Interview

Der Sozial-O-Mat hilft Erstwählenden bei der Wahlentscheidung

Wahlzettel
Der Sozial-O-Mat hilft Erstwählenden dabei, sich im Parteien-Wirrwarr zu orientieren.
Maria Loheide vor einer bunten Wand
Maria Loheide hält 16-Jährige durchaus für urteilsfähig und befürwortet eine Herabsenkung des Wahlalters. © Diakonie Deutschland

Am 26. September wird gewählt. In diesem Jahr können dabei auch 2,8 Millionen Erstwählende ihren Stimmzettel abgeben und mitentscheiden, welchen Kurs die neue Regierung einschlagen soll. Schließlich wird es in der kommenden Legislaturperiode um wichtige Fragen gehen, die die Zukunft wesentlich beeinflussen: Schaffen wir es, durch gezielte Maßnahmen den Klimawandel einzugrenzen? Wie stellt sich das Gesundheitssystem auf Herausforderungen wie die Corona-Pandemie ein, die auch weiterhin das gemeinschaftliche Leben beeinflussen wird?

Wem im Wahlkampf-Wirrwarr noch die Orientierung fehlt und wer sich fragt, welche Haltung die Parteien zu wichtigen sozialpolitischen Themen vertreten, muss sich nicht durch Hunderte Seiten Wahlprogramm quälen. Stattdessen kann der Sozial-O-Mat der Diakonie Deutschland dabei helfen, die zur eigenen Meinung passende Partei ausfindig zu machen. Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik bei der Diakonie Deutschland, erklärt, warum der Sozial-O-Mat für Erstwählende besonders interessant ist.

Der Wahl-O-Mat hat sich als Wahlentscheidungshilfe etabliert. Warum zusätzlich der Sozial-O-Mat?
Der Sozial-O-Mat war bereits zur Bundestagswahl 2017 und zur Europawahl 2019 in Aktion. Unser Anliegen ist es bei dieser Wahl, die sozialen Themen in den Mittelpunkt zu rücken. Wir wollen erreichen, dass sich Menschen über wichtige gesellschaftliche Fragen Gedanken machen und sich informieren, welche Positionen die Parteien dazu haben. Denn es betrifft uns alle, was in den nächsten vier Jahren in der Sozialpolitik passiert. Ob das nun der Ausbau der Kitaplätze oder die problematische Pflege-Situation ist: Diese Themen wollen wir mit dem Sozial-O-Mat auf verständliche Art und Weise in die Diskussion einbringen. 

Und warum ist der Sozial-O-Mat gerade für junge Wähler*innen geeignet? 
Der Sozial-O-Mat ist für alle Altersgruppen gemacht. Aber gerade für Erstwähler*innen ist er ein super Einstieg, um sich mit der Sozialpolitik der Parteien vertraut zu machen. Er ist einfach zu bedienen, macht Spaß und man kann sich innerhalb von fünf Minuten durch 20 Thesen klicken und zwischen „Zustimmung“, „Ablehnung“ und „Neutral“ auswählen. Am Ende zeigt eine Übersicht, mit welchen der sechs heute im Bundestag vertretenen Parteien die eigene Position am meisten übereinstimmt. Zu jeder These gibt es zusätzlich erläuternde Statements der Parteien und natürlich die jeweiligen Standpunkte der Diakonie.

Welcher junge Mensch liest heute noch freiwillig jeweils 30 bis 35 Seiten Wahlprogramm einer Partei?

Maria Loheide über die Vorteile des Sozial-O-Mats

Die Hoffnung ist, dass junge Menschen sich mithilfe des Sozial-O-Mats mit diesen wichtigen Themen auseinandersetzen. Manches möchte man gar nicht glauben, beispielsweise, dass es 2021 eine Partei gibt, die denkt, Frauen gehören hinter den Herd und die Kinder nicht in die Kita. Aber welcher junge Mensch liest heute noch freiwillig jeweils 30 bis 35 Seiten Wahlprogramm einer Partei? Der Sozial-O-Mat zeigt übersichtlich, wo die Positionen auseinandergehen. 

