Was ist da eigentlich in Chemnitz los?

Demo in Chemnitz
27.08.2018, Sachsen, Chemnitz: Demonstranten der rechten Szene schwenken Deutschlandfahnen und tragen einen Regenschirm in Deutschlandfarben. Nach einem Streit war in der Nacht zu Sonntag in der Innenstadt von Chemnitz ein 35-jähriger Mann erstochen worden. Die Tat war Anlass für spontane Demonstrationen, bei denen es auch zu Jagdszenen und Gewaltausbrüchen kam. Foto: Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit

Chemnitz in Sachsen steht gerade überall in den Schlagzeilen. Doch einmal der Reihe nach: die Ereignisse in Chemnitz

Von Julia Sauer

Was ist passiert?

Samstag, 25. August:

Chemnitz feiert 875. Geburtstag. Das Stadtfest sollte das ganze Wochenende andauern. Doch in der Nacht zum Sonntag kommt ein 35-Jähriger ums Leben. Es war zu einer Rangelei gekommen. Zwei Tatverdächtige wurden festgenommen. Was diesen ohne Frage traurigen Fall zum Problem für tausende Menschen macht: Die Tatverdächtigen ein Syrer und ein Iraker sitzen mittlerweile in Untersuchungshaft.

Sonntag, 26. August:

Am Sonntagmorgen haben Rechtsextreme über Twitter und Facebook zu Versammlungen in Chemnitz aufgerufen. Am Nachmittag wird aus einer Versammlung eine spontane Demonstration mit circa 800 Teilnehmenden.

Montag, 27. August:

Am Montag kam es wieder zu Demonstrationen – dieses Mal jedoch mit circa 7000 Teilnehmern! 6000 davon hatten sich rund um die rechtsgerichtete Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ gesammelt. Die restlichen 1000 waren dem Aufruf zu einer Gegendemonstration gefolgt. Beide Gruppen sind auch aufeinander getroffen. Denn 600 Polizeibeamte konnten gegen 7000 Leute wenig ausrichten.

Die Rechtsextremen waren aus ganz Deutschland an einem Montag angereist! Daran wird schon deutlich, wie wichtig es ihnen ist, ihre Meinung kundzutun. Schließlich ist der Montag normalerweise ein Arbeitstag …

Wo liegt das Problem?

Durch Demonstrationen können Bürger und Bürgerinnen den Politikern zeigen, was sie beschäftigt. Das ist in Demokratien Gang und Gebe und in Deutschland im Artikel 8 des Grundgesetzes festgehalten. Das allererste Gebot bei Demonstrationen in einer Demokratie ist allerdings Gewaltlosigkeit! Und genau das wurde von den Demonstranten in Chemnitz nicht eingehalten.

Rassistische Demonstranten haben Migranten und Migrantinnen, die Polizei und Pressevertreter mit Flaschen, Steinen und Böllern angegriffen. Auch die Gegendemonstranten haben mit Gewalt reagiert. Insgesamt wurden bei den großen Demonstrationen am Montag sechs Menschen verletzt.

Das sind eigentlich drei Probleme in einem:

  1. Menschen werden bedroht, nur weil sie anders aussehen.
  2. Die Polizei soll eigentlich sichern, dass niemand verletzt wird. Das ist aber schwer, wenn sie selbst bedroht wird.
  3. Die Pressefreiheit ist ein wichtiger demokratischer Grundsatz. Deshalb ist eine Bedrohung von Pressevertretern gleichzeitig auch eine Bedrohung der Demokratie.

Zudem haben einige Demonstranten den Hitlergruß verwendet. Im Strafgesetzbuch §86 und §86a steht, dass die Verbreitung von Propagandamitteln ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen verboten ist. Wer sich daran nicht hält, muss mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafen rechnen.  Warum? Wer den Hitlergruß benutzt, der bekundet Sympathie für das dritte Reich.

Warum ausgerechnet Chemnitz?

Von Chemnitz muss man noch nicht gehört haben. Es liegt in einem hinteren Winkel Sachsens und ist leider vor allem für eins bekannt: Rechtsextremismus. Die NSU Terrorzelle hat sich zum Beispiel in Chemnitz organisiert.

