Interview

Nicht ganz legal: Helena schreibt gegen Geld wissenschaftliche Arbeiten für Studierende

Was für eine Zeit, in der wir leben: Möchte man seine Bachelorarbeit nicht selbst schreiben, kann man jemanden beauftragen, der das für einen übernimmt. Eingereicht wird die Arbeit dann aber unter dem eigenen Namen, ohne den geheimen Verfasser zu erwähnen. Das Ganze nennt sich akademisches Ghostwriting und erfreut sich heutzutage großer Beliebtheit. Im Internet gibt es zahllose Agenturen, die ihre Writer an potenzielle Auftraggeber vermitteln. Um herauszufinden, wie Ghostwriting genau funktioniert und wer die geheimnisvollen Autoren sind, haben wir mit einer Ghostwriterin gesprochen. Unter dem Alias „Helena“ verfasst sie gegen Geld wissenschaftliche Arbeiten für andere. 
Moritz Tripp, funky-Jugendreporter 

Wie kommt man darauf, Ghostwriter zu werden?
Gute Frage, das weiß ich selbst nicht so genau. Wie viele andere Studierende habe ich es nicht geschafft, in meinen sieben Jahren Studium herauszufinden, was ich im Leben mal machen möchte. Nach dem Studium habe ich mich in alle denkbaren Richtungen beworben. Und irgendwann habe ich dann auch mal „Ghostwriting“ gegoogelt. So fing es an – und wuchs dann langsam. Mir wurde recht schnell klar, dass mir die Selbstständigkeit liegt. Und da ich selbst aus der Literaturwissenschaft komme, habe ich mein ganzes Studium über nichts anderes gemacht, als zu schreiben. Das kann ich, das habe ich gelernt und das habe ich auch immer gern gemacht. So blieb ich beim Ghostwriting hängen.  

Wie lange arbeiten Sie schon hauptberuflich als Ghostwriterin?
Etwa vier bis fünf Jahre. 

Und damit kann man seinen Lebensunterhalt verdienen?
Ja, definitiv. Es gibt sicherlich auch viele, die das nebenberuflich machen und ein bisschen am Wochenende schreiben. Aber man kann auch hauptberuflich davon leben. 

Haben Sie schon während des Studiums akademische Arbeiten für andere verfasst?
Nein, während meines Studiums hatte ich noch keine Berührung damit, erst ein Jahr danach. Es gibt tatsächlich auch Ghostwriting-Agenturen, die mit Studierenden zusammenarbeiten. Mit ein bisschen Erfahrung weiß man als Writer aber, dass das keine seriösen Agenturen sind.  

Was haben Ghostwriting-Agenturen für Einstellungskriterien?
Prinzipiell reicht man einfach nur seine Unterlagen ein – also Lebenslauf, Zeugnis und dergleichen. Eine kleine Leseprobe vielleicht noch. Dann bekommt man in der Regel einen Vertrag zurück, unterschreibt diesen und wird irgendwann in den Autorenpool aufgenommen. Die einzige mir bekannte Agentur, die anfangs Telefoninterviews führt, ist Acad Write.  

Sie arbeiten also freiberuflich für verschiedene Agenturen?
Ja, wobei die Anzahl überschaubar ist. Ich habe schon viel ausprobiert und recht schnell gemerkt, wer Projekte gut abwickelt und strukturiert ist und wer nicht. Etwa 70 Prozent meines Auftragsvolumens wickle ich über Acad Write ab, den Rest über andere Agenturen. Zudem habe ich auch einige Direktkunden.

Man kann bei 30 Euro pro Seite anfangen, nach oben hin ist das dann sehr flexibel.

Helena über die Gewinnspanne des Ghostwriting

Welche Arten von Texten verfassen Sie für andere?
Hausarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten. Auch Essays und kleine Motivationsschreiben. Manchmal sind es auch wirklich Bewerbungsschreiben für Unis. Ich komme einfach an jeder Stelle ins Spiel, an der Menschen sich nicht gut schriftlich ausdrücken können, gerne ein höheres Niveau hätten oder einfach keine Zeit haben.  

Sie sagten, Sie kämen aus der Literaturwissenschaft. Sind die akademischen Arbeiten, die Sie verfassen, auch immer in diesem Themenbereich angesiedelt? 
Nicht zwingend. In meiner akademischen Laufbahn habe ich mich mit verschiedensten Fachbereichen befasst: Germanistik, Geschichte, Pädagogik, Psychologie, Theologie. In meinem Studium lag der Fokus außerdem immer darauf, stark interdisziplinär zu arbeiten. Ich würde mich heute zwar nicht an eine ganze Masterarbeit in Theologie wagen, aber kleinere Hausarbeiten in den Geistes- und Kulturwissenschaften sind kein Problem. Es ist ja eine der Grundkompetenzen eines Ghostwriters, akademische Inhalte aufzunehmen, sich das Vokabular anzueignen und darüber zu schreiben.  