Der Sozial-O-Mat behandelt die Themenschwerpunkte Arbeit, Gesundheit, Familie und Kinder sowie Migration. Warum diese?
Wir sind nach den zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen gegangen. Das ist beispielsweise die Existenzsicherung und Mindestlohn-Frage, gerade in der Pandemiezeit, wo viele in Kurzarbeit gegangen sind und vielleicht sogar ihre Arbeit verloren haben. Die Bereiche Gesundheit und Pflege erklären sich von selbst, denn die Pandemie hat wie ein Brennglas auf die Situation von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gewirkt. Viele Menschen beschäftigt es nun, ob ihnen, wenn sie schwer erkranken sollten, überhaupt ein Intensivbett im Krankenhaus zur Verfügung steht.

Natürlich stellt sich mit Blick auf die Situation in den Pflegeeinrichtungen die Frage: Wie geht es mit der Pflege weiter? Werden wir zukünftig genug Mitarbeitende für die pflegebedürftigen Menschen haben? Und schließlich haben wir auch im Bereich der Familienpolitik gemerkt, wie unterschiedlich die Parteien ticken. Wähle ich eine Partei, die ein stark konservatives Familienbild vertritt, oder wähle ich eine Partei, die unterstützt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt die Familienaufgaben wahrnehmen können? Damit muss man sich auseinandersetzen.

Und wie steht die Diakonie mit diesen Themenschwerpunkten in Verbindung? 
Soziale Themen sind unsere tägliche Arbeit. Wir erarbeiten Konzepte und machen konstruktive Vorschläge, wie beispielsweise Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Wir haben eine neue Form der Pflegeversicherung in die politischen Diskussionen und Gesetzesprozesse zur Zukunft der Pflege eingebracht und alternative Varianten vorgestellt. Wir wissen von unseren Beratungsstellen, was arme Familien am dringendsten brauchen, und haben uns für eine bessere digitale Ausstattung eingesetzt, damit die Kinder überhaupt am Homeschooling teilnehmen und teilhaben können.  Der Sozial-O-Mat ist parteipolitisch neutral. Aber man kann, wenn man möchte, auch nachlesen, wie die Diakonie auf die 20 Fragen geantwortet hat, und dies mit den eigenen Antworten vergleichen.  

Der Sozial-O-Mat ist parteipolitisch neutral.

Maria Loheide über den Sozial-O-Mat

Klickt man sich durch den Sozial-O-Mat, fällt auf, dass die meisten Parteien für ein Wahlalter ab 16 sind – abgesehen von CDU und AfD. Wie denken Sie darüber? 
Ich halte die 16-Jährigen durchaus für urteilsfähig und die Herabsetzung des Wahlalters für sinnvoll. Ich finde es sehr wichtig, dass sie ihre Stimme abgeben können und auch gehört werden, insbesondere, weil die demografische Entwicklung ganz klar in Richtung einer Altersgesellschaft geht. Die geburtenstarken Jahrgänge und damit ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler sind mittlerweile über 60. Die Meinung der Jugendlichen hätte mit einem Wahlalter ab 16 mehr Gewicht. 

Warum sind die jungen Ableger der Parteien häufig radikaler als ihre Mutterparteien?
Ich denke, das hat damit zu tun, dass die jungen Organisationen die etablierte Politik, die Abläufe und Positionierungen von teilweise Berufspolitikerinnen infrage stellen. Sie haben andere Vorstellungen, wie Politik und Mitbestimmung funktionieren sollten, und klarere und radikalere Forderungen. Ihnen fehlt die Erfahrung, dass man in der Politik manchmal den Weg der kleinen Schritte gehen und Kompromisse schließen muss. Sich zuerst einmal zu überlegen, was man eigentlich will, und sich klar zu positionieren, finde ich genau richtig. Und dabei auch provokativ zu sein. Das bringen die jungen Ableger der Parteien ein und das ist enorm wichtig, damit Politik nicht einrostet. Ich kann jungen Menschen nur empfehlen, sich politisch zu engagieren und sich zu organisieren, auch in den Parteien. Das macht eine lebendige Demokratie aus. 