In Sachsen sind rechte Bewegungen insgesamt sehr erfolgreich: Bei der Bundestagswahl 2017 wurde die AfD in Sachsen stärkste Partei. Dort hat sie auch bundesweit ihre höchsten Wahlergebnisse bekommen. Bevor es die AfD gab, war Sachsen auch bekannt als NPD-Hochburg. Außerdem veranstaltet Pegida in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden ihre Demonstrationen.

Zusammengefasst: In Sachsen (nicht nur in Chemnitz) gibt es viele Rechte, Rechtspopulisten und Rechtsextreme. Und das nicht erst seit Sonntagmorgen.

Gab es solche Krawalle schon mal?

Im Jahr 2016 gab es bundesweit 970 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte und knapp 2400 Straftaten gegen Flüchtlinge außerhalb der Unterkünfte. Gewalt gegen Migranten und Migrantinnen ist also nichts Neues.

Schon 1991 hatten rechtsextreme Personen die Erfahrung gemacht, dass sie mit Gewalt ihre Ziele durchsetzen können. Sie hatten eine Flüchtlingsunterkunft und eine Unterkunft ausländischer Vertragsarbeiter angegriffen. Die Bewohner beider Unterkünfte wurden kurz darauf in andere Städte außerhalb Sachsens gebracht.

Auch die Größenordnung der Demonstration ist nicht überraschend. 2015 hatten sich beispielsweise 25 000 rechtsorientierte, islamophobe Menschen bei einer Pegida-Kundgebung in Dresden versammelt.

Was nun?

Zunächst müssen die Ereignisse natürlich aufgearbeitet werden und Einzelheiten geklärt werden. Warum hatte die Polizei nur 600 Beamte zur Verfügung? Wie konnten so schnell so viele Menschen mobilisiert werden? Und vor allem: Wie kann man Gewalt in Zukunft besser verhindern? Darum kümmert sich das Landeskriminalamt Sachsen.

Was jeder einzelne ändern kann, das ist der ganz persönliche Umgang mit dem eigenen sozialen Umfeld. Ein bisschen mehr Rücksicht, Verständnis und Toleranz wären schon mal ein Anfang, Widerspruch leisten, wenn der Nebenmann oder die Nebenfrau Ansichten aus einer dunklen Vergangenheit vertritt ebenfalls.

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Updates aus Chemnitz

Haftbefehl im Netz veröffentlicht

Die nächste Straftat folgt sogleich: Am Mittwoch, den 29. August, wurde von Rechtsradikalen der Haftbefehl gegen den Tatverdächtigen veröffentlicht. Lutz Bachmann, Gründer von Pegida, hat ihn um 21:30 auf Facebook gepostet. Die Seite hinter dem Link ist mittlerweile nicht mehr aufrufbar. Auch Pro Chemnitz und der Kreisverband der AfD haben den Haftbefehl geteilt – mit Schwärzung einiger Daten. Andere Rechte haben nichts in dem Dokument geschwärzt.

Warum ist das nun so schlimm? In dem Dokument steht nicht nur der volle Name des Tatverdächtigen, der solange er nicht verurteilt ist, als unschuldig gilt, sondern auch die Klarnamen der Zeugen und der Richterin. Das könnte für diese Personen gefährlich werden, wenn randalierende rechte Gruppen durch die Stadt meutern. Außerdem zeigt das Leck, dass es in der Polizei, der Staatsanwaltschaft, dem Gericht oder unter den Anwälten Sympathisanten der rechten Szene geben muss, die diese Information bewusst gestreut haben. Laut §353 b Strafgesetzbuch wird die Weitergabe solcher Dokumente mit einer Haftstrafe von drei bis fünf Jahren geahnt.

Update 31.08.: Ein Dresdner Justizbeamter hat gestanden, den Haftbefehl geleakt zu haben und ist vom Dienst suspendiert.

#Wirsindmehr

Die Toten Hosen, Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z., Kraftklub, Marteria & Casper, Nura und Trettmann geben am Montag den 3. September unter dem Motto #wirsindmehr ein Konzert am Kopp in Chemnitz. Sie wollen, dass alle die Menschen nach Chemnitz kommen, die von rechter Gewalt, Hetze und rechtem Gedankengut nichts halten und zeigen, dass das mehr Leute sind.

 

Titelbild: 27.08.2018, Sachsen, Chemnitz: Demonstranten der rechten Szene schwenken Deutschlandfahnen und tragen einen Regenschirm in Deutschlandfarben. (c) dpa / Jan Woitas

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.