Meinung

Zündstoff | Brauchen wir eine Wahlpflicht?

Seit längerem wird immer mal wieder über die Einführung der Wahlpflicht in Deutschland diskutiert. Mit der 20. Wahl zum Deutschen Bundestag im September ist das Thema wieder aktueller denn je. Würde die Einführung einer Wahlpflicht in Deutschland die Demokratie stärken oder sollte jede*r weiterhin selbst entscheiden dürfen, ob er oder sie wählen gehen möchte?

Von Lisa Rethmeier und Hannah Lettl, funky-Jugendreporterinnen

In 27 Staaten der Welt gibt es sie bereits, die Wahlpflicht. Bürger*innen können in diesen Ländern nicht selbst entscheiden, ob sie wählen gehen wollen oder nicht. Verstöße dagegen werden in den meisten Staaten jedoch nicht strafrechtlich verfolgt. In Belgien zum Beispiel wurden trotz Wahlpflicht seit 2003 keine Geldstrafen mehr an Nicht-Wähler*innen verhängt. Anders sieht es in Australien aus, wo die Wahlpflicht bereits seit 1924 besteht. Wenn man als Australierin oder Australier dennoch nicht wählen geht, muss er oder sie beim ersten Mal Fernbleiben eine Strafe von 20 Dollar zahlen. Wer aber wiederholt nicht an Wahlen teilnimmt, muss sogar mit einer Gefängnisstrafe rechnen.

In Ländern mit einer Wahlpflicht gibt es – wenig überraschend – eine hohe Wahlbeteiligung. In Australien liegt sie seit über 50 Jahren konstant über 90 Prozent. Auch Belgien ist mit knapp über 90 Prozent Wahlbeteiligung der Spitzenreiter in Europa. Spricht eine höhere Wahlbeteiligung aber auch für eine bessere Demokratie? Die Schweiz beispielsweise hat eine lange Tradition als Demokratie, obwohl die Wahlbeteiligung in dem Land vergleichsweise niedrig ist.

Wie sieht es in Deutschland mit der Wahlbeteiligung aus? Bei der letzten Bundestagswahl 2017 gaben 76,2 Prozent der Wähler*innen ihre Stimme ab. Damit stieg die Wahlbeteiligung zum zweiten Mal in Folge. Insgesamt gesehen kommt es aber seit den 1970er Jahren zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung. Wäre es also sinnvoll das Wahlrecht durch die Wahlpflicht zu ersetzten?


„Die Einführung einer Wahlpflicht könnte den Trend der geringen Wahlbeteiligung beenden.“

(Hannah Lettl, funky-Jugendreporterin)

Laut Artikel 20 des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Diese Macht wird in einem demokratischen Staat wie Deutschland überwiegend durch Wahlen ausgeübt, allerdings schon lange nicht mehr vom ganzen Volk: Obwohl die Wahlbeteiligung langsam wieder steigt, lag sie bei der letzten Bundestagswahl 2017 bei rund 76 Prozent. Das heißt, dass knapp jeder vierte Deutsche sein Wahlrecht nicht nutzte. Die Einführung einer Wahlpflicht könnte den Trend der geringen Wahlbeteiligung jedoch beenden. Und Demokratie stärken.

Eine Wahlpflicht würde dafür sorgen, dass alle Bevölkerungsgruppen mitwählen. Derzeit sind Nichtwähler*innen vor allem geringverdienende Menschen. Unsere politische Landschaft gerät dadurch in eine Schieflage. Auch die hohe Wahlbeteiligung von alten Menschen gibt dieser demografischen Schicht im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung unverhältnismäßig viel politische Macht. Doch wählen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In einer repräsentativen Demokratie sollten die Volksvertreter nicht nur einen Teil der Bevölkerung repräsentieren – sondern alle.

Wenn Bürger*innen der Wahl fernbleiben, kommt das meist Parteien oder Gruppen zu Gute, die der*die Nichtwähler*in sonst niemals unterstützen würde. Denn je niedriger die Wahlbeteiligung, desto mehr zählen die abgegebenen Stimmen: Wählen bei einer Wahlbeteiligung von einer Million 1000 Menschen die AfD, dann wiegen diese Stimmen deutlich mehr, als wenn dieselben 1000 Menschen bei einer gesamten Wahlbeteiligung von 40 Millionen die AfD gewählt hätten. Vor allem in Zeiten, in denen der Populismus wächst, ist eine hohe Wahlbeteiligung, die durch die Wahlpflicht erreicht würde, von großer Bedeutung.

