Nahtoderfahrungen – Ist das Jenseits eine Erfindung unseres Gehirns?

Ein Mann geht durch einen dunklen Tunnel auf den hellen Ausgang zu.
Es gibt verschiedene wissenschaftliche Ansätze, die Nahtoderfahrungen erklären wollen.

Was geschieht, wenn wir sterben? Menschen, die an der Schwelle zum Tod standen, berichten häufig von mysteriösen Erlebnissen: Einem hellen Licht, euphorischen Glücksmomenten, dem Vorbeiziehen des Lebens im Schnelldurchlauf oder dem Schweben über dem eigenen Körper. Aber sind solche Nahtoderfahrungen tatsächlich ein Beweis für ein Leben nach dem Tod? Eine Übersicht über den Stand der Dinge in der Wissenschaft.

Lisa Rethmeier, funky-Jugendreporterin

Eben Alexander fiel am 10. November 2008 in ein tiefes Koma. Die Wahrscheinlichkeit, dass er die seltene Gehirnhautentzündung überleben würde, war sehr gering. Doch Alexander erwachte nach sieben Tagen aus der Bewusstlosigkeit und konnte von den faszinierendsten Nahtoderfahrungen berichten. In seinem Buch „Blick in die Ewigkeit“ hielt er diese fest: Er sei in einer überwältigenden Traumwelt gelandet, in der ihm ein allwissendes Wesen begegnet ist. Die wichtigste Empfindung sei aber „…die bedingungslose Liebe und Akzeptanz“ gewesen, die er verspürt habe. Bis zu diesem Erlebnis war der Neurochirurg ein Mann der Wissenschaft. Jetzt ist er von einer göttlichen Existenz überzeugt. Viele Menschen, die Ähnliches erlebt haben, beginnen nach einer solchen Erfahrung an eine höhere Macht zu glauben. 

Der Tod als Prozess

Spulen wir einige Jahre zurück. Bis zum Jahr 1957 war der Tod eine Einbahnstraße, aus der es kein Zurück gab. Doch dann veröffentlichte der österreichisch-amerikanische Arzt Peter Safar ein Buch, das unser Verständnis vom Tod nachhaltig verändern sollte. Im „ABC of Resuscitation“ erläuterte er, wie Menschen nach einem Herzstillstand wiederbelebt werden können. Der Hirntod tritt nämlich meist erst einige Minuten nach dem Herzstillstand ein. Ärzt*innen waren nun erstmals in der Lage, Tote zurück ins Leben zu holen. Seitdem wird der Tod als ein Prozess begriffen, der in einem bestimmten Zeitfenster sogar aufgehalten und rückgängig gemacht werden kann.

Lebt die Seele nach dem Tod weiter?

1975 veröffentlichte der Philosoph und Psychiater Raymond Moody in seinem Buch „Life After Life“ 150 Berichte von Menschen mit Nahtoderlebnissen. Sein Buch erzeugte große öffentliche Aufmerksamkeit und ebnete den Weg für die ersten Nahtod-Studien. Seit 1975 haben Forscher*innen auf der ganzen Welt nun mehr als 3500 Nahtoderlebnisse ausgewertet. Diese treten vor allem nach lebensgefährlichen Verletzungen wie Herzinfarkten, Schädel-Hirn-Traumata oder schweren Schockzuständen auf.

Pim van Lommel, ein niederländischer Kardiologe, sieht in Nahtoderfahrungen den Beweis, dass der Geist unabhängig vom Gehirn existieren kann: „Das Konzept, dass Bewusstsein und Erinnerungen im Gehirn zu verorten sind, sollte diskutiert werden.“ In seiner 2001 publizierten Studie wertete van Lommel Daten von 350 Patient*innen aus, die nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand wiederbelebt werden konnten. Davon hatten etwa 18 Prozent bewusste Erinnerungen an die Operation und 12 Prozent schilderten Nahtoderfahrungen. Zahlreiche Mediziner*innen sind jedoch skeptisch, ob sich von Nahtoderlebnissen tatsächlich auf ein Jenseits und ein Weiterleben der Seele schließen lässt.

Ein Bewusstsein ohne Gehirn?

