Interview

Weisser Ring hilft Opfern von Straftaten: „Oft entsteht zwischen Helfer und Opfer eine ganz besondere Bindung“

Opfer einer Straftat zu werden, kann emotional sehr belastend sein. Seit über 40 Jahren bietet der gemeinnützige Verein "Der Weiße Ring" Betroffenen deshalb Hilfe an - auch über das Telefon.
von Kristina Vasilevskaja, funky-Jugenreporterin
Marion Walsmann
Wer denkt an die Opfer von Straftaten, wenn der Gerichtsprozess gelaufen ist? Mit dieser Frage beschäftigt sich der gemeinnützige Verein Der Weiße Ring. Seit nun schon über 40 Jahren bietet er Menschen, die Opfer von Kriminalität und Gewalt geworden sind, Hilfe an – am Telefon, online und persönlich vor Ort. Marion Walsmann ist seit 20 Jahren Landesvorsitzende des Weißen Rings und wie alle Mitarbeiter des Vereins ehrenamtlich tätig. Im Interview erklärt sie, wie wenig Opfern beigestanden wird und wie viel der Weiße Ring an der Minderung von Kriminalität beteiligt ist

Wie hilft der Weiße Ring Opfern von Gewalttaten? 
Zu uns können alle Menschen kommen, die jeglicher Gewalt oder auch Kriminalität ausgesetzt waren. Dabei bedarf es keiner Anzeige oder einer gesetzlichen Straftat. Die Person wird dann von einem unserer Helfer betreut und erhält Hilfe in verschiedenen Formen: Das kann die Begleitung zum Gericht sein oder aber auch die Bearbeitung von bürokratischen Angelegenheiten – zum Beispiel, wenn jemand verstorben ist.

Wie läuft das dann ab? Wie kann ich den Weißen Ring kontaktieren? 
Das geht zum einen durch unser bundesweites Opfertelefon (116006) oder über eine unserer Geschäftsstellen, die es in jedem Bundesland gibt. Auch über die Online Beratung wird man zu einem Ansprechpartner weitergeleitet, mit dem man sich dann an einem neutralen Ort trifft und zuerst ein Gespräch sucht. In diesem Austausch werden erste Vorgehensschritte und mögliche Hilfestellungen des Weißen Rings besprochen.

Jeder Fall wird also wie ein Einzelfall betrachtet? 
Ganz genau, wir suchen auch immer einen passenden Opferhelfer für entsprechende Fälle und Personen aus. Das machen wir nach Gefühl, damit sich die betroffene Person wohlfühlt, denn häufig entsteht zwischen dem Helfer und der Person eine ganz besondere Bindung. Da verläuft die eine oder andere Trennung nicht ganz ohne Tränen.

Das klingt wirklich toll, wie lange wird man denn betreut? 
Das liegt ganz bei der Hilfe suchenden Person. Wir betreuen so lange, bis gesagt wird, „so, jetzt kann ich auf eigenen Beinen stehen“. Das kann teilweise auch Jahre dauern, da Straftaten die Betroffenen oft noch später beschäftigen und dieser Verarbeitungsprozess viel länger dauert, als man es erwartet. Man muss sich vorstellen: Der Täter plant seine Tat, er ist darauf vorbereitet, für das Opfer hingegen ändert sich das gesamte Leben schlagartig innerhalb eines Moments.

Das stimmt. Häufig werden Opfer ja auch außer Acht gelassen.
Genau aus diesem Grund heraus hat sich der Weiße Ring gegründet. Ein Journalist hatte über eine Straftat berichtet und deren Folgen für das Opfer dokumentiert, denn Medien und auch das Gericht sind nur auf Täter fokussiert. Wir wollen das ändern, deshalb sind wir auch sehr stolz darauf, staatlich unabhängig zu sein, da wir die Entscheidungen des Staates kritisch betrachten und Gesetzesvorschläge sowie Stellungnahmen einreichen. Gäbe es den Weißen Ring nicht, wäre Stalking zum Beispiel noch immer keine Straftat.

Das ist unfassbar, wo doch Stalking mittlerweile als klares Verbrechen gilt. 
Außerdem haben wir eine App entwickelt, die es Betroffenen von Stalking ermöglicht, Beweise zu sammeln, um alles für die Gerichtsverhandlung zu dokumentieren. Häufig scheitert es nämlich daran, nicht genug Beweise vorzeigen zu können.

Leider kommt es ja nicht in allen Fällen zu einer Gerichtsverhandlung, das fühlt sich sicher wie eine offene Wunde an und man denkt, dass es vielleicht kein gravierendes Verbrechen war. 
Ja, vor allem bei sexueller Gewalt und Missbrauch werden keine Anzeigen gemacht, da sich die meist betroffenen Frauen denken, dass kein Gesetzesverstoß vorliege. Oder sie schämen sich und haben Angst, nicht ernst genommen zu werden. Es wird als normal abgetan, auch von den Betroffenen, obwohl es nicht in Ordnung ist.

