Flucht von Kyiv nach Heidelberg: „Über den Krieg reden wir nicht“

Deutschkurs in Heidelberg.
Ein studienvorbereitender Deutschkurs soll äusländischen Studierenden ermöglichen ein Studium in Deutschland aufzunehmen.

„Wie würdet ihr eine E-Mail beginnen?“ Sechzehn Augenpaare richten sich auf Olesia Ivashyna, die Fragestellerin. Der Unterricht des B1-Kurses der Mittelstufe beginnt pünktlich um 9 Uhr. Ein Wochentag wie jeder andere im internationalen Studienzentrum der Uni Heidelberg (ISZ). Dort lernen angehende ausländische Student*innen Deutsch. Sie alle haben eins gemeinsam: das Ziel, an der Universität Heidelberg ein Fachstudium zu beginnen.

Leon Kaessmann, funky-Jugendreporter
Ksenia musste aus der Ukraine nach Deutschland fliehen. Jetzt besucht sie einen studienvorbereitenden Deutschkurs
Porträt Ksenia Samporova

Die 19-jährige Ksenia Samporova ist eine von ihnen. Sie ist noch relativ neu im Kurs, seit ein paar Tagen kommt sie regelmäßig zum Unterricht. Montag bis Freitag, 9 bis 12.30 Uhr. Man kann sich mit ihr schon gut auf Deutsch unterhalten. Der B1-Kurs ist schließlich kein Anfängerkurs mehr. Am Ende soll das C1-Niveau erreicht werden, um die DSH-Prüfung zu bestehen – die deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang. Zusammen mit dem 24-jährigen Bogdan ist Ksenia eine von zwei Ukrainer*innen im Kurs. Doch im Gegensatz zu Bogdan ist Ksenia nicht freiwillig hier.

Bis vor kurzem war bei Ksenia noch alles in Ordnung. Sie kommt aus Kyiv, wohnte mit ihrer Mutter in einer der alten sowjetischen Plattenbauten. Letztes Jahr schloss sie die Schule ab und begann ein Biologie-Studium. Nebenbei fotografierte sie für verschiedene Magazine. Doch die Auftragsarbeiten reizten sie nicht am meisten. „Besonders gern fotografiere ich Menschen“, erzählt sie. „Wenn ich ein interessantes Gesicht sehe, muss ich es portraitieren. Das macht mir richtig Spaß.“ Ihre Fotos präsentiert sie auf einem Instagram-Account. Wie auf so vielen Profilen gibt sie in ihrer Bio ihren Wohnort zu erkennen. Vor ein paar Wochen hat sich dort etwas geändert. Unter „Kyiv, Ukraine“ steht nun „Germany“. Was ist passiert?

Von Sirenen und Luftschutzkellern

„Am Morgen des 24. Februars war meine Mutter etwas früher wach als ich. Gegen 6 Uhr oder so“, erinnert sie sich. „Plötzlich kam sie in mein Zimmer gestürmt, um mich zu wecken. Es war surreal, plötzlich gingen Sirenen los. Die alten sowjetischen Sirenen, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr benutzt wurden.“ Die Internet- und Telefonverbindung war weg, die Lage unübersichtlich. Wirkliche Nachrichten von außen gab es nicht. Von Mund zu Mund wurden Gerüchte über Angriffe in Kyiv verbreitet. Es waren viele Informationen im Umlauf, die niemand überprüfen konnte. Noch am selben Tag schickte ihre Mutter sie einkaufen, Grundnahrungsmittel für die nächsten Tage. Oder doch Wochen, Monate? Zu diesem Zeitpunkt wusste noch keiner, wie lange die russische Invasion in der Ukraine andauern würde. „Wir wussten nicht, wo wir uns schützen konnten. Der nächste sichere Ort war in einer Schule, fünf Minuten entfernt von uns. Das war zu weit“, erzählt Ksenia. In einem Keller unter ihrem Haus fanden sie und ihre Familie letztendlich doch noch Zuflucht.

Da laufen Menschen mit Babys im Rucksack über die Grenze und ich darf mir anhören, dass es zu warm ist.

Ksenia Samporova

Zwei Wochen verharrten sie dort, bis Ksenia sich dazu entschloss, zu gehen. Beim dritten Anlauf ergatterte sie endlich einen Platz in einem der überfüllten Züge in Richtung Westen. Ihre Fluchtroute führte sie zunächst über die westukrainischen Städte Iwano-Frankiwsk und Lviv. Doch nach anderthalb Wochen wurde es auch dort immer gefährlicher. Schließlich bestieg sie einen Bus in Richtung Warschau, Polen. Endlich raus aus dem Kriegsgebiet. Besonders absurd war in Ksenias Erinnerung eine Reisegruppe aus Frauen, die mit ihr im Bus saßen. „Sie beschwerten sich über die Temperatur im Bus. Da laufen Menschen mit Babys im Rucksack über die Grenze und ich darf mir anhören, dass es zu warm ist.“

Über Freunde von Freunden und Bekannte landete sie schließlich in Heidelberg. Doch auch dort dauerte es, bis sie bei einer Familie in einem Vorort von Heidelberg unterkommen konnte. Über ihre Gastmutter hat sie nun einen ersten Zugang zur Uni gefunden.

