Tschernobyl – ein schreckliches Verbrechen

Fenster eines verlassenen Hauses mit eingestaubten Gegenständen
Viele der Überlebenden verloren ihre Heimat und Gesundheit. Das Ausmaß der Katastrophe wird nie vollständig geklärt sein.
Lara Eckstein, funky-Jugendreporterin

Im April lag die Nuklear-Katastrophe in Tschernobyl genau 36 Jahre zurück. Damals sprach man von einer Havarie, also einem Unglück. Heute weiß man, dass die Katastrophe und ihre Folgen weitaus komplexere Ursachen haben. Wie konnte es dazu kommen und warum ist Tschernobyl auch heute noch hochrelevant?

Was passierte am 25./26. April 1986?

Vorab ist es wichtig zu erwähnen, dass die Abläufe der Katastrophe und dessen Maßnahmen nicht vollständig dokumentiert wurden, weshalb bestimmte Details bis heute ungeklärt sind. Dennoch findest du hier eine grobe Rekonstruktion der Ereignisse:

In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 ist der Test eines neuen Reaktors angedacht, bei dem dessen Leistung im Falle eines Stromausfalls überprüft werden soll. Der vierte Reaktor des Kraftwerks soll dabei auf ein Viertel seiner Leistung heruntergefahren werden. Aus bis heute ungeklärten Gründen sinkt diese jedoch plötzlich auf weniger als ein Prozent. Eigentlich müsste der Reaktor nun sofort ausgeschaltet werden, da er auf diesem Niveau leicht außer Kontrolle geraten kann. Dennoch fahren die Arbeiter die Leistung unter Anweisung des Schichtleiters wieder hoch, wodurch der Reaktor nach einer halben Stunde unter sehr geringer Nennleistung läuft und sich damit in einem instabilen Betriebszustand befindet. Der geplante Test wird trotzdem durchgeführt, während sämtliche Sicherheitssysteme ausgeschaltet und zu wenig Kühlpumpen eingeschaltet sind. Als der Druck im Reaktor 36 Sekunden nach Beginn des Tests rapide steigt, versucht der Schichtleiter eine Notabschaltung – doch es ist bereits zu spät.

Durch das Ignorieren der Sicherheitssysteme, mehrere Bedienungsfehler und einen Konstruktionsfehler im Reaktor, steigt dessen Leistung innerhalb von Sekunden auf das Hundertfache, was zur Kernschmelze und kurz darauf zu zwei Explosionen führt. Diese reißen die über 3.000 Tonnen schwere Reaktordeckplatte ab und legen diesen komplett frei. Wolken aus radioaktiven Gasen und Schutt schießen nun ungehindert zwischen sieben bis 15 Kilometer hoch in die Atmosphäre. Zusätzlich fängt der Graphitblock im Reaktorkern Feuer, wodurch radioaktiver Rauch und Staubpartikel über hunderte Kilometer weitergetragen werden.

Der zerstörte Reaktorblock 1986. Quelle: www.sueddeutsche.de

Post-Explosion und die unmittelbaren Folgen

Das Atomkraftwerk Tschernobyl befand sich nahe zu Pripyat, einer damals 50.000 Einwohner*innen großen Stadt, etwa 200 Kilometer nördlich von Kiew. Hier lebten vor allem die Arbeiter des Werks und ihre Familien. Bereits einige Stunden nach der Katastrophe ist die Strahlung dort um das 600.000-fache des normalen Wertes gestiegen. Stunde um Stunde erhöht sie sich weiter.

Eigentlich hätten die Menschen nach solch einem Unfall sofort evakuiert werden müssen, um gesundheitliche Schäden einzudämmen – doch die Evakuierung wird nicht eingeleitet und die Bürger*innen sind zunächst ahnungslos. Die Verantwortlichen verschweigen ihnen die Informationen. Erst 36 Stunden nach der Katastrophe werden die Menschen aus Pripyat, die nur vier Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt liegt, evakuiert.

