Junge Leute tanzen zum Sommerhit

Was macht einen Sommerhit zum Sommerhit?

Die funky-Leser haben über ihre Sommerhits 2018 abgestimmt. Knapper Sieger: „Je ne parle pas français“ von Namika. Warum?

Laut Wikipedia ist der Sommerhit „ein Ausdruck der Musikindustrie für einen Song der Unterhaltungsmusik, der von vielen mit dem Sommer eines Jahres assoziiert wird und der im Radio auf und ab läuft, sodass er schlicht bekannter ist als andere Lieder derselben Saison“. So weit, so klar. Doch was macht einen Hit zum Sommerhit – also nur für diese Jahreszeit?

Die frühen Sommerhits hatten tatsächlich auch inhaltlich mit dem Sommer zu tun. Vor 60 Jahren wurde der erste verzeichnet: „Summertime Blues“ von Eddie Cochran. Auch im Jahr darauf ging es um sommerliche Themen, um genau zu sein, den Bikini. Der „Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini“ war nicht nur ein richtiger Zungenbrecher, sondern löste auch einen Bikini-Boom aus.

Ein Hit, egal ob Sommerhit, One-Hit-Wonder oder einfach nur Chartstürmer, ist nie nur ein guter, eingängiger Song, sondern wird immer auch vom Zeitgeist gemacht. „Zeitgeist“, ein Begriff, bei dem sich Wissenschaftlern die Haare sträuben, der aber gut umschreibt, was die Mehrheit der Gesellschaft fühlt, wie sie drauf ist, was ihren Geist zu einer bestimmten Zeit beschäftigt.

„Je ne parle pas français“ von Namika

Der Zeitgeist 2018 ist von Skandalen geprägt, die sich aufbauschen. Ein Foto, eine Entscheidung, ein Satz – und die gesamte Nation steht Kopf. Unser Zeitgeist wirkt bisweilen schwarz-weiß: gut und böse, nah und fern, heimisch und fremd. Es mag nicht recht gelingen, die Grautöne zu sehen. Am deutlichsten wird das beim Thema Migration. Auch noch in einigen Jahren werden wir 2018 mit der Fußball-WM in Russland assoziieren, inklusive der Debatte um Mesut Özil.

In diese Zeit passt Namikas Song über das Sich-Verstehen oder eben Nicht-Verstehen. Der Text basiert auf einer wahren Begebenheit. Namika war in Marokko, machte dort Urlaub, als sie von einem Mann angesprochen wird. Er spricht französisch, sie bekommt die Brocken des Gelernten aus dem Französischunterricht nicht mehr zusammen. Dennoch lässt sie ihn reden, weil die Situation so schön ist. Im Song steht sie auf der Champs-Élysées und erwidert „Je ne parle pas français“ – ich spreche kein Französisch. Immer wieder singt sie davon, dass sie ihn leider nicht verstehen kann, aber es doch so gerne würde. Dennoch finden die beiden ihre eigene Sprache, und so wird ein Liebeslied daraus.

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Fremde Länder und Sprachen, aufregende Momente und ein paar Schmetterlinge im Bauch: Das weckt in so manch einem warme Erinnerungen an die eigenen Urlaubserfahrungen. Oder geht es einfach nur um das Eine? Das legen die Sommerhits der vergangenen Jahre nahe: „Despacito“ beschreibt, wie er sie langsam um seine Finger wickelt – jugendfrei ausgedrückt –, und in „Don’t Be So Shy“ geht es ebenfalls um anstehenden Sex.

Tanzbar

Doch es kommt nicht nur auf den Inhalt an. Auch Rhythmus, Melodie und Beat spielen eine entscheidende Rolle. Um es kurz zu fassen: Es muss irgendwie tanzbar sein. Während es jedoch beim „Ketchup Song“ noch eine Anleitung zum Tanz im Musikvideo gab, muss man bei Namika etwas kreativer werden. Da Tänze in paralleler Reihe aber eh out sind, passt auch das zur Zeit. Wer würde schließlich heute noch zu Macarena den albernen Tanz tanzen? Niemand. Wir sind schließlich alle so fürchterlich individuell. „Macarena“ war übrigens offizieller Sommerhit des Jahre 1996.

