Interview

„Jüdische Traditionen sind lebendig“ – Ein Gespräch über die Feste des Judentums

Kerzen werden für den Feiertag Chanukka angezündet.
An Hanukkah zündet Julia kerzen an und versucht, durch öliges Essen an das Ölwunder zu denken.
Antonia Braun, funky-Jugendreporterin
Julia Kildeeva

Sukkot, Tu biSchevat oder Rosch ha-Schana: Fragt man im eigenen Freundeskreis herum, wissen nur die wenigsten, welche jüdischen Feste sich hinter diesen Namen verstecken. In Deutschland gehören ungefähr 95.000 Menschen der jüdischen Gemeinde an. Julia Kildeeva (23) ist Studentin und Vorstandsmitglied der jüdischen Studierendenunion Deutschland sowie Mitgründerin des jüdischen Studierendenverbandes in Nordrhein-Westfalen. Im Interview verrät sie, wie sie die jüdischen Feiertage in ihren Alltag integriert und an welcher Stelle sie sich mehr Rücksichtnahme gegenüber den jüdischen Traditionen wünscht.

Bezeichnest du dich selbst als religiös?
Ich unterscheide zwischen Glauben und religiös sein. Ich bin gläubig, ich glaube an Gott und aus diesem Grund habe ich im Prozess der Identitätsfindung ein Jahr lang auch streng religiös gelebt. Das heißt, ich habe versucht, die Regeln des Schabbats, des Ruhetags, zu befolgen: Ich habe das Handy ausgemacht, Elektrizität im Allgemeinen vermieden und war zum Beten in einer Synagoge. Eine Zeit lang habe ich auch die orthodox-religiöse Kleiderordnung eingehalten. Ich habe also einen Rock getragen und Oberteile, die Schlüsselbeine, Ellenbogen und Schultern bedeckten. Ich habe über mein Jüdischsein nachgedacht und mich gefragt, ob ich tatsächlich so leben will.

Das Problem war, dass ich danach in eine Gegend kam, wo es kein jüdisches Leben um mich herum gab. Die orthodox-religiöse Umgebung, die ich zuvor kannte und die mir geholfen hat, das religiöse Leben zu erforschen, ist weggefallen. Jetzt bin ich an einem Punkt, wo ich viel Traditionelles, aber weniger Religiöses in meinen Alltag einbringe. Das Judentum ist eine praktizierende Religion und durch mein Gläubigsein möchte ich eine gewisse Praxis in mein Leben einbringen. Es geht darum, ein besserer Mensch für sich und seine Mitmenschen zu sein. Diesen Aspekt nehme ich sehr ernst. Ich würde mich also nicht als religiös, sondern als gläubig und traditionell und auch als orthodox sozialisiert, aber eher liberal lebend bezeichnen.

Wann hast du zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass du jüdisch bist?
Ich bin in Moskau geboren, und als wir nach Deutschland gekommen sind, wurden wir von der jüdischen Synagoge und der entsprechenden Gemeinde aufgenommen. Als Kind war ich auch an jüdischen Feiertagen ein paarmal dort, habe aber nie aktiv wahrgenommen, dass ich Jüdin bin. Dazu kam es etwa 2016, als ich bei der „Lauder Foundation“ Seminare belegte und an jüdischen Sommerferienlagern teilnahm. Das ist eine jüdische Organisation, die versucht, das jüdische Leben weltweit zu beleben. Eine Freundin lud mich ein, für ein Wochenende nach Berlin zu kommen. Dort haben wir gemeinsam Schabbat gefeiert, in unser Jüdischsein investiert, unter jüdischen Menschen gelernt. Ich habe mich weiter in die Thematik eingelesen und das Jüdische in mein Leben integriert.

Was sind die wichtigsten jüdischen Feste, die du feierst?
Ab Ende November haben wir Chanukka, das ist meine Lieblingsfeierwoche. Da zünde ich Kerzen an und versuche, durch öliges Essen an das Ölwunder zu denken. Jom Kippur, das Versöhnungsfest, ist einer der wichtigsten Feiertage, weil man Gott da am nächsten ist. Dann faste ich, habe mein Handy aus und bete. Neben Rosch ha-Schana, dem Neujahrstag, feiere ich gerne Pessach und reinige dann mein ganzes Haus, so gut das in meiner WG mit nichtjüdischen Menschen eben geht. Ich werde alles mit Sauerteig los, denn das soll man nicht in seinem Haushalt haben. Ich esse dann Matzahbrot und denke an den Auszug aus Ägypten, worauf dieser Feiertag zurückgeht.

Jede Woche denke ich auch an den Ruhetag, den Schabbat. Aber auch Purim ist sehr beliebt unter Juden, da wird an die Errettung des jüdischen Volkes aus drohender Gefahr in der persischen Diaspora erinnert. An Tu biSchevat, dem Neujahrsfest der Bäume, schreibt man der Natur eine Bedeutung zu und achtet darauf, dass es ihr und der Umwelt gut geht. Alle Feiertage haben ihre Besonderheit.

Sind jüdische Traditionen am Aussterben?
Ich glaube nicht. Wir haben zwar einen sehr geringen Teil an orthodox-religiösen Juden in Deutschland, aber auch nicht gläubige Juden nehmen häufig die Traditionen mit. Das Ganze basiert auf einer Gemeinschaft, in der Traditionen weitergegeben werden. Auch auf Social Media sehe ich Postings zu den jüdischen Traditionen, die sich in den Alltag einbauen lassen. Deshalb glaube ich, dass jüdische Traditionen noch sehr lebendig sind.

Wissen nichtjüdische Menschen zu wenig über jüdische Traditionen?
Ich bin ein Teil des Projekts „Meet a Jew“ vom Zentralrat der Juden. Wir besuchen Schulklassen und sprechen über das Judentum. Immer wenn ich in den Klassen sitze, bemerke ich, dass viel Wissen fehlt. Das kann am Bildungssystem liegen, manche möchten sich vielleicht auch nicht damit beschäftigen. Aber das Judentum gehört zu Deutschland, es ist sogar älter als Deutschland. Ich glaube, dass jüdische Traditionen nur wenigen geläufig sind. In meinem Alltag bekomme ich auch von Freunden immer wieder Fragen gestellt.

Es ist ja völlig natürlich, dass man sich nicht in allen Bereichen auskennt. Ich würde mir trotzdem wünschen, dass man etwas mehr Sensibilität für jüdische Traditionen entwickelt. Es ist beispielsweise verboten, an jüdischen Feiertagen zu schreiben. Religiöse Juden haben dann Probleme mit Schulen oder Universitäten. Wenn Staatsexamen oder Klausuren auf jüdische Feiertage fallen, können sie an diesen nicht teilnehmen. Das wird vom Bildungssystem nicht berücksichtigt. Letztes Jahr hatte ich eine Klausur an Jom Kippur, das war ein Problem. Nächstes Jahr fallen Staatsexamina auf Sukkot, das Laubhüttenfest. Das ist für mich sehr schwierig.

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