Währenddessen melden die ersten Länder in Europa eine ungewöhnlich hohe Strahlung und vermuten bereits einen Atomunfall in der Sowjetunion. Erst am Abend des 28. Aprils bestätigt die Tass, die einzige Nachrichtenagentur in der UdSSR mit internationalem Nachrichtenaustausch, das Unglück in Tschernobyl. In vielen weiteren europäischen Ländern misst man schon wenige Tage nach der Katstrophe eine erhöhte Strahlung und trifft Vorkehrungen, wie zum Beispiel Lebensmittelkontrollen.

In den darauffolgenden Tagen werden hunderttausende Helfer*innen aus der Sowjetunion, Liquidator*innen genannt, ohne wirksame Schutzkleidung zum Werk gesandt, um dort aufzuräumen und den Brand zu löschen. Vielen von ihnen wird der wahre Grund ihres Einsatzes verschwiegen – ein Vorwand ist beispielsweise der vermeintliche Einsatz zum Bau von Häusern.

Die Liquidator*innen

Insgesamt sollen es 800.000 bis 1,2 Millionen gewesen sein, darunter viele Wehrdienstleistende. Aus Hubschraubern werfen sie Unmengen an Sand, Blei, Bor und Lehm in den Reaktor, doch der Versuch, den Brand zu löschen, scheitert zunächst. Teilweise herrschen noch in 200 Metern Höhe bis zu 180 Grad Celsius und die radioaktive Strahlung ist so hoch, dass sie nicht mehr gemessen werden kann. Zusätzlich sammeln die Helfer*innen hochkontaminierte Teile des Reaktors auf, die bei den Explosionen in die Umgebung geschleudert wurden, um sie in den brennenden Reaktor zu werfen. Damit befinden sie sich unmittelbar an der Brandstelle und im Epizentrum der atomaren Katastrophe. Die Liquidator*innen sind dabei extrem hoher Strahlung ausgesetzt, weshalb sie sich nicht länger als 45 Sekunden am Reaktor aufhalten dürfen. Doch Richtlinien wie diese werden teilweise umgangen und die Arbeiter*innen sind wesentlich länger an den stark verstrahlten Stellen im Einsatz. Den meisten ist das gesundheitliche Risiko ihrer Arbeit nicht bewusst. Insgesamt dauert der Brand zehn Tage, genügend Zeit, damit sich Unmengen des radioaktiven Materials in ganz Europa verbreitet.

Weitere Probleme tun sich auf: Die glühende Reaktormasse könnte sich durch den Boden schmelzen und kontaminiertes Wasser ins Grundwasser befördern. Auch eine dritte Explosion hätte stattfinden können. Die dadurch entstehenden Schäden wären unvorstellbar gewesen und hätten im Umkreis von hunderten von Kilometern vermutlich jedes Leben ausgelöscht. Die Lösung: Ein Tunnel unter dem Reaktor, der diesen mit Stickstoff kühlen soll. Der unterirdische Gang wird von den Helfer*innen gegraben, die unter enormer Hitze und Strahlung arbeiten müssen. Der Tunnel wird später mit Beton gefüllt, um Stabilität zu erzeugen. So konnten am Ende weitere Katastrophen vermieden werden.

Daraufhin beginnt der Bau des sogenannten Sarkophags, einer Stahlbetonhülle, die den Reaktor umschließt und die weitere Verbreitung radioaktiver Strahlung verhindern soll. Der Sarkophag gilt am 15. November 1986 als fertiggestellt.

Liquidator*innen sammeln Schutt vom Dach des Reaktors. September 1986, Foto von © Igor Kostin/Sygma/Corbis, Quelle: www.spiegel.de

Die Spätfolgen und das ewige Leid

Erst seit dem 4. Mai 1986 sind alle Menschen im Umkreis von 30 Kilometern um das AKW Tschernobyl umgesiedelt. Weitere Umsiedlungen folgen, sodass in den Folgejahren insgesamt ca. 300.000 Menschen evakuiert werden. Sie verlieren ihre Heimat – teilweise für immer.