Ein neues Kapitel, ein neues „Zuhause“?

Und da sitzt sie nun und löst mit den anderen zusammen Deutschaufgaben. Stifte fliegen über Papier. Blätter rascheln. Junge Menschen unterhalten sich in allen möglichen Sprachen. Es ist nicht besonders laut, trotzdem ist gute Stimmung im Klassenzimmer. Das Max-Weber-Haus, in dem sich  der Raum befindet, liegt traumhaft in der Heidelberger Altstadt – Panorama-Blick auf den Neckar und das berühmte Schloss inklusive. Eigentlich ideale Voraussetzungen, um die Stadt kennen und lieben zu lernen.

Für Ksenia ist der Blick vor allem eins: Ein Strohhalm, an den sie sich klammern kann, um vielleicht ein neues Kapitel anzufangen. Und Ablenkung. Vom Krieg in der Ukraine, von der familiären Situation und allem, was sie sonst an die Zustände in ihrem Heimatland erinnern könnte.

Gleichzeitig ist der studienvorbereitende Deutschkurs die einzige Möglichkeit für sie, in Deutschland Fuß zu fassen. Mindestens ein Semester muss absolviert werden, die meisten brauchen länger. Anschließend steht die sogenannte DSH-Prüfung an. Ein Nachweis, von dem viel abhängt. Schließlich möchte sie ihr Biologie-Studium in Deutschland fortsetzen.

So muss ich nicht die ganze Zeit an meine Heimat und die Situation meiner Familie denken.

Ksenia Samporova

Und dafür tut sie einiges. Denn – kaum zu glauben – das Studium in Kyiv läuft tatsächlich weiter. „Nach ein paar Wochen Pause haben sie sich dazu entschieden, einfach online weiterzumachen“, erzählt Ksenia. „Alle Kurse laufen normal weiter, aber wir sind natürlich deutlich weniger Studierende als zuvor.“ Durch die Wehrpflicht sind alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren dazu verpflichtet, zu kämpfen. Auch ihre ehemaligen Kommilitonen. Für sie wird das aktuell zur Doppelbelastung. „Ich habe eigentlich kaum Freizeit. Vormittags lerne ich Deutsch, nachmittags und abends bin ich mit der Uni beschäftigt.“ Gleichzeitig lenkt sie das aber auch ab. „So muss ich nicht die ganze Zeit an meine Heimat und die Situation meiner Familie denken.“

Im B1-Kurs geht es inzwischen um das „Hotel Mama“. Eine große Mindmap mit diesen Worten ist an der Tafel zu sehen. Die jungen Erwachsenen diskutieren nun über die Vor- und Nachteile, zuhause zu wohnen oder früh auszuziehen. Ob in weniger fortgeschrittenem oder in sehr gutem Deutsch: Frau Ivashyna lässt sie alle ausreden. Anschließend stellt sie die Frage, was die Kursteilnehmenden unter dem Begriff „Zuhause“ verstehen. Auch Ksenia nimmt aktiv an den Diskussionen teil. Zynisch genug, dass sie nie eine Wahl hatte, ob sie das Elternhaus verlassen möchte. Und auch ihr neues „Zuhause“ hat sie sich nicht ausgesucht.

Das macht es umso emotionaler für mich, junge Landsleute zu unterrichten und zu unterstützen.

Olesia Ivashyna

Die Dozentin und Sprachlehrerin des Kurses, Olesia Ivashyna, kommt selbst aus Charkiw, einer stark vom Krieg gebeutelten Stadt in der Ukraine. „Das macht es umso emotionaler für mich, junge Landsleute zu unterrichten und zu unterstützen“, sagt sie. „Das bedeutet mir sehr viel, insbesondere weil ich ihre Situation so gut nachempfinden kann.“ Zu Ksenia kann sie nur Positives sagen. „Sie beteiligt sich viel im Unterricht, man merkt, dass sie sehr motiviert ist. Sie ist nicht schüchtern und hat sich von Anfang an sehr gut eingefügt.“

Wer Ksenia in diesen Tagen begegnet, weiß, was Frau Ivashyna meint. Trotz der zu diesem Zeitpunkt erst kürzlich geglückten Flucht und einer Odyssee durch Europa hat sie ihren Humor nicht verloren. Wenn man sich bei ihr erkundigt, ob auch detaillierte Fragen zum Krieg in Ordnung sind, reagiert sie offensiv: Bei ihr sei alles gut, ob man sich selbst denn gerade wohl fühle? Doch von einer gewissen Last ist auch sie nicht freizusprechen. Ihre Familie musste sie zurücklassen, täglich halten sie Kontakt und tauschen sich aus. „Wir versuchen, über alles zu reden, nur nicht über den Krieg“, sagt Ksenia schwermütig. „Damit müssen wir uns schon genug befassen.“

