Meinung

Leidet die Kunst unter zu viel Öffentlichkeit?

Eine Frau mit Sonnenbrille steht vor mehreren Gemälden und schaut in die Kamera. Ein gestikulierender junger Mann ist außerhalb des Fokus zu erkennen.
Eine starke Persona, besser eine sorgsam kuratierte Social-Media-Präsenz ist für Künstler:innen unabdingbar geworden.
Jan-Malte Wortmann, funky-Jugendreporter

Kunst braucht Öffentlichkeit, denn sie lebt von der Kommunikation. So sehr manche Kunstschaffende mitunter betonen, dass sie ihre Musik, Malerei, Fotografie oder sonstiges „nur für sich selbst“ erschaffen, ist ein rezipierendes Publikum immer Bestandteil des Prozesses: Es reagiert, ordnet ein, beschert Anerkennung. In einer Zeit, in der Aufmerksamkeit zur entscheidenden Währung innerhalb eines unendlichen Stroms an Content geworden ist, scheint die Beziehung zum Publikum bedeutender denn je zu sein. Doch wo ständige Öffentlichkeit über die sozialen Netzwerke allgegenwärtig ist, stellt sich die Frage: Leidet die Kunst womöglich unter zu viel Öffentlichkeit? Oder viel mehr unter dem ständigen Kampf darum? 

Neue Freiheiten, neue Abhängigkeiten 

Natürlich war es für Kunstschaffende jeder Disziplin schon immer eine wünschenswerte Eigenschaft, sich selbst präsentieren und die eigene Kunst verkaufen zu können. Früher wurden sie hierbei von Labelmanager:innen, Literaturagent:innen oder schlicht durch Mund-zu-Mund-Propaganda unterstützt. Heute benötigen sie im Grunde nicht mehr als einen Social Media-Account. Das heißt auch, dass sich Menschen aus aller Welt mit geringsten Mitteln online vermarkten, eine Community aufbauen oder ihre Werke unabhängig veröffentlichen können. Für Kunst und Kultur ist das eine nie dagewesene Demokratisierung. 

Doch diese neuen Freiheiten haben auch andere Effekte: Zum einen ist eine sorgsam kuratierte Online-Präsenz längst unabdingbar für den Erfolg von Künstler:innen geworden. Das kostet sehr viel Zeit und Energie, die nicht alle aufbringen können oder wollen. Schließlich haben sich die meisten von ihnen aus einem bestimmten Grund für die Musik, das Filmemachen, die Malerei oder sonstiges entschieden – und nicht für Content Creation. Vor allem aber macht es sie abhängig von den Dynamiken der Plattformen. Selbst die schönsten und durchdachtesten Inhalte gehen sang- und klanglos unter, wenn sie nicht den Anforderungen eines undurchsichtigen Algorithmus entsprechen. So wird die gewonnene Unabhängigkeit von Labels, Verlagen oder Manager:innen gegen eine neue Form der Abhängigkeit von Tech-Konzernen eingetauscht. 

15 Sekunden Fame 

Darüber hinaus versprechen soziale Netzwerke nicht nur einen schnellen Dopamin-Rausch, sondern vermeintlich auch genauso leicht und schnell verfügbare Prominenz. Diese Vorstellung scheint so verbreitet zu sein, dass viele Menschen meinen, mit ihren ersten künstlerischen Gehversuchen in die Öffentlichkeit treten zu müssen. Wozu noch jahrelang üben, eine künstlerische Identität und Vorstellung vom eigenen Handwerk entwickeln, wenn der virale Hit nur ein kurzes Video entfernt scheint? Naturgemäß zieht dies vermehrt Menschen an, denen Lifestyle und Geld mehr bedeuten als Qualität. Die Folge: Es werden vor allem diejenigen Künstler:innen zu Stars, die durch eine tolle Online-Präsenz punkten. Zahllose andere Kunstschaffende, deren Werke mutmaßlich deutlich interessanter, nuancierter oder progressiver sind, die aber keine Lust auf Social Media-Vermarktung haben, bleiben für immer unbekannt. 

Und auch Künstliche Intelligenz bringt eine neue Synergie in das Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit. Dass KI in absehbarer Zukunft in der Lage sein wird, mit bahnbrechenden, ehrlich berührenden und „echten“ Werken allen Kunstschaffenden die Jobs wegzunehmen, darf wohl noch bezweifelt werden. Allerdings trägt sie zu einem neuen Verständnis von Kunst als Content bei: Während Bilder, Musikstücke oder Videos mit geringstem Aufwand und in tendenziell steigender Qualität generiert werden können, sinkt zwangsläufig die Motivation, erst einmal viel Zeit und Mühe in das Erlernen eines Musikinstruments oder verschiedener Maltechniken zu stecken. Mutmaßlich mindert diese ständige Verfügbarkeit die Kreativität vieler Menschen, auf jeden Fall verwischt sie die Grenzen zwischen Künstler:innen und Rezipierenden – nicht unbedingt zugunsten eines ästhetischen Anspruchs.  

(Noch) kein Ende der Kunst 

Mir ist klar: Niemand mag Kulturpessimist:innen. Die Behauptung vom Ende der Kunst ist so alt wie die Kulturkritik selbst – und stimmte nie. Und so werden auch weiterhin neue, großartige Werke jedweder Disziplin erscheinen und Künstler:innen wird es immer geben. Einfacher wird ihr Dasein in der Aufmerksamkeitsökonomie allerdings nicht. Social Media oder KI sind völlig neue Faktoren in der Menschheits- und Kunstgeschichte, deren Auswirkungen noch nicht vollständig abzusehen, aber mit Sicherheit enorm sind. Womöglich mindern sie den Anspruch der Rezipierenden, sehr wahrscheinlich verstärken sie die Selbstwahrnehmung von Kunstschaffenden als neoliberale Ich-AGs. 

Vielleicht führt diese ständige Öffentlichkeit auch dazu, dass sich große Kunst noch weiter in die Subkulturen zurückzieht. Wie gut sie dort überleben kann, hängt von vielen Faktoren ab, beispielsweise von staatlichen Subventionen oder von dringend notwendigen Reformen bei der Monetarisierung von Musikstreaming. Noch wichtiger aber ist das Engagement der Fans, sich nicht von Algorithmen vorgeben zu lassen, was sie gut zu finden haben – und ihre liebsten Künstler:innen auch mal mit mehr als einem schnellen Like unterstützen. 

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Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.