Nehmen Sie auch gezielt Projekte außerhalb Ihrer fachlichen Sphäre an, der Herausforderung wegen?
Die Herausforderung muss immer realistisch eingeschätzt werden. Ich schreibe zum Beispiel auch Arbeiten im BWL-Bereich, mit dem ich im Studium nie etwas zu tun hatte. Ich habe mich damit dann etwas befasst und festgestellt, dass ich mich in Bereiche wie Marketing oder Human Resources einlesen kann, sie verstehe und dazu sinnvolle Projekte verfassen kann. An spezifischere Bereiche, wie etwa Steuerwesen, würde ich mich allerdings nie heranwagen – denn als Selbstständige muss ich natürlich auch ökonomisch denken und abwägen: Lohnt es sich, mich in diesen Fachbereich einzuarbeiten? Oder kostet mich das einfach nur zu viel Zeit und am Ende steht mein Honorar in keinem Verhältnis zu meinem Aufwand? 

Wie läuft ein Projekt schrittweise ab?
Wenn man mit einer Agentur zusammenarbeitet, übernimmt diese die Akquise der Kunden. Aufträge werden dann im internen Autorenpool ausgeschrieben und man kann sich darauf bewerben. In der Ausschreibung stehen Informationen zum Themenbereich, Status der Arbeit und – ganz wichtig – zur Deadline. Übernimmt man dann ein Projekt, folgt der Austausch mit dem Kunden. Bei Acad Write etwa steht uns Writern dafür ein anonymisiertes Kommunikationstool zur Verfügung, mit dem man permanent in Kontakt bleiben und sich auch Dateien zusenden kann. Das ist komfortabler als einfach Mails weiterzuleiten, da auf diesem Wege leichter Informationen verloren gehen. Außerdem führen wir initiale Telefonkonferenzen, um die wichtigsten Dinge gleich am Anfang zu klären. Auch das spart eine Menge Zeit.  Dann beginne ich mit dem Schreiben und schicke dem Kunden irgendwann einen ersten Entwurf. Der gibt daraufhin sein Feedback und dann geht es weiter, Stück für Stück und in ständigem Austausch miteinander. Für jeden Entwurf gibt es auch noch mal eine Telefonkonferenz, in der man alles durchspricht und Fragen klärt. Damit die Kunden es auch lernen und es beim nächsten Mal vielleicht selbst hinkriegen. 

Wie lange brauchen Sie für eine 30-seitige Bachelorarbeit?
Das ist unterschiedlich. Den Zeitraum gibt ja im Prinzip der Kunde durch die Deadline vor. Und Menschen kommen in den verschiedensten Stadien der Projekterstellung zu uns: Manche haben noch gar kein Thema gefunden, andere haben ein abgesegnetes Exposé oder eine halbe Arbeit und wieder andere kommen mit einer fertigen Arbeit, mit der sie schon mal durchgefallen sind. Aber pauschal gesagt: Ist ein Projekt sehr eilig, kann ich auch schon mal 30 Seiten in einer Woche schreiben, allerdings dann, ohne Rücksprache zu halten. In der Regel dauert ein Projekt solchen Umfangs etwa einen bis anderthalb Monate, bei regem Austausch.  

Ghostwriting ist nun mal eine Dienstleistung mit Geschmäckle, wie man sagt. Aber je mehr Kundenkontakt ich hatte, desto geringer wurden meine Zweifel.

Helena über die Branche Ghostwriting

Wie viele Aufträge nehmen Sie im Jahr an? Bemerken Sie in den letzten Jahren eine Steigerung der Nachfrage?
Ich bearbeite 90 bis 120 Projekte im Jahr. Da sind dann aber die verschiedensten Sachen dabei, kleinere wie größere Arbeiten. Ich bin selbst nur für einen gewissen Fachbereich registriert und sehe deshalb nicht, wie viele Aufträge insgesamt eingehen. Ich kann nur sagen: Ich habe konstant Arbeit und auch nicht das Gefühl, dass das unbedingt mehr oder weniger wird. Wobei natürlich auch zu erwähnen ist, dass ich mich hauptsächlich in den Geistes- und Kulturwissenschaften bewege; dort lernt man das Schreiben ja als Teil des Studiums. Da werden Ghostwriter natürlich nicht so oft angefragt wie in anderen Studiengängen, in denen Klausuren geschrieben werden und die Studierenden akademisches Schreiben nicht lernen. 

Wie viel verdienen Sie mit einer wissenschaftlichen Arbeit?
Das kann man nicht pauschal sagen. Agenturen bezahlen nach Seitenpreis. Wie hoch der ist, hängt vom Niveau der Arbeit und vom Arbeitsaufwand ab. Man kann bei 30 Euro pro Seite anfangen, nach oben hin ist das dann sehr flexibel. Es macht einen großen Unterschied, ob ich eine kleine Hausarbeit schreibe oder etwa eine Masterarbeit in meinem Fachgebiet, für die ich dann vielleicht noch Primärliteratur lesen und analysieren muss. Das ist ja ein ganz anderer Arbeitsaufwand. Da schwanken wir bei Seitenpreisen dann zwischen 50 und 60 Euro.  

