Meinung

Filmkritik: „Nawalny“

Blick auf einen Kamerabildschirm
Scheinbar unglaublich zeigt der Film die pure Realität.

Auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival in München wurde im Mai der Film „Nawalny“ von Daniel Roher vorgeführt. Der Regisseur portraitiert den wahrscheinlich einzigen Oppositionellen, der für Putin gefährlich werden konnte, nach dem Giftanschlag vom 20. August 2020.

Alicia Homann, funky-Jugendreporterin

Tatsächlich fühlt sich der Film weniger nach klassischer Dokumentation als nach fesselndem Polit-Thriller an. Unter anderem liegt das daran, dass die Geschehnisse, die gezeigt werden, so unglaublich sind, dass sie ohne Weiteres als Fiktion eingestuft werden könnten. Aber auch filmische Elemente wie Kamerafahrten über verschneite Landschaften, mit einem bläulichen Filter versehen und von bedrohlicher Musik untermalt, stützen diesen Eindruck. Allerdings ist das, was erzählt wird, leider schrecklich real.

Nawalny, inzwischen 47 Jahre alt, wurde in der ehemaligen Sowjetunion geboren und ist studierter Jurist. Er war maßgeblich daran beteiligt, die staatliche Korruption in Russland aufzudecken und anzuprangern. 2013 kandidierte er in Moskau für das Amt des Bürgermeisters, 2018 sogar bei der russischen Präsidentschaftswahl.

Im Fokus der Doku stehen allerdings Ereignisse vom 20. August 2020. An diesem Tag flog Nawalny von Tomsk nach Moskau. Auf einem Handyvideo aus dem Flugzeug vom selbigen Tag hört man ihn schmerzvoll stöhnen. Das Flugzeug musste in Omsk notlanden. Anschließend werden weitere Handyvideos gezeigt, unter anderem, wie seine Frau im Krankenhaus nicht zu ihm gelassen wird. Nach langem Hin und Her wurde er nach Deutschland ausgeflogen. Hier wurde festgestellt, dass er vergiftet wurde – mit Nowitschok. Das Nervengift trägt die eindeutige Handschrift des Kremls, da Russland der einzige Ort ist, wo es aktiv hergestellt wird. Dies wird vom Regime vehement dementiert.

Nawalnys Team erhält Unterstützung von dem bulgarischen Investigativ-Journalisten Christo Grozev, der nicht mit menschlichen Quellen, sondern anhand von im Darknet erkauften Informationen arbeitet. Zusammen wollen sie herausfinden, wer den Giftanschlag veranlasst hat.

Was folgt, ist perfektionierter investigativer Journalismus. Absoluter Höhepunkt des Films: Nawalny ruft höchstpersönlich nacheinander die Männer an, die mit seinem Mord beauftragt waren. Im Hintergrund hängt ein Board, wie man es aus den Krimis kennt: Eine Karte von Russland, rote Fäden verbinden verschiedene Punkte und Bilder von Verdächtigen. Ein Chemiker berichtet tatsächlich Detail für Detail, wie sich alles zugetragen haben könnte. Als Zuschauerin sitzt man mit heruntergeklappter Kinnlade in seinem Sessel. Anschließend machen sich Nawalny, seine Assistentin und Grozev vor allem Sorgen um besagten Chemiker – er müsse jetzt wohl seinen Kopf hinhalten. Und sie haben recht: Der Mann ist seitdem spurlos verschwunden.

Die Person Nawalny bleibt unscharf

Nawalny tritt vor allem in der Rolle des Journalisten auf. Er ist Profi in Sachen Medienkompetenz, in den immer wieder eingeblendeten Interview-Sequenzen lächelt er entspannt in die Kamera. Er hat eine eigene Show auf YouTube, auf TikTok ist er auch aktiv. Im Gegensatz zu Putin hat er keine Angst vor der freien Presse und Social Media, er nutzt sie für seine Zwecke. Dennoch bleibt er unnahbar. Am Ende des Filmes ist immer noch unklar: Wer ist eigentlich Nawalny? Was ist seine politische Position? Deutlich wird, dass er sich für eine Demokratie einsetzt, aber wie diese neben freien Wahlen, Presse- und Meinungsfreiheit aussehen sollte, wird nicht definiert. Die Fragen, die der Regisseur stellt, sind zum einen zu wenig kritisch, zum anderen werden sie von Nawalnys Seite geschickt umgegangen. Hier zeigt sich der geübte Politiker, der weiß, wie man sich in Floskeln verliert, ohne überhaupt eine Antwort zu geben.

Letztendlich kehrt Nawalny zurück nach Russland. Das Ende des Filmes zeigt seine Verhaftung. Die große Frage, warum genau er zurückgeht, kann er nicht klar beantworten. Eine andere Sache ist jedoch umso klarer: Dieser Film ist nicht dazu da, Putinanhängerinnen und -anhänger davon zu überzeugen, das Lager zu wechseln. Er zeigt einen Mann im alleinigen Kampf gegen einen autokratischen Staat. Hoffnung und Kraft sind hier die Schlüsselwörter. Die Opposition soll in ihrer Position und Ablehnung gegen den Kreml gestärkt werden. Ganz wie Nawalny es sagt: „Gebt nie auf!“ Er geht als unerschrockenes Vorbild voran, begegnet der Lebensgefahr, in der er schwebt, mit Sarkasmus. Genau das brauchen aber die Oppositionellen in Russland, gerade jetzt, wo jeder Protest sofort im Keim erstickt wird, Kritikerinnen in Angst leben, etwas Falsches zu sagen.

Trotzdem ist es nicht nur ein Film für Russinnen und Russen, sondern auch für alle, die es sich in ihrem westlichen demokratischen Zuhause zu gemütlich gemacht haben. Friedrich Merz muss nicht fürchten, von Scholz‘ Agenten vergiftet zu werden. Wir sollten uns mehr dafür einsetzen, dass das der weltweite Standard ist. Das führt einem „Nawalny“ schonungslos vors Auge, begleitet von (russischem) Galgenhumor.

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