Meinung

Großbritannien an den Grenzen der Solidarität: Parteipolitik vor Menschenrechten

Ein Schild eines Demonstranten mit dem Gesicht von Boris Johnson in Clowns-make-up
Boris Johnson wählt Parteipolitik statt Menschenrechte oder Asylpflicht.

Jährlich flüchten Tausende Menschen auf unsicheren Booten über den Ärmelkanal nach Großbritannien. Zukünftig sollen sie von GB in das über 6.500 Kilometer entfernte Ruanda ausgeflogen werden, um dort auf die Prozessierung ihres Asylantrags zu warten. Ein Prozess, der sich über Monate, meist Jahre hinziehen kann.

Amelie Bahlert, funky-Jugendreporterin

Die Anzahl der Menschen, die auf der Fluchtroute über den Ärmelkanal nach Großbritannien kamen, nahm in den letzten Jahren zu. So berichtet „Die Zeit“, dass fast viermal mehr Geflüchtete aus Frankreich den Ärmelkanal überquerten als zur selben Zeit im Jahr zuvor. Die „Kontrolle der britischen Grenzen wiederzuerlangen“ war ein konkretes Wahlversprechen der in Großbritannien amtierenden Tory-Partei, die damit auch Werbung für den Brexit machte. Die steigenden Zahlen der Asylsuchenden bringt die Partei daher in Reaktionsnot.

Finanzen, Humanität oder die „Schlepper-Banden“ – die Top Five der peinlichsten Legitimationsversuche der Johnson-Regierung

„Unser Mitgefühl mag unendlich sein, aber unsere Fähigkeiten, Menschen zu helfen, sind begrenzt.“

Boris Johnson

1. Finanzielle Entlastung für Großbritannien:

Geflüchtete nach Ruanda auszufliegen oder sie in Großbritannien zu beherbergen soll nach Angaben der Johnson-Regierung vergleichsweise teuer sein. Langfristig soll sich dieses Projekt jedoch „finanziell lohnen. Viele Ökonomen kritisieren das neue Abkommen hingegen als „Augenwischerei“. Selbst Andrew Mitchell, Mitglied der konservativen Tory Partei äußert sich polemisch: Es sei billiger die Geflüchteten im Ritz – einem Fünf-Sterne Hotel – unterzubringen, als sie nach Ruanda auszufliegen. Tatsächlich sind die Angaben über die angeblichen finanziellen Vorteile vage und mangelhaft.

Insgesamt leben 85 Prozent der Geflüchteten weltweit in den Ländern des globalen Südens, während nur 15 Prozent in den reichen, wirtschaftlich besser etablierten Ländern wohnen. Großbritannien gehört zu den fünf reichsten Ländern der Welt, Ruanda zu den 25 ärmsten. Finanziell ist Ruanda also nicht besser ausgestattet als Großbritannien, um Schutzsuchenden eine sichere Unterkunft zu bieten.

Dass in der politischen Debatte die Hochrechnungen, welche Methode günstiger für den britischen Steuerzahlenden ist, immer im Vordergrund stehen und erst im Nachgang über die Moralität diskutiert wird, zeigt, in was für einer moralischen Talfahrt sich die Johnson-Regierung befindet. Kostentabellen haben nun mal den Vorteil, dass soziale Verantwortung und Moral außen vor bleiben können.

2. Platzmangel – oder doch nur Empathie-Mangel?

Ein weiteres Argument für die Aussiedlung der Asylsuchenden ist laut britischer Regierung der Platzmangel in den Industriestaaten. Dabei ist der ostafrikanische Staat Ruanda deutlich dichter besiedelt, gleichzeitig ist die Anzahl der aufgenommenen Geflüchteten sogar ein wenig höher als in Großbritannien. Ruanda hat pro Einwohner*in fünfmal mehr Geflüchtete aufgenommen als Großbritannien und das auf einer Fläche, die nur ein Neuntel so groß ist. Mitgefühl heucheln, ehrliche Hilfe aber verweigern – es ist nicht Großbritannien, sondern die Johnson-Regierung, die in ihren „Fähigkeiten, Menschen zu helfen“ begrenzt ist.

„Angetrieben von unserem gemeinsamen humanitären Impuls und ermöglicht durch die Brexit-Freiheiten werden sichere und legale Wege für Asyl geschaffen und gleichzeitig das Geschäftsmodell der [Schlepper-]Banden gestört.“

Boris Johnson

3. „Sichere und legale Fluchtwege“ – ein Fiebertraum

Dieses neue Asylabkommen schafft keine sicheren Fluchtwege, denn wenn Geflüchtete nach Ruanda ausgeflogen werden, mussten diese häufig bereits Dutzende illegale und damit sehr gefährliche Fluchtrouten nutzen, um nach Großbritannien zu gelangen. Die Regierung schafft mit diesem Plan also keine Fluchtroute, sondern de facto eine Methode, um Menschen unbürokratisch abzuschieben. Gleichzeitig umgeht sie damit die internationale Pflicht, Asyl zu gewähren.

4. Die „bösen Schlepper-Banden“

Die „Schlepper-Banden“ sind ein Symptom schlechter europäischer Asylpolitik und werden durch die willkürliche, neue Asylpolitik der britischen Regierung nicht zerschlagen. Sie werden nach wie vor versuchen, den Ärmelkanal mit Geflüchteten zu überqueren, denn die Perspektivlosigkeit der Geflüchteten treibt sie weiterhin auf See und bringt sie damit in Lebensgefahr.

5. Der Mythos der Brexit-Freiheiten

Rechtspopulist*innen haben die steigende Zahl Asylsuchender 2016 politisch instrumentalisiert, indem sie Angst vor der Fremde schürten und Abschottung versprachen. Der von ihnen erzielte Brexit bewirkte genau das Gegenteil: einen Anreiz für Geflüchtete in Großbritannien Asyl zu beantragen. Seither können Asylsuchende, die in der EU abgewiesen wurden, in Großbritannien einen neuen Asylantrag stellen. Aufgrund der Pandemie war die Bereitschaft, Geflüchtete in der EU aufzunehmen, geringer, wodurch die Versuche, über den Ärmelkanal zu fliehen, zunahmen.

22. Juli 2021 Geflüchtete im Schlauchboot auf dem Ärmelkanal, nahe Dover, EN
Foto: Dan Kitwood; Getty Images

Halten wir fest: Finanziell scheint die Umsiedelung keine erhebliche Entlastung für Großbritannien zu bedeuten. Großbritannien hat eine geringere Bevölkerungsdichte und weniger Geflüchtete pro Kopf aufgenommen als Ruanda. Zudem hat Großbritannien weitaus mehr finanzielle Mittel zur Verfügung, um eine humanitäre Versorgung Asylsuchender zu gewährleisten. Mit einer solchen Asylpolitik werden  weder legale noch sichere Fluchtwege geschaffen und die Schlepper werden weiterhin Geflüchtete über den Ärmelkanal bringen.

Johnson warnte davor, dass dieses Asylverfahren vermutlich rechtlich herausgefordert wird und dadurch nicht sofort umgesetzt werden kann. Das wirft also die Frage auf: Will Boris wirklich dieses absurd undurchdachte Asylverfahren in die Tat umsetzen? Oder ist er wegen der anstehenden Wahlen bloß gezwungen, irgendeine regressive Asylpolitik vorzuschlagen, um seine Wahlversprechen einzuhalten? Das potenzielle Scheitern seiner Asylpolitik kann er dann auf politische Gegner schieben, die Spaltung im Land vorantreiben und weiter am rechten Rand nach Wähler*innen fischen. Mal wieder werden Menschen zum Opfer parteipolitischer Agenden und Wahlkämpfe – es geht hier um Image, nicht um Humanität oder soziale Verantwortung. 

Das Outsourcing der Asylverantwortung hat Historie

Großbritannien beauftragt schon seit vielen Jahren private Unternehmen, um sich um Unterbringung, Versorgung und Überwachung von Asylsuchenden zu kümmern. Es gibt Berichte über sexuelle Belästigungen, Gewalt und Vergewaltigungen, die systematisch von Mitarbeiter*innen eines beauftragten Sicherheitsunternehmens begangen und durch mangelnde staatliche Kontrollen ermöglicht wurden.

Asylsuchenden Schutz zu gewähren ist also eine Aufgabe, bei der die Regierung bereits innerhalb des Landes versagte. Mit dem neuen Projekt, Geflüchtete nach Ruanda auszufliegen, outsourcen sie ihre Asylverantwortung, und das, obwohl die UNHCR, die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen, den Transfer von Geflüchteten in Drittländer verurteilt.

Die internationale Resonanz bleibt bisher entweder sehr still oder befürwortet sogar Johnsons Pläne. So auch Dänemark, ein europäisches Land mit sehr strengen Immigrationsrichtlinien, das sich ebenfalls in Gesprächen mit Ruanda befindet. Rechtspopulistische Parteien aus EU-Staaten haben bereits Befürwortung geäußert, so auch der belgische Politiker Tom Van Grieken, Parteivorsitzender der flämischen rechtspopulistischen Partei Vlaams Belang.