Auch Kindesmissbrauch und häusliche Gewalt werden oft nicht angezeigt. Haben Sie im Zusammenhang mit dem ersten Lockdown einen Anstieg häuslicher Gewalt bemerkt? 
Wir können das noch nicht feststellen, da die Statistik dazu erst Ende des Jahres da ist, aber uns wurde von Mitarbeitern schon mitgeteilt, dass häusliche Konflikte zunehmen, Kindesmissbrauch steigt ebenfalls an. Das ist eben so eine Phase, in der Familien sehr abgeschlossen sind. Wir haben auch den Verdacht, dass dieser Lockdown ausgenutzt wird, um Kinder auch über das Darknet sexuell zu missbrauchen. Davor warnen wir immer, denn das Internet birgt neben Vorteilen auch Gefahren. Ich möchte aber betonen, dass nicht nur Eltern oder Erwachsene sich an uns wenden können, sondern auch Kinder und Jugendliche jeden Alters. Wir helfen vermehrt auch bei Mobbing sowie Cybermobbing, das sollte nicht unterschätzt werden.

Was raten Sie Menschen, die Opfer von häuslicher Gewalt werden? Und wie sollte man sich als möglicher Zeuge, beispielsweise als Nachbar, verhalten?
Zivilcourage zeigen. Das heißt nicht ausspionieren, sondern die Person konkret darauf ansprechen. Wenn Kinder verschreckt oder eingeschüchtert auf Fragen reagieren und blaue Flecken haben, sollte das Jugendamt eingeschaltet werden. Auch die Polizei berät. Der Weiße Ring kann auch ein Ansprechpartner sein. Elementar ist jedoch die richtige Ansprache an die Person. Zum Beispiel: „Ich habe das Gefühl, Sie brauchen Unterstützung, darf ich Ihnen helfen? Wir können den Weißen Ring anrufen, lassen Sie uns eine Lösung finden.“ 

Wir haben in einem anderen Artikel bereits den Nutzen von Trillerpfeifen festgehalten. Gibt es andere Möglichkeiten, in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen, wenn man in eine Notlage gerät?
Schauen, dass man nicht allein ist, wenn man sich verfolgt fühlt, konkret Menschen ansprechen, möglichst schnell hingehen, wo Licht ist. Manchmal kann eine direkte Ansprache helfen – laut und mit fester Stimme sagen: „Ich sehe Sie, ich weiß, dass Sie mich verfolgen, hören Sie auf damit.“ Auch wenn man sieht, dass jemand belästigt wird oder Gewalt erfährt: Nicht weggucken! Viele schauen leider weg, deshalb ist Zivilcourage noch immer eine wichtige und häufig vernachlässigte Angelegenheit. Zivilcourage heißt auch nicht, dass man sich selbst in Gefahr bringen muss. Man kann aus sicherer Entfernung die Polizei verständigen. Man muss kein Held sein, um ein Held zu sein.

Das ist wirklich schön gesagt, dabei sind ja auch die Opferhelfer richtige Helden. Der Weiße Ring bietet ja auch jungen Menschen (18–35 Jahre) eine Ausbildung als Opferhelfer an. Was ist das genau? Und wie ist da die Resonanz bis jetzt? 
Das ist wohl wahr, denn das machen sie in ihrer Freizeit. Wir haben in jedem Landesverband mindestens einen jungen Mitarbeiter, diese sind häufig Studenten im Bereich Kriminologie oder Medizin und bekommen ebenso, wie alle unsere Mitarbeiter, eine Grundausbildung sowie eine ständige Fortbildung. Wir haben als Verein Qualitätsstandards an die Opferhelfer, die erfüllt werden müssen. Unterstützt werden wir auch durch Psychologen, da wir auch mit traumatisierten Menschen umgehen können müssen. Die Rückmeldungen dazu waren immer sehr positiv, denn die jungen Opferhelfer können aus ihrer Ausbildung viel fürs Leben mitnehmen. Durch die Arbeit kommt ja auch viel Dankbarkeit zurück, denn sie nehmen eine wichtige Rolle für die betroffene Person ein. Der Weiße Ring e. V. leistet viel zur Opferbetreuung und beteiligt sich auch an öffentlichen Angelegenheiten. Daneben priorisiert der Verein die Prävention von Kriminalität, indem er zum Beispiel Frauen durch Präventionsangebote bestärkt oder Vorträge in Firmen und Bildungseinrichtungen gibt.  

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.