Was für Leute lassen sich ihre Arbeiten schreiben? Viele haben sicher das Klischee des faulen Studenten mit reichen Eltern vor Augen. 
Das kann ich verstehen – die Realität sieht allerdings anders aus. Ich habe pro Jahr vielleicht ein, zwei Kunden, die einfach alles gemacht bekommen wollen und selbst nichts tun. Der Anteil dieser Leute ist aber zumindest in meinem Fachbereich verschwindend gering. Viele Menschen kommen in Notsituationen, weil sie wirklich Hilfe brauchen. Zum Beispiel Mütter, die während des Studiums schwanger geworden sind und es nun einfach nicht schaffen, neben dem Kind noch die Abschlussarbeit zu stemmen. Da bin ich dann fast noch eine psychologische Betreuung, weil diese Kundinnen echt am Limit sind. Oder junge Menschen, die direkt nach dem Studium ins Berufsleben einsteigen und die Abschlussarbeit dann noch schreiben müssen, während sie schon 40 Stunden die Woche arbeiten.  

Haben Sie moralische Zweifel an Ihrer Arbeit? Es handelt sich im Prinzip ja um Hilfe zum Betrug. 
Streng juristisch gesehen könnte ich mich darauf ausruhen, dass am Ende nur derjenige, der die Arbeit abgibt, betrügt. Doch ich hatte am Anfang auch meine Zweifel, gerade weil ich dem universitären System und der ganzen Wissenschaftswelt sehr verbunden war. Ich habe lange darüber nachgedacht und mich moralisch damit auseinandergesetzt. Ghostwriting ist nun mal eine Dienstleistung mit Geschmäckle, wie man sagt. Aber je mehr Kundenkontakt ich hatte, desto geringer wurden meine Zweifel. Denn es kommen einfach Leute zu mir, die tatsächlich meine Hilfe brauchen. Das sind Menschen, mit denen ich mich austausche, mit denen ich zusammen Gedanken entwickle, die an ihren Projekten auch selbst mitschreiben, während ich ihnen helfe. Für mich geht das viel in Richtung Schreibberatung, die die Uni einfach nicht leistet.  

Auch die Agenturen möchten sich ja öffentlich als Hilfesteller präsentieren?
Es ist natürlich schwer, die Sache von außen zu beurteilen. Ich kann generell sagen: Das ist nicht realitätsfern. Es geht bei meiner Arbeit primär um Beratung und Unterstützung. Von meinen Direktkunden weiß ich auch, dass bei einem Projekt immer ein Lerneffekt für sie dabei ist. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass Leute für ihre Bachelorarbeit meine Unterstützung brauchen, für die Masterarbeit dann aber gar nicht mehr kommen oder nur wollen, dass ich ihren Text einmal lektoriere, freue ich mich sehr und sehe, dass sie etwas dazugelernt haben. 

Gehen Sie zum Recherchieren auch in die Uni-Bibliothek?
Natürlich. Ich habe einen Gastzugang zur Bibliothek meiner ehemaligen Uni. Zurzeit leihe ich dort natürlich nichts aus, aber es gibt ja auch Online-Datenquellen. Außerdem habe ich mir mit den Jahren eine eigene kleine Bibliothek aufgebaut, sowohl digital als auch physisch. Und ich habe natürlich noch viel Material aus meinem eigenen Studium. Für mich als Ghostwriterin ist es enorm wichtig, immer möglichst viel an Literatur verfügbar zu haben.  

Erwarten Sie in Zeiten der Corona-Krise einen Anstieg der Nachfrage nach Ghostwriting?
Ich nehme an, dass viele Studiengänge in näherer Zukunft vermehrt auf Hausarbeiten und Essays als Prüfungsform umstellen werden. Daher könnte es sein, dass in den nächsten Monaten viele Studierende Hausarbeiten statt der üblichen Klausuren schreiben werden und dabei Hilfe benötigen. Ich glaube, dass deswegen gerade (telefonische) Schreibberatungen verstärkt in Anspruch genommen werden könnten.

Zur Rechtslage

Eine akademische Arbeit bei einem Ghostwriter in Auftrag zu geben, ist nicht strafbar. Sobald man aber die von jemand anderem verfasste Arbeit als seine eigene einreicht und in der eidesstattlichen Erklärung versichert, man hätte sie ohne Hilfe selbst geschrieben, macht man sich vor dem Hochschulgesetz strafbar. Fliegt der Betrug auf, ist mit einer Exmatrikulation und sogar Bußgeldern zu rechnen. Der Ghostwriter hingegen kann in diesem Fall juristisch so gut wie nicht belangt werden.  

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.