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Rhythmus und Melodie sollten aber auch nicht zu komplex sein. Die Masse ist, aus welchen Gründen auch immer, eher für das immer Gleiche zu haben. Und so kommt es auch, dass eine Studie der University of Huddersfield bei der Ermittlung des Ohrwurm-Quotienten herausgefunden hat, dass der Abstand des höchsten und tiefsten Halbtons und die Anzahl der Akkorde entscheidend seien.

Einfach

Hermann Rauhe, Musikwissenschaftler, hat es im Jahr 1995 im Gespräch mit dem „Spiegel“ noch einfacher beschrieben: Es sei der „Schein des Bekannten“, der einen Song zum Ohrwurm macht. Dieser würde erreicht, wenn das Motiv nur aus drei Tönen bestehe und sich häufig wiederhole. Die Kunst bestehe dann darin, auch für Überraschungsmomente zu sorgen. „In der Dosierung von Vertrautheits- und Überraschungseffekt liegt das Erfolgsgeheimnis.“ Überraschen könnte in „Je Ne Parle Pas Francais“ die Passage, in der Namika nur „oh la la la“ singt. Orientalisch mag das fürs europäische Ohr klingen. Ein Verweis auf ihre marokkanischen Wurzeln und unsere Sehnsucht nach der Fremde.

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Der Ohrwurm-Quotient beschreibt aber nicht nur die musikalische Seite, sondern zum Beispiel auch die Menge an Geld, die eine Plattenfirma in einen Song steckt, um ihn berühmt zu machen. Auch wir wurden über eine Presseagentur auf das neue Album von Namika aufmerksam und haben daraufhin mit der Sängerin gesprochen. Nun schreiben wir über Sommerhits, insbesondere das Lied von Namika – was auch das Ergebnis von gutem Marketing ist. Denn es müssen nur ausreichend Menschen den Songtitel in Verbindung mit dem Wörtchen Sommerhit nennen beziehungsweise hören, dann wird auch ein Sommerhit draus.

Oder ist es doch „Bella Ciao“

Reichlich Presse bekommt auch der Song, der Namika den Rang ablaufen könnte. Musiker aller Nationen und Altersklassen covern aktuell „Bella Ciao“, darunter der deutsche Star Mike Singer, der anonyme französische Produzent El Profesor und Hugel sowie der brasilianische DJ Alok. Und die halbe Welt singt wie eine Horde Lemminge „Bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao“. Lied und Text sind alt, richtig alt. Reispflückerinnen haben es Anfang des 20. Jahrhunderts gesungen, als Klage über die harten Arbeitsbedingungen unter greller Sonne. Sie besingen die Freiheit, die sie eines Tages haben werden.

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Wirklich bekannt wurde das Lied aber erst während des Zweiten Weltkrieges. Die italienische Widerstandsbewegung gegen den Faschismus adaptierte die Hookline und ein unbekannter Autor schrieb einen Text über die heldenhaften Partisanen drum herum. In linken Kreisen gehört es noch immer zu den Kampfliedern. Nun singen es alle, wohl auch wegen der Netflix-Serie „Haus des Geldes“, in der es mehrfach angestimmt wird.

Welcher Song wann und warum durch die Decke geht, ist also von vielen Faktoren abhängig, besonders jedoch wird ein Sommerhit von denen gemacht, die ihn so nennen. Mal schauen, ob wir in ein paar Jahren an 2018 denken und „Je Ne Parle Pas Francais“ trällern – oder doch „Bella Ciao“.

Als ich mit der Schule fertig war, wollte ich nur einen Job, der mir nie langweilig wird. Die Kulturszene, dachte ich mir, ist doch eine Szene voller Wandel. Deswegen habe ich Kulturarbeit studiert. Später habe ich festgestellt, dass es im Journalismus noch mehr Abwechslung gibt, weil man stets auf der konkreten Suche nach den neuen heißen Themen ist. Doch weil über Vergangenheit und Gegenwart schon so viel geschrieben wird, studiere ich nun Zukunftsforschung und schaue, ganz ohne Glaskugel, in die Zukunft.