Interview

Medienberichterstattung: „Es geht nur um Extreme“

„Itidal“ ist das Motto des Kommunikations- und Medienwissenschaftlers Tarek Baé. Das Wort kommt aus dem Arabischen und lässt sich mit „Mäßigkeit“ übersetzen. So nennt der 26-jährige nicht nur seinen Podcast, sondern geht in diesem Sinne auch seine journalistische Arbeit an. Wir sprachen mit ihm über die Medienberichterstattungskultur in Deutschland und warum Algorithmen antimuslimische Sentiments befeuern.
Von Tessniem Kadiri, funky-Reporterin

funky: Du nutzt sowohl Twitter als auch Instagram als Plattform für deine Kritik an bestehender Medienberichterstattungskultur. Zum Beispiel schreibst du, dass Medien, die nicht seriös über Gebetsrufe berichten – die zu Coronazeiten in Deutschland ausnahmsweise laut erlaubt sind – Rechtspopulisten bestärken. Welche Rolle spielen Medien für die Meinungsbildung in Deutschland?

Tarek: Ich denke, dass Medien, die als seriös wahrgenommen werden, durch das Beziehen bestimmter Kontextpositionen dafür sorgen, dass Leute aus dem rechten Lager das für sich nutzen und für ihre eigenen Zwecke missbrauchen. Natürlich ist es irritierend, ein Video über eine Moschee in Deutschland zu sehen, der es erlaubt ist, den Gebetsruf laut ertönen zu lassen. Die Geschichte dahinter ist jedoch einleuchtend und sogar motivierend. Wenn man diese Entwicklungen jedoch plump und aus dem Kontext gelöst präsentiert, ist es leicht, ein negatives Bild zu malen. Eine sachliche, umfassende Berichterstattung ist meiner Meinung nach daher unabdingbar.

In einem weiteren Tweet kritisierst du die Nutzung des Bildes einer Moschee in Verbindung mit Corona-Nachrichten und hinterfragst, ob das der Stärkung des islamischen Feindbildes dienen soll. Wo denkst du hat dieses Feindbild seinen Ursprung?

In vielen Fällen wird eine Verbindung zwischen Moscheen und negativen, zusammenhangslosen Narrativen aufgebaut. Wenn man Medien analysiert kommt man zu dem Schluss, dass vieles auf Algorithmen basiert. Die Wahl der Bilder und Überschriften hat etwas damit zu tun, dass es berechenbar ist, dass diese Art von Inhalten gut ankommt. Durch Klicks merken wir daher, dass antimuslimische Sentiments in den Medien gut ankommen. Das Internet merkt sich Erfolge und stuft den Beitrag automatisch höher ein. Diesen Teufelskreis müsste man gezielt durchbrechen, indem man andere Bilder und Wortfolgen nutzt.

Wenn ein Verschwörungstheoretiker 60-minütige Videos mit Fake-Fakten machen kann und Leute sich das anschauen, dann kann man das auch in seriös machen.

Tarek Baé über seriösen Journalismus

Journalisten schreiben für ihre Leser. Es ist allerdings so, dass viele Migrant*Innen und Menschen mit Migrationshintergrund Mainstream-Medien wie die Zeitung oder die Tagesnachrichten im deutschen Fernsehen nicht so kontinuierlich konsumieren wie ihre Mitbürger*Innen. Was sagst du Menschen, die argumentieren, dass es deswegen verständlich ist, dass die Berichterstattung an dieses Publikum und deren Wünsche angepasst wird?

Wir haben ein grundsätzliches Problem mit Ehrlichkeit, was unsere aktuelle Mediensituation angeht. Die meisten Medien werden durch Senioren repräsentiert. Der Altersdurchschnitt des ARD ist weit über 50 und sogar bei Onlinemedien wie Spiegel-Online liegt dieser sehr weit oben. Das sind Dinge, die verpflichtend offengelegt werden sollten. Schließlich ist das auch nichts Schlimmes. Die jüngere Generation informiert sich ebenfalls, und zwar online. Wir befinden uns also gerade in einem Umbruch. Allerdings finde ich, dass eine Zielgruppe älterer Menschen ohne Migrationshintergrund es für ein Medium erst recht unabdinglich macht, seriöse Stimmen zu nutzen. Besonders ältere Leute sollte man schließlich mit aufgebauschten Ängsten nicht unnötig belangen. Man sollte vielmehr ungehörte Stimmen zu Wort kommen lassen und so eine ganz andere Denkweise ermöglichen.

