossen oder nicht angemessen repräsentiert sind.

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Die Diskussion vertiefte sich in die Frage, wie sich das Konzept des „Nicht-Mitmachens“ manifestiert. Millicent Adjei unterstrich ihre Solidarität und ermutigte dazu, aktiv in den Dialog zu treten und nicht-weiße NGOs zu unterstützen. Dayan Kodua interpretierte „Nicht-Mitmachen“ als eine passive und unterwürfige Rolle, wobei sie insbesondere das Stillsitzen kritisierte. Aus diesem Grund betonte sie die Bedeutung der Nutzung von Netzwerken zur Veränderung und formulierte einen Appell zur aktiven Teilnahme. Dan Thy Nguyen präsentierte zwei Optionen – Reform oder Revolution – und betonte, dass beide notwendig sind, um Räume zu erkämpfen und zu gestalten. Um den Kontext zu klären: In der Diskussion wurde „Nicht-Mitmachen“ als eine Handlungsweise betrachtet, die mit Passivität und Unterwerfung in Verbindung stehen kann. Gleichermaßen kann Nicht-Mitmachen auch als Akt des Widerstands betrachtet werden. Dabei wurde besonders darauf hingewiesen, dass Stillsitzen und Inaktivität keine Lösungen sind, und es wurde dazu ermutigt, sich aktiv für Veränderungen einzusetzen.

Die Podiumsgäst:innen, allesamt Gründer:innen eigener Projekte, wurden nach ihren Beweggründen für die Gründung dieser befragt. Millicent Adjei fand ihre Inspiration während des Studiums, als sie erkannte, dass Veränderungen notwendig sind. Explizit merkte sie im Rahmen von Literaturrecherche, dass Literatur durchgehend weiß ist. Dan Thy Nguyen bezog seine Motivation aus seiner eigenen Biografie und dem Wunsch nach Gleichbehandlung in der deutschen Gesellschaft. Dayan Kodua betrachtete es als Lebensaufgabe, Kindern andere Figuren in Erzählungen zu zeigen und die Narrative derer zu verändern.

Sprache ist viel mehr als das gesprochene Wort. Sprache ist Macht und verbindet.

Millicent Adjei

Die Diskussion schloss mit einem Appell von Dayan zur Dekolonisierung von Literatur, einschließlich der Notwendigkeit von eigenen Stimmen, geeigneten Übersetzer:innen, Sensitivity Readern und einer vielfältigen Sprachrepräsentation. Millicent Adjei hat in ihrem Schlusswort auf den Ted Talk „The Danger of a single story“ von Chimamanda Ngozi Adichie verwiesen und betont, dass Leben und Kultur aus vielen überlappenden Geschichten bestehen und eine kritische Missinterpretation droht, wenn nur eine Geschichte gehört wird. Die Podiumsdiskussion bot einen inspirierenden Einblick in die Vielfalt der Perspektiven zur Dekolonisierung in der Literatur und regte dazu an, aktiv an Veränderungen teilzuhaben. Weitere Veranstaltungen der Decolonize-Reihe folgen im Jahr 2024.

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