Was könnte getan werden, damit sich junge Menschen noch mehr politisch informieren?
Die Institutionen und Orte, an denen sich Jugendliche aufhalten, müssen politische Themen viel lebhafter und lebendiger zum Thema machen, Kandidatinnen und Kandidaten nicht nur in die Schule einladen. Die politische Bildung und Debatten könnten in Vereinen, Jugendclubs und anderen Freizeiteinrichtungen noch viel selbstverständlicher dazugehören. Wichtig ist, dass das Interesse für Politik geweckt wird. Und dazu gehört es, deutlich zu machen, dass die politischen Entscheidungen, die auf Bundesebene getroffen werden, auf mein ganz persönliches Leben Einfluss haben. Und dass ich mit meiner Wahlbeteiligung auch Einfluss habe,  z. B. auf die Zusammensetzung der Regierung. Wenn ich nicht wähle, verpasse ich mitzubestimmen. 

Wo genau ordnet sich die Diakonie im parteilichen Spektrum ein? 
Die Diakonie ist nicht parteipolitisch gebunden. Wir achten darauf, dass die Schwächsten in unserer Gesellschaft nicht untergehen und dass sie sich selber Gehör verschaffen können. Das tun wir aus christlicher Überzeugung und nicht, weil wir irgendeiner Partei nahestehen. 

Als wie politisch nehmen Sie denn die Jugendlichen heutzutage wahr?
Unterschiedlich. Ich habe mich sehr über das starke Engagement im Zusammenhang mit dem Klimawandel gefreut. Ich war als junge Frau in der Friedens- und Frauenbewegung sehr aktiv und habe mich intensiv in die Kommunalpolitik eingemischt. Eine Zeit lang hatte ich den Eindruck, dass die nachwachsende Generation eher unpolitisch ist. Ich finde, dass wir im Moment einen Wandel erleben und die Jugend zunehmend politischer wird. Und sie macht die Erfahrung, dass man beispielsweise durch Freitagsdemonstrationen politischen Druck ausüben kann.

Wie stehen Sie zu der bedingungslosen Kindergrundsicherung? Welche Vorteile hätte diese für Kinder und Jugendliche?
Für eine Kindergrundsicherung setzen wir uns schon sehr lange ein. Es muss unser höchstes Ziel sein, dass Kinder und Jugendliche nicht in Armut leben. Und das kann mit der Kindergrundsicherung erreicht werden. Jedes Kind und jeder Jugendliche würde einen gleichen Betrag bekommen, der deutlich höher als das Kindergeld wäre. Wer unter besonders schwierigen Bedingungen lebt, bekäme Zuschläge für besondere Bedarfe. Die Miete würde gesondert gerechnet, da sie je nach Stadt oder auf dem Land sehr unterschiedlich ist. Vielleicht wird das ja was in der nächsten Legislaturperiode. 

Was erhoffen Sie sich vom Sozial-O-Mat?
Ich hoffe, dass viele Menschen den Sozial-O-Mat nutzen und sich dadurch intensiver mit den Programmen der Parteien auseinandersetzen und wählen gehen. Und es gibt in der Zwischenzeit so viele Ereignisse, die hoffentlich auch das Gefühl auslösen: Ich muss mich darum kümmern, was die Politik da oben macht. Und jede Stimme zählt. Es wird über die Zukunft der jungen Menschen entschieden!

Zum Sozial-O-Mat: https://www.sozial-o-mat.de/