Eine Wahlpflicht kann außerdem dazu beitragen, Parteien finanziell zu unterstützen. Je höher die Wahlbeteiligung, desto mehr Geld fließt an die Parteien, denn pro Wähler*in erhält die Partei 83 Cent. Diese sind dadurch unabhängiger von Spenden und müssen weniger Geld für Wahlwerbung ausgeben.

Die Einführung einer Wahlpflicht hat viele Vorteile: Politiker*innen erhalten mehr Legitimation, indem sie größere Teile der Bevölkerung vertreten, alle Bürger*innen nutzen ihr Mitbestimmungsrecht und Parteien werden finanziell unabhängiger. Allerdings muss es dann auch einfacher gemacht werden, zu wählen – zum Beispiel durch mehr Wahllokale, längere Öffnungszeiten oder Online Möglichkeiten. Desweiteren sollte das Angebot für politische Bildung ausgeweitet werden, damit jede und jeder sich das nötige Wissen aneignen kann um in ihrem oder seinem besten Interesse zu entscheiden.


„Die Einführung einer Wahlpflicht verstößt gegen die Grundidee der Demokratie.“

(Lisa Rethmeier, funky-Jugendreporterin)

Klar ist es bedauerlich, dass nicht jede*r von seinem Wahlrecht Gebrauch macht, aber es bringt trotzdem nichts, es den Menschen aufzuzwingen. Ich bin der Meinung: Die Einführung einer Wahlpflicht verstößt gegen die Grundidee der Demokratie. Laut Artikel 38 des Grundgesetztes sollen die Wahlen „frei“ sein. Man sollte also selbst entscheiden dürfen, ob man wählen gehen möchte, oder nicht. Wenn man dazu gezwungen wird, ist das ein Eingriff in den persönlichen Freiheitsbereich und verletzt das Persönlichkeitsrecht.

Auch Nicht-Wählen kann ein politisches Statement sein: So drückt eine niedrige Wahlbeteiligung oft verbreiteten Unmut über die politischen Parteien aus. Gezwungene Wahlen hingegen wären weniger repräsentativ. Wenn politisch uninteressierte oder politisch enttäuschte Bürger*innen zur Wahl gezwungen werden, würden sie vermutlich einfach irgendeine Partei wählen, auch wenn diese gar nicht ihre Interessen widerspiegelt. Es würde im Umkehrschluss nur zu noch mehr Verdrossenheit gegenüber dem politischen System kommen.

Ein weiteres Problem ist, dass Bürger*innen, die unzufrieden mit der Politik sind, aus Frust wahrscheinlich eher extremen Parteien ihre Stimme geben würden, um damit ihren Protest auszudrücken. Eine höhere Wahlbeteiligung verspricht also nicht automatisch eine bessere Demokratie. Von einer Wahlpflicht würden die extremen Parteien profitieren, während die politische Mitte schwächer wird. Womöglich geben Bürger*innen, die zur Wahl gezwungen werden, aber auch einfach einen leeren oder ungütigen Stimmzettel ab. Das hätte dann denselben Effekt wie das Nicht-Wählen.

Auch ist die Verfolgung von Nicht-Wähler*innen nicht verhältnismäßig: Sie würde den Staat viel Zeit und Geld kosten, was sinnvoller investiert werden könnte. Die Wahlpflicht ist kein Allheilmittel gegen die Politikverdrossenheit. Man sollte lieber die Ursachen der geringen Wahlbeteiligung bekämpfen, anstatt Menschen zur Wahl zu zwingen. Oft stecken Probleme dahinter, die durch eine Wahlpflicht nur noch verstärkt werden. Anstatt Bürger*innen zur Wahl zu zwingen und so ihren Unmut gegenüber der Politik noch weiter zu verstärken, sollte mehr Geld und Zeit in die politische Bildung fließen. Nur wer sich mit Politik auseinandersetzt und die Demokratie versteht, kann bei einer Wahl eine vernünftige Entscheidung treffen.


Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.