Das gesamte Ausmaß der gesundheitlichen Schäden lässt sich nur vermuten, da die Sowjetunion mangelnde Protokolle zur Nachverfolgung der Schäden führt und Informationen verschweigt. So sind nur etwa die Hälfte der Namen der Liquidator*innen überhaupt registriert worden. Die ukrainische Journalistin Alla Jarošinskaja findet später Dokumente, die Anweisungen der dritten Hauptabteilung des Gesundheitsministeriums der UdSSR vom 27. Juni 1986 enthalten und veröffentlicht sie 1994 in ihrem Buch „Verschlusssache Tschernobyl“. Eines der Dokumente trägt den Titel: „Über die verschärfte Geheimhaltung bei der Ausführung der Arbeiten an der Beseitigung der Folgen der Havarie im AKW Tschernobyl“. Dieses enthält unter anderem Befehle zur Geheimhaltung von Informationen über den Unfall, über medizinische Behandlungsergebnisse und den Grad der radioaktiven Verseuchung der Liquidator*innen.

Man geht davon aus, dass bis Ende 1996 bereits 25.000 der Liquidator*innen den Folgen der Katastrophe erliegen. Hunderte sterben vor allem an der akuten Strahlenkrankheit, da sie teilweise dem Vielfachen der tödlichen Strahlendosis ausgesetzt waren. Über 90 Prozent der Überlebenden leiden unter schweren Erkrankungen und die Krankheitsrate in den kontaminierten Gebieten in der Ukraine steigt laut dem ukrainischen Gesundheitsministerium um 30 Prozent, im Oblast Gomel in Belarus sogar um 51 Prozent. Vor allem das Vorkommen von Schilddrüsenkrebs ist in allen Altersgruppen deutlich gestiegen. Hinzu kommen weitere Krebserkrankungen, Organschäden und neurologische, genetische sowie psychische Schäden, eine deutlich höhere Säuglingssterblichkeit, etc.

Heute gilt das Gebiet im Umkreis von 30 Kilometern um das Atomkraftwerk als Sperrzone und darf nur bei geführten Touren unter strengen Sicherheitsmaßnahmen besucht werden. Es wird noch tausende Jahre dauern, bis die Zone sicher und frei von übermäßiger Strahlung ist.

Warum ist das Unglück heute noch relevant?

Die Katastrophe von Tschernobyl sorgte europaweit für Angst. Sie hatte zur Folge, dass die Ökobewegung lauter wurde und den Atomausstieg forderte. Dies beeinflusste auch die Politik und veranlasste einige europäische Länder, die Nutzung ihrer Atomkraftwerke zu überdenken. So legte Italien bereits 1986 alle seine Kernkraftwerke still. Nach der Nuklear-Katastrophe in Fukushima im Jahr 2011 beschließt auch Deutschland im selben Jahr den Atomausstieg. Seither wurde im Land kein Atomkraftwerk mehr gebaut und bis Ende 2022 sollen alle Werke außer Kraft gesetzt werden. Anlässlich des Ukraine-Krieges gab es erneute Debatten über eine Verlängerung des Zeitraums, um die Unabhängigkeit von Russlands Energie zu erzielen. Das Bundesumweltministerium spricht sich aber weiterhin klar dagegen aus.

Dennoch plädieren viele Länder für die Notwendigkeit der Atomenergie. „Wir werden unsere Klimaziele nicht erreichen können, wenn unsere Kernkraftwerke stillgelegt werden.“, sagte die amerikanische Energieministerin Jennifer Granholm vor einem Unterausschuss des Haushaltsausschusses des Repräsentantenhauses. Aussagen wie diese sorgen – mit Blick auf die Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima, Umweltschäden durch den Uranabbau und das fehlende Konzept für die Langzeitlagerung von Atommüll – für anhaltende Kontroversen. „Gerade deshalb brauchen wir Menschen aus allen Generationen, die uns mahnen, aus der Geschichte zu lernen – Menschen, die verhindern, dass das Märchen der sauberen Atomkraft wieder geglaubt wird.“, betont Alexandra Struck aus dem Vorstand der BUNDjugend.

Das Leid der Menschen und die bis heute andauernden Folgen dürfen nicht vergessen werden und sollten immer an die ungeheure Gefahr dieser Art der Energiegewinnung erinnern.

Hier findest du eine bewegende Dokumentation über die Schicksale und Geschichten von Betroffenen der Tschernobyl-Katastrophe.

Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.