Interview

„Es ist enttäuschend“ – Lema Wardak im Interview über die Solidarität mit Afghanistan

Taliban in Afghanistan auf einem Pickup
Seit der Machtübernahme der Taliban spitzt sich die Lage in Afghanistan weiter zu.

In Afghanistan herrscht eine humanitäre und politische Krise. Die terroristischen Taliban sind wieder an der Macht und die Zivilgesellschaft ist ihnen machtlos ausgesetzt. Gerade in einer Zeit, in der wir uns ohnmächtig fühlen, gibt es Menschen, die handeln, indem sie beispielsweise Demonstrationen organisieren. Lema Wardak ist eine dieser Initiatorinnen. Im Interview spricht sie über gesellschaftliche Solidarität und ihre Enttäuschung über die politischen Entscheidungen.

Omeima Garci, funky-Jugendreporterin

Warum ist es gerade momentan wichtig, auf die Straße zu gehen?
Auch wenn wir aus der Ferne womöglich nicht viel erreichen können, so haben wir doch die Möglichkeit, uns durch die Redefreiheit in Deutschland Gehör zu verschaffen. Bei öffentlichen Demonstrationen kann bestmöglich politischer Druck aus der Bevölkerung heraus aufgebaut werden. Die Stimme des Volkes ist lauter und präsenter, wenn viele sich gemeinsam für ein Ziel engagieren. Gleichzeitig tut es auch gut, sich in irgendeiner Weise zu mobilisieren und sich in der Krise mit Gleichgesinnten zusammenzufinden und das Leid gemeinsam irgendwie zu verarbeiten, ganz im Sinne der Redewendung: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Man fühlt sich weniger taub, hilflos und alleingelassen, als es sonst in den Tagen seit der Machtübernahme der Taliban der Fall gewesen wäre. Wir haben als deutsche Staatsbürger*innen ein Recht auf Meinungsäußerung. Wir sind es denen, die diese Möglichkeit nicht haben, schuldig, weltweit auf ihr Leid aufmerksam zu machen.

Wie sieht für dich gesellschaftliche Solidarität aus?
Gesellschaftliche Solidarität heißt für mich, einen sensiblen Umgang mit Betroffenen zu pflegen. Ich kenne keine*n Afghan*in, die nicht in irgendeiner Weise betroffen ist. Es ist eine Art Kollektivschmerz. Solidarität bedeutet, Betroffenen klarzumachen, dass man sich mit der Situation auseinandergesetzt hat und gerade in schwierigen Zeiten zusammenhalten, sodass keine Abgrenzung stattfindet. Es bedeutet nicht zwingend, jede*n Afghan*in nach der Lage im Land auszufragen, ob man betroffen sei und was denn „… da überhaupt los ist“. Afghanistan befindet sich schon viel zu lange im Krieg, als dass die Lage jetzt überraschend sein könnte. Afghan*innen sind keine Pressesprecher*innen des Landes und sind keinem eine Art Bericht schuldig, wie was wozu führte. Die Kirsche on top wäre natürliche politisches Engagement und der Einsatz für Afghan*innen und Afghanistan.

Was erhoffst du dir durch solche Demonstrationen?
Ich erhoffe mir politischen und vor allem öffentlichen Druck aufbauen und auf die aktuelle Lage Afghanistans aufmerksam machen zu können. Aufgrund aktueller Geschehnisse gibt es gerade sehr viel mediale Aufmerksamkeit, an die wir anknüpfen können. Gerade auch im Hinblick auf die Bundestagswahlen.

Hast du einen persönlichen Bezug zur politischen Lage und glaubst du, dass diese nötig ist, um sich mit Afghanistan zu solidarisieren?
Bei Afghanistan denke ich an meinen Ursprung. Meine Kultur, aber vor allem an meine Familie, die mir all das nahe gebracht hat, auch wenn sie seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt. Ich denke an meine Großeltern, die noch dort sind, ich denke an meine kleinen Cousinen, die sich nicht nach draußen trauen und nicht mehr zur Schule gehen können. Bevor ich 2012 das erste Mal in Afghanistan war, hat mir ein großer Teil meiner Identität gefehlt, den ich bis dahin nicht mal kannte. Ich habe mich irgendwie heimatlos gefühlt, obwohl ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, obwohl ich die deutsche Schule und Universität besucht habe und deutsche Freund*innen habe. Es war alles immer ein wenig anders. Bis zu dem Moment, wo ich dann in dem Land war, wo alle die Sprache meiner Eltern sprechen. Es war magisch! Es tut mir weh, einsehen zu müssen, dass ich dieses Land und dieses Gefühl von Heimat erst einmal lange nicht mehr sehen kann, dass ich meine Großeltern, vor allem aber meine Mutter ihre Eltern weder sehen noch in Sicherheit wissen kann.

Du hast wahrscheinlich auch Kontakt zu vielen Afghan*innen in der Diaspora. Fühlen diese sich von der deutschen Politik im Stich gelassen?
Es ist enttäuschend. Afghanistan-Expert*innen warnen schon seit Jahren vor dem Machtwechsel und der Lage, die bei einem Abzug der deutschen und amerikanischen Truppen entstehen könnte. Noch im Juni wurde der entsprechende Antrag auf „großzügige Aufnahme afghanischer Ortskräfte“ der Grünen abgelehnt. Die Evakuierung läuft mehr als schlecht. Es kann einfach nicht angehen, dass im ersten Evakuierungsflugzeug sieben Personen saßen, während die amerikanischen Flugzeuge rappelvoll waren. Es ist den US-Amerikaner*innen gelungen, den Menschen Hilfsvisa per SMS zu schicken, im Rennen gegen die Zeit. Und Deutschland? Da ist Sonntag erstmal Ruhetag und danach schauen wir auch erstmal weiter. Aber hey, bitte keinen Druck auf das Auswärtige Amt oder die Verantwortlichen ausüben. Es sterben nur jeden Tag Männer und Frauen, Kinder und weitere Zivilist*innen, weil sie den deutschen Truppen gedient haben. Statt der versprochenen Hilfen kommt nun was? Sie wurden zurückgelassen und wir können nichts dagegen tun.

Hast du einen Appell an unsere Leser*innen?
Mein letzter Appell ist: Informiert euch. Was ist los in der Welt? Was ist los in Afghanistan? Werdet politisch aktiv. Informiert euch über die kommenden Bundestagswahlen. Ich glaube, den größten Einfluss haben wir auf den 26. September, wenn wir alle über die Zukunft Deutschlands und auch die Afghanistans entscheiden. Informiert euch und geht wählen. Lasst uns die Fehler der letzten Jahre bitte nicht wiederholen. Lasst bitte keine weiteren Menschen wegen des Fehlverhaltens Einzelner sterben.

Wie können wir helfen, beispielsweise durch Spenden oder Petitionen?
Zahlreiche Möglichkeiten zu spenden und Petitionen zu unterschreiben findet man online. Seebrücke, Luftbrücke und vieles mehr. Meine Tante selbst hat eine Spendenaktion am Laufen, für Nordafghanistan. Einiges an Input und weitere aufklärende und informative Beiträge versuche ich über meinen Instagram-Account (lemawdk) zu teilen. Wenn ich so nur einen weiteren Menschen erreichen kann, bin ich zufrieden.

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.