Der Durchschnittsmuslim fühlt sich in der deutschen Medienwelt nicht vertreten, es werden nur die Extreme abgebildet

kritisiert Medienwissenschaftler Tarek Baé

In einem Interview mit der DITIB Jugend Bayern beziehst du dich auf das Ergebnis einer Forschungsuntersuchung, bei der herauskam, dass im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften überproportional viel über Muslime berichtet wird. Warum ist Journalismus, der Islam und Terrorismus instrumentalisiert, deiner Meinung nach so erfolgreich?

Wir dürfen in diesem Diskurs nicht vergessen, dass Muslime hier in Deutschland vergleichsweise eine sehr junge Geschichte haben. Eine wahrnehmbare Öffentlichkeitsarbeit gibt es noch nicht oder sie ist noch ausbaufähig. Daher besteht auf der einen Seite ein Mangel an Informationen und der Teilnahme am öffentlichen Gespräch, auf der anderen Seite sind Muslime im Stadtbild durch religiöse Symbole, wie das Kopftuch, sehr deutlich erkennbar. Die muslimische Gemeinschaft muss die nötigen Schritte einleiten, um ihren Platz in den Medien zu finden. Medien sollten es als ihre Aufgabe ansehen, diversere Stimmen zu wählen, demokratisch zu berichten und die muslimische Mitte abzubilden. Oftmals werden sogenannte liberale oder andererseits radikale Muslime präsentiert. Der Durchschnittsmuslim fühlt sich dadurch nicht vertreten.

In deinem Podcast „I’tidal“ beschreibst du in der Folge „Der Terror von Hanau und die Fragen danach”, dass erste Berichterstattungen auf Spekulationen basieren. Bei der Hanau-Tat waren diese Spekulationen vor allem die von der „BILD“ vertretenen Thesen zu organisierter Kriminalität und einem Bandenkrieg mit Russen. Wieso waren das die ersten Gedanken bestimmter Medienorganisationen?

Das ist vor allem auf falsche Sprachnachrichten zurückzuführen. Zeitgleich gab es auch Leaks vom Manifest sowie Bildern der Täter. Dass die „BILD“ das Narrativ der Russenmafia trotzdem aktiv gewählt hat, liegt daran, dass sie schon jahrelang so verfährt. Wenn man da schaut, was eines der dominantesten Themen der letzten Jahre war, dann stößt man auf die Klankriminalität. Die „BILD“ schlachtet dieses Thema aus, da es in ihr Konzept passt. Das ist verantwortungslos, weil man sich bis jetzt in rechten Kreisen auf die Berichterstattung der „BILD“ beruft und diese als Fakten darstellt. Diese Bilder einer „Frau mit Kopftuch“, „eines Schwarzen“ oder gerade zu Corona-Zeiten das Bild „eines Asiaten“: Diese Rahmen, die man Menschen gibt, festigen sich im Laufe der Zeit. Das muss man durchbrechen, indem man immer wieder überprüft, was man gerade berichtet und welche Relevanz das hat.

Stereotype Narrative wie die der „BILD“ sind verantwortungslos, weil sich rechte Kreise auf diese Berichterstattung berufen

so Tarek Baé über die Berichterstattung der „BILD“ nach dem Attentat von Hanau

Woran machst du eine gemäßigte Berichterstattung fest?

Ich glaube, dass man die Kluft in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit nicht leugnen kann. Wir haben die eine Seite, die Veränderungen wie die der Corona-Zeit ziemlich bedingungslos akzeptiert. Auf der anderen Seite haben wir einen bemerkenswert großen Block, der alles anzweifelt. Man muss diese gesellschaftliche Differenz zunächst hinnehmen und sich dann fragen, wie diese Lücke geschlossen werden kann. In der aktuellen Pandemie-Situation sollte ergründet werden, inwiefern bestimmte Sorgen über die Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen berechtigt sind. Auf der anderen Seite sollte man klarmachen, warum es nicht angebracht ist, zu Verschwörungstheorien überzugehen. Diese gegenteiligen Meinungen müssen abgewogen werden man muss zu einem Ergebnis kommen. Kein Ergebnis ist dabei auch ein Ergebnis. Diese hintergründige Debatte ist wirklich relevant und ermöglicht das Herausfiltern von extremen Meinungen und Verschwörungstheorien.

Als Medienwissenschaftler kennst du dich mit dem Konstrukt “Medien” gut aus. Gibt es deiner Erfahrung nach ein Medienkonzept, welches Nachrichten so kommuniziert, wie du es gerne sehen würdest?

Es gibt viele Medien, die so berichten. Das ist kein Ausnahmephänomen. Der „New Yorker“ arbeitet in Form von längeren Beiträgen. Größere Medienanstalten, die ohnehin sehr viel auf Reportagen und Dokumentationen setzen, beleuchten zwangsläufig Hintergründe. Dieses Konzept wird nicht einfach aussterben. Im Onlinebereich ist es etwas komplizierter, weil lange Inhalte nicht so gut ankommen. Das kann an der falschen Präsentation liegen. An Formaten wie dem „New Yorker“ oder in Deutschland „Die Zeit“ merkt man jedoch, dass es mit dem richtigen Design und der passenden literarischen Verpackung sehr wohl funktionieren kann. Problematisch kann es auch werden, wenn es immer bei einer Nischenmeinung bleibt. Aber YouTube zeigt uns, dass lange Inhalte massentauglich werden können. Platt ausgedrückt: Wenn Verschwörungstheoretiker 60-minütige Videos mit Fakefakten machen und Leute sich das anschauen, dann kann man das auch „in seriös“ machen.

Der Verfassungsschutz hat als Instanz zur Betrachtung von Extremismus seine Hausaufgaben nicht gemacht, wenn es führende Extremismusforscher nicht berücksichtigt

Tarek Baé über die Entscheidung, den Attentäter Tobias R. nicht als rechtsextrem einzuschätzen

Unabhängig zu welchem Schluss das BKA offiziell kommt, werfen die Untersuchungen dennoch die Frage auf, was man tun muss, um sich für die Einstufung „Rassist“ oder „Nazi“ zu qualifizieren. Eine typisch rechtsextreme Radikalisierung hat Tobias R. nicht durchlaufen, weswegen es anscheinend zweifelhaft ist, ob er als solcher gelten kann. Was denkst du, muss geschehen, damit man einen Menschen als rechtsradikal bezeichnen kann?

Ich glaube, da müssen auch Behörden einfach ihre Hausaufgaben machen. Wenn der Extremismusforscher Olivier Roy als Koryphäe auf dem Bereich zur Genüge erklärt, dass der moderne Extremismus unabhängig von der Herkunft individuell über das Internet funktioniert, dann zeugt es von mangelnder Qualifikation, das nicht zu berücksichtigen. Der Verfassungsschutz als die Instanz zur Betrachtung von Extremismus und der Einstufung von Gefahr scheiterte bereits daran, das Problem richtig einzuordnen. Schaut man sich den Bericht des Verfassungsschutzes der letzten Jahre an, dann werden die über 20.000 rechtsextremen Taten mit 59 Seiten am seltensten behandelt. Den NSU-Morden wird nur eine Seite gewidmet ist. Das kleinste Phänomen ist zahlenmäßig mit 3.000 Taten der islamistische Extremismus, der im Abschnitt „Islamismus und Ausländer“ im Vergleich mit rechtem Extremismus die doppelte Aufmerksamkeit erhält. Diese Unverhältnismäßigkeit ist nicht vertretbar. In Anbetracht der undurchsichtigen