Interview

Deutsch-Iranerin im Interview: „Schreien hilft – aber meistens weine ich.“

Demonstration gegen das Regime im Iran.
Selina und Homa nehmen wöchentlich an Demonstrationen gegen das iranische Regime teil.
Alene Paulina Schnell, funky-Jugendreporterin

Seit einem halben Jahr werden im Iran Proteste gegen das misogyne Regime unterdrückt. Die 19-jährige Deutsch-Iranerin Selina* und ihre Mutter Homa* nehmen deswegen jede Woche an den Hamburger Demonstrationen teil. Homa hat den Iran verlassen, als sie 19 Jahre alt war, und ist nun in der Pflege tätig. Selina beginnt im Herbst ihr BWL-Studium. Im Interview berichten die beiden, wie die Ereignisse sie beeinflussen und wie schwer es ist, mit ihren Verwandten in Kontakt zu bleiben.

Inwiefern haben die Ereignisse eure Beziehung zu dem Land verändert? Wie war euer Verhätnis zum Iran vor den Protesten?
Selina: Ich hatte immer eine gute Beziehung zum Iran, meine ganze Familie lebt dort. Ich mochte die Kultur und die Menschen, sie sind dort sehr herzlich. Im Jahr 2021 war ich noch einmal dort. Jetzt können wir unsere Familie nicht mehr besuchen. Es bestünde eine große Chance, dass wir nicht mehr zurückkommen. Solange die Revolution nicht beendet ist, können wir nicht einreisen.

Homa: Wir können unsere Familie auch nur mit einer Verzögerung von zwei bis drei Tagen erreichen. Teilweise war das Internet wochenlang gesperrt, ich konnte mich nicht mal nach meiner Mutter erkundigen.

Viele Menschen sind von der Situation bestürzt. Wie bewegen Euch die Ereignisse?
Selina: Sehr stark. Ich habe deswegen schon oft geweint. Es nimmt mich mit, wenn ich auf Instagram einen Vater vor dem Grab seines Sohnes sehe. Ich habe zeitweise aufgehört, mir die Bilder anzuschauen. Aber das ist das Problem: Man darf nicht aufhören hinzusehen, egal wie schmerzhaft es ist – weil das Regime genau das will.

Homa: Es ist unfassbar traurig. Wir sind so machtlos, das macht einen wahnsinnig.

Wie geht ihr mit der Wut auf das Regime um?
Selina: Fluchen.

Homa: Demonstrieren und Petitionen anstoßen. Ich bin fast jeden Tag auf der Internetseite von Annalena Baerbock und dem Bundeskanzler Olaf Scholz. Mehr können wir nicht tun. Schreien hilft auch. Aber meistens weine ich. Hilfslosigkeit eben.

Morgens erfahre ich von einem neuen Hinrichtungsfall, das ist jedes Mal ein neuer Schock.

Homa

Wie viel Raum nimmt das Thema in eurem Leben ein? Beeinflusst es euren Alltag?
Selina: Ich weiß, samstags gehe ich auf eine Demo. Das ist ein Tag, den ich mir dafür freihalte. Ich studiere im Moment noch nicht, deshalb ist es noch nicht so zeitintensiv. Hoffentlich kriege ich alles noch unter einen Hut, wenn das Studium beginnt.

Homa: Ich habe oft schlaflose Nächte. Morgens erfahre ich von einem neuen Hinrichtungsfall, das ist jedes Mal ein neuer Schock.

Ihr habt im Februar an einer Großdemonstration gegen das Regime in Brüssel teilgenommen. Wie war die Stimmung? Waren viele junge Leute beteiligt?
Homa: Es waren Menschen aus ganz Europa da, die alle das eine wollen. Das war ein tolles Gefühl.

Selina: Ja. Aber auf den Demos sind nicht viele junge Leute. Das sind meistens die Menschen, die aus dem Iran geflohen sind. Man sieht auch viele Ältere, die mit Rollator auf die Straße gehen, das finde ich sehr berührend. Sie zeigen, wie sehr sie ihr Land zurückhaben wollen.

Wie nehmt ihr die gesellschaftliche Unterstützung für das Thema wahr?
Selina: Sehr gering. Das Thema wird nur noch wenig in den Medien aufgegriffen. Ich glaube, die meisten meiner Freunde wissen noch nicht einmal, dass da etwas passiert.

Ich habe das Gefühl, dass wir uns in Europa eher auf Europa konzentrieren.

Homa

Wie wird der Iran in Deutschland wahrgenommen?
Selina: Er wird noch zu wenig gesehen. Ich glaube, das liegt daran, dass es ein Land des globalen Südens ist und im Mittleren Osten angesiedelt ist, nicht in Europa. Ich habe das Gefühl, dass wir uns in Europa eher auf Europa konzentrieren.

Wie würdet ihr die Berichterstattung in den deutschen Medien nach der ersten Welle der Berichterstattung beurteilen?
Homa: Es ist schon mehr geworden. Ich habe gestern zwei Berichte gesehen, die sehr aussagekräftig waren. Vor fünf, sechs Wochen war kaum etwas zu finden. Aber je mehr wir demonstrierten und die Politikerinnen und Politiker an Bord geholt haben, desto größer ist das Interesse geworden.

Selina: Ja, das habe ich auch so wahrgenommen.

Homa: Das Thema darf aber nicht in Vergessenheit geraten. Es muss noch präziser berichtet werden. Bilder von der aktuellen Lage zu zeigen, ist wichtig. Das Internet ist voll mit Videos. In den Nachrichten sieht man noch zu wenige. Dadurch merkt man nicht, wie brutal dort vorgegangen wird, dass beispielsweise Kinder gefoltert werden.

Selina: Die Bilder sind auch wirklich hart. Aber sie müssen gezeigt werden.

Was sind eure Wünsche an die Politik der Bundesregierung?
Homa: Die terroristische Organisation, die Revolutionsgarde, muss auf die Terrorliste geschrieben werden. Und verschiedene Botschafterinnen und Botschafter könnten ausgewiesen werden. Die Politik weiß, dass man mit solch einem Regime am Verhandlungstisch keine Veränderung erzielen kann.

Wie können die Leserinnen und Leser die Bewegung unterstützen?
Selina: Zum Beispiel Petitionen unterschreiben und die Bilder teilen.

Homa: Ja. Uns einfach sehen. Oder uns auf Demos unterstützen, auch eine Stunde hilft schon. Gerade weil diese ja einen Einfluss auf die Politik haben.

Wollt ihr noch was loswerden?
Selina:  Viele wissen nicht, welche Vorteile es hätte, den Iranerinnen und Iranern zu helfen. Es ist so ein schönes Urlaubsziel. Es gibt dort alles, von Schnee und Bergen bis hin zu Strand. Ich wünschte mir, meine Freundinnen könnten mit mir dort hinreisen. Dann könnte ich ihnen dieses schöne Land zeigen.

Homa: Und die Leute sind so herzlich und gastfreundlich.

*Namen von der Redaktion geändert


Über die Lage im Iran:

Die landesweiten Proteste im Iran richten sich gegen die autoritäre Regierung des Staates. Auslöser war der durch Polizeigewalt herbeigeführte Tod von Jina Mahsa Amini in Teheran am 16. September 2022. Amini war zuvor von der Sittenpolizei festgenommen worden wegen des Vorwurfs, gegen die strengen Vorschriften zur Bekleidung von Frauen verstoßen zu haben.

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