Dass es diese Nahtoderlebnisse gibt, ist also allgemeiner Konsens. Wie sie jedoch zustande kommen, bleibt zu klären. Die Reanimationsmedizin beispielsweise beschäftigt sich mit der Wiederbelebung von Patient*innen und könnte langersehnte Antworten auf das Mysterium der Nahtoderfahrungen finden. Erst seit jüngster Zeit gehören auch Erlebnisse von Menschen, die an der Schwelle zwischen Leben und Tod standen, zu ihrem Forschungsbereich. Lange Zeit war die Forschung in diesem Feld nicht gern gesehen. Viele Mediziner*innen sind nämlich davon überzeugt, dass der Geist schlichtweg das Resultat von Hirnchemie sei. Und ohne Gehirn ginge der Geist nirgendwo hin, sondern verschwinde einfach. Aus naturwissenschaftlicher Sicht wird das Bewusstsein dementsprechend vom Gehirn hervorgebracht und kann ohne es nicht existieren.

Ärzte beugen sich über eine Perosn aus der Froschperspektive
Menschen mit Nahtoderfahrungen gaben an, die eigene Reanimation „beobachtet“ haben zu können. © Unsplash

Schon nach 15 Sekunden ohne Sauerstoff sterben unsere Gehirnzellen allmählich ab. Wir können die Umgebung allerdings noch für eine kurze Zeit bewusst wahrnehmen. Einige Forscher*innen sind sogar der Ansicht, dass unser Bewusstsein bis zu drei Minuten nach dem Herzstillstand aktiv ist. Wissenschaftliche Untersuchungen von Nachtoderfahrungen erweisen sich aber noch immer als sehr schwierig. Viele Versuche, Nahtoderfahrungen empirisch nachzuweisen, scheiterten.

Wie fühlt sich Sterben an?

Auch der britische Kardiologe Dr. Sam Parnia forscht in New York an Nahtoderfahrungen und außerkörperlichen Erfahrungen. Von 2008 bis 2012 führte er mit seinen Mitarbeiter*innen ein Experiment durch: Sie legten in die 1000 Zimmer der kardiologischen Intensivstationen Fotos auf die Regale, die vom Krankenbett aus nicht zu sehen waren. Der Gedanke dahinter: Wenn nun Patient*innen bei ihren Nahtoderfahrungen diese Bilder sehen könnten, wäre das der Beweis, dass das Bewusstsein auch ohne Körper existiert. Von 2060 Patient*innen überlebten allerdings nur 330, von denen lediglich 101 in der Verfassung für eine ausführliche Befragung waren.

Am Ende blieb nur ein einziger Patient übrig, der detailliert über seine Nahtoderlebnisse berichten konnte: Ein 57 Jahre alter Brite. Der Mann konnte Erstaunliches berichten: Er sei in einer Ecke des Behandlungszimmers geschwebt und konnte seine eigene Wiederbelebung beobachten. Einen Beweis gibt es hierfür nicht, da er in einem Raum ohne Fotos wiederbelebt wurde. Dennoch hat das Experiment eine Erkenntnis geliefert: Der Patient konnte sich in einem Zeitraum von etwa drei Minuten detailliert an Ereignisse seiner eigenen Behandlung erinnern. Zuvor waren Forscher*innen immer der Ansicht gewesen, dass das Bewusstsein höchstens 30 Sekunden nach dem Herzstillstand weiter funktioniere. 

Gefühle der Euphorie und Glückseligkeit

Über die Empfindungen beim Sterben ist im Übrigen mehr bekannt als über die kontroverse Frage, ob unser Bewusstsein unabhängig von unserem Körper existieren kann. Studien fanden heraus, dass Nahtoderlebnisse häufig mit positiven Gefühlen der Euphorie und Glückseligkeit verbunden werden. Die meisten Menschen beschreiben den Prozess des Sterbens als eine glückliche Phase, auch wenn sie davor unter starken Schmerzen litten. Menschen aus den verschiedensten Kulturen berichten von ähnlichen Nahtoderlebnissen. 

Euphorische Glücksmomente und Lichterscheinungen sind Dr. Parnia zufolge allerdings kein Beweis dafür, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Er ist der Ansicht, dass diese Erlebnisse darauf zurückzuführen sind, dass das Gehirn beim Sterben seine Erinnerungen ein letztes Mal scannt.

funky Instagram Banner

Nahtoderfahrungen – eine Inszenierung unseres Gehirns?

Es gibt weitere Studien, die sich der These von Dr. Parnia anschließen, dass Nahtoderfahrungen bloß eine Inszenierung unseres Gehirns sind. Auch Menschen mit Epilepsie oder unter Drogeneinfluss berichten von Phänomenen, die sich wie Nahtoderfahrungen anfühlen. Außerkörperliche Erfahrungen können laut dem Leipziger Neurologen Birk Engmann auch bei Migräneanfällen, Schizophrenie, Meditation oder Stress ausgelöst werden. Die britische Psychologin Susan Blackmore erklärt Nahtoderfahrungen als Wunschdenken und Selbstbetrug. Die Nahtoderlebnisse würden die letzten Tätigkeiten des sterbenden Gehirns widerspiegeln und könnten dabei helfen, die Angst vor dem Sterben zu minimieren.

Eine Studie der Universität Michigan fand 2013 heraus, dass die Gehirnaktivität von Ratten 30 Sekunden nach Eintreten des Herzstillstands enorm ansteigt. Die Gehirne sind dabei sogar aktiver als bei normalem Bewusstsein. Wenn die Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sind, könnte diese Hyperaktivität im Gehirn die starken Sinneseindrücke bei Nahtoderfahrungen erzeugen.

Sauerstoffmangel als mögliche Ursache

Der Schlüssel zum Verständnis von Nahtoderfahrungen liegt also womöglich in der unzureichenden Sauerstoffversorgung des Gehirns. Der Berliner Neurologe Thomas Lempert erzeugte bei 42 Proband*innen Ohnmachtsanfälle durch Sauerstoffmangel im Gehirn. Die Proband*innen berichteten anschließend von ungewöhnlichen Erlebnissen: Sie gaben an, ein helles Licht gesehen zu haben oder aus ihren Körpern ausgetreten zu sein. 

Unser Gehirn hat einen hohen Energiebedarf an Sauerstoff. Wenn die Sauerstoffzufuhr im Gehirn zusammenbricht, trifft es zuerst die Großhirnrinde: Den Sitz unseres Bewusstseins. Als Folge der Sauerstoffunterversorgung kommt es häufig zu Bewusstseinsveränderungen oder Halluzinationen.
Die anderen Hirnareale auf der Großhirnrinde reagieren ebenfalls auf den Sauerstoffmangel. 

Der Scheitellappen beispielsweise ist zuständig für die Verortung unseres Körpers im Raum und das Erleben der engen Verbindung vom Selbst und dem Körper. Ist dieser allerdings erstmal in seiner Funktion gestört, verändert sich unsere Eigenwahrnehmung: Es kann zu einem Schwebegefühl und den oft beschriebenen außerkörperlichen Erlebnissen kommen.

Auch für das Vorbeiziehen des eigenen Lebens, von dem Menschen mit Nahtoderfahrungen oft berichten, könnte es eine wissenschaftliche Erklärung geben. Der Hippocampus ist für die Speicherung und Aufrufung unserer Erinnerungen zuständig. Ein Sauerstoffmangel kann dazu führen, dass Unmengen an Erinnerungen freigesetzt werden – eine regelrechte Bilderflut.

Selbst der Tunnels mit dem hellen weißen Licht am Ende ist wahrscheinlich nur eine Inszenierung unseres Gehirns. Aufgrund des Sauerstoffmangels kann es Sinneseindrücke nicht mehr richtig verarbeiten. Daher interpretiert es die unkontrollierten Signale der Sehzellen fälschlicherweise als weißen Fleck. Da sich die Augen nicht mehr bewegen, wird ein weißer Kreis wahrgenommen, der zur Mitte hin heller wird.

Also alles nur ein Streich des Gehirns?

Es scheint für die mysteriösen Nahtoderfahrungen also verschiedene Ansätze für wissenschaftliche Erklärungen zu geben. Forscher*innen sind der Meinung, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sie genau nachzeichnen können, wie unser Gehirn Nahtoderlebnisse erzeugt. Vieles spricht dafür, dass unser Gehirn uns in den letzten Momenten unseres Lebens einen Streich spielt. Über den sterbenden Körper ist somit schon einiges bekannt. Wohin aber unser Bewusstsein geht, nachdem wir gestorben sind, wird wohl ein Mysterium bleiben.

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.