„Der Ansturm hält sich in Grenzen“

Das internationale Studienzentrum der Uni Heidelberg ist für die Koordination und Aufnahme ausländischer Studierender zuständig. Der stellvertretende Leiter der Einrichtung, Dirk Deissler, weiß um die Schwierigkeiten der jungen ukrainischen Geflüchteten. Inzwischen sind auch im ISZ einige von ihnen angekommen. „Jede*r Einzelne von ihnen bringt schweres Gepäck mit“, erklärt er. „Um ihnen eine schnellere Integration zu ermöglichen und das Sprachniveau schnell zu erhöhen, werden die Unterrichtsgruppen bewusst klein gehalten.“ Behandelt würden sie wie alle anderen internationalen Studierenden, trotz der Möglichkeit eines nur kurzfristigen Aufenthalts.

Bisher läuft die Koordination der neu Hinzukommenden gut. „Der Ansturm bei uns hält sich noch in Grenzen“, beschreibt Deissler den aktuellen Zugang von ukrainischen Geflüchteten am ISZ. „Es werden jedoch stetig mehr.“ Auch das zuständige Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg sieht das auf Nachfrage ähnlich. „Die Anfragen, Bewerbungen und Immatrikulationen steigen stetig an. Jedoch kann noch nicht von einem Ansturm gesprochen werden.“

Insgesamt würde versucht, auf die Bedürfnisse der Neuankömmlinge einzugehen, so das Ministerium. „Viele Hochschulen bieten ein sogenanntes „Buddy“-Programm an. Dabei werden die Studierende von anderen internationalen Studierenden betreut, die ihre Erfahrungen weitergeben und so authentisch den Einstieg in unsere Hochschulwelt erleichtern.“ Auch hätten einige Hochschulen schon einige ukrainische Studierende als Hilfskräfte eingestellt.

Das mag zwar die Ankunft in Deutschland für manche erleichtern. Doch solche Maßnahmen nehmen natürlich nur einen kleinen Teil der Last. So stellen sich allen Betroffenen schwierige Fragen: Wann geht es zurück in die Heimat? Nach einem Monat? Nach drei Monaten? Oder vielleicht nie wieder?

Das Land ist zerstört und hat keine Zukunft. Ich will an nichts festhalten, was mir keine Perspektive bietet.

Ksenia Samporova

Für Ksenia ist die Sache klar. „Ich will erstmal nicht zurück“, stellt sie fest. „Das Land ist zerstört und hat keine Zukunft. Ich will an nichts festhalten, was mir keine Perspektive bietet.“ Das klingt hart, passt aber zu dem Eindruck, den man von ihr hat, wenn man sie trifft. Falsche Hoffnungen und halbe Sachen finden bei ihr keinen Platz. „Meine größte Hoffnung ist momentan, nicht in zwei Monaten obdachlos zu sein und auf der Straße zu landen.“ Fragt man sie nach ihrer Perspektive und ihren Träumen, klingt ihre Antwort bitter – die Unsicherheit ist groß zu dieser Zeit. Wenigstens erhalte sie finanzielle Unterstützung vom Staat, auch wenn sie sich Leistungen von Sozial- und Arbeitsamt zusammenklauben müsse. „Insgesamt fühle ich mich aber gut vom Staat unterstützt und willkommen im neuen Land“, schildert sie.

Inzwischen hat Ksenia endlich ein WG-Zimmer gefunden. Nur etwas über 200 Euro zahle sie – für den Heidelberger Raum rekordverdächtig günstig. Auch BAföG könne sie nun wahrscheinlich beziehen, auch wenn das in Deutschland erst einmal leichter gesagt ist als getan. „Ich habe noch nirgendwo so viele Formulare ausgefüllt wie in Deutschland“, staunt sie. „Mir wurde gesagt, dass es auch ein paar Monate dauern kann, bis der Antrag durch ist. Aber das ist okay.“

Ksenia wird in Zukunft auch wieder mehr Freizeit haben. „Das Semester in Kyiv ist bald endlich vorbei. Noch zwei Wochen, dann ist es geschafft“, freut sie sich. Wenn sie Glück hat, kann sie noch dieses Jahr an die Uni, sofern sie die Deutschprüfung besteht. Sonst eben nächstes Jahr. Aber eins ist sicher: Nun kann sie endlich den Fokus voll und ganz nach vorne richten, sich auf ihr anstehendes Studium vorbereiten, ihre Deutschkenntnisse verbessern und neue Menschen kennenlernen. Eine Möglichkeit für einen Neubeginn.

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