Johnson bewirbt sein neues Asylsystem als Vorbild für andere Staaten. Dabei hat das Outsourcing der Asylverantwortung unter Industriestaaten fast schon Tradition. Australien nutzt seit fast zwei Jahrzehnten unter anderem die Insel Nauru, um Asylsuchende dort abzufangen.

Im „Freiluftgefängnis“ Nauru häufen sich psychische Erkrankungen sowie Selbstverletzungs- und Selbstmordversuche, sogar unter Kindern. Aufgrund der systematischen Misshandlung der Geflüchteten durch die privaten Aufseher*innen warf Amnesty International der australischen Regierung im Jahr 2016 Folter vor.

Der Rechtsruck in vielen demokratischen Staaten und der damit einhergehende Fremdenhass bestärken immer mehr Staaten darin, Abschottung vor Integration zu wählen.

Post-Brexit: Was hat das mit der EU zu tun?

Erst 2020 zündeten Geflüchtete das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos an, unter anderem um auf die menschenunwürdigen Lebensbedingungen aufmerksam zu machen. Noch immer leben Tausende Geflüchtete in vergleichbaren Verhältnissen – und das auf EU-Territorium.

Sept. 2020: Menschen fliehen aus dem brennenden Moria // Foto: Petros Giannakouris

Die bewusste Tatenlosigkeit der EU-Asylpolitik zeigt, dass die europäischen Werte anscheinend für alle gelten, nur nicht für farbige Geflüchtete. Denn noch immer stärkt die EU Frontex – den fragwürdigen Grenzschutz-Apparat der EU –, kriminalisiert zivile Seenotretter*innen und sieht seit mittlerweile sieben Jahren aktiv dabei zu, wie jährlich Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken. Die Kooperation der EU mit der libyschen „Küstenwache“ betitelt Völkerrechtlerin Nora Markard sogar als „Beihilfe zu schwersten Menschenrechtsverletzungen“. Denn die libysche Küstenwache inhaftiert viele der „geretteten“ Geflüchteten in Gefängnisse, in denen sie systematische Misshandlung und Folter erleiden sowie zur Sklaverei oder Prostitution gezwungen werden. Inhumane Asylprojekte sowie das Outsourcing der Asylverantwortung ist kein britisches Phänomen, sondern auch in EU-Ländern teilweise Realität.

Die EU-Asylpolitik muss endlich überarbeitet werden, damit Geflüchtete gerecht auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Es ist zwingend notwendig, einen medizinischen und humanitären Standard in Flüchtlingslagern einzuhalten, psychologische Betreuung zur Verfügung zu stellen und die jahrelange Inhaftierung in diesen Lagern zu unterbinden. Als europäische Wertegemeinschaft haben wir uns verpflichtet, Geflüchteten das Recht auf Asyl zu gewähren. Wir müssen dieser Verantwortung nachkommen, indem wir selbst Verantwortung übernehmen.

Hast du gute Ideen? Die europäische Asyl-, Migrations- und Integrationspolitik braucht junge, moderne und humane Erneuerungen. Unterstützen wir die Seenotrettung, errichten sichere Häfen, schaffen Integrationsmöglichkeiten und machen Druck!

Wie du helfen kannst:

*GroßbritannienRuanda
Fläche243.610 km²26.340km²
Bevölkerungszahl (2020)ca. 67 Millionenca. 13 Millionen
Bevölkerungsdichte (2020)277,83 pro km²525,019 pro km²
Anzahl Geflüchteter (2020)132.349139.501
Human Freedom Index (2021)14. Platz von 165 Ländern120. Platz von 165 Ländern
World Democracy Index (2021) 18. Platz von 167 Ländern = volle Demokratie127. Platz von 167 Ländern = autoritär
Boris, merkste selbst, oder?

Achtung! „Hilfe, illegale Einwanderer fluten unser Land“, so oder so ähnlich heißt es in fast jeder rechtspopulistischen Partei, und das ständig. Asylsuchende sind fast immer zunächst illegale Einwander*innen, weil sie flüchten. Jemand der flüchtet hat keine Zeit, ein Visum zu beantragen. Das sich der*die Schutzsuchende erst nach Ankunft im Land bei den Behörden melden kann, ist die häufigste Form von Flucht, Boris! Indem man alle Schutzsuchende als illegale Einwander*innen betitelt, erzeugt das eine Schockwirkung und wird liebend gern von Boulevardjournalist*innen sowie populistischen Politiker*innen missbraucht, um die eigene politische Ideologie zu stützen. Die meisten Geflüchteten melden sich sehr zeitnah nach ihrer Ankunft bei Behörden, um Anträge zu stellen, damit sie keine illegalen Einwanderer*innen sind. Sprache ist also wichtig, denn Sprache kann unsere Wahrnehmung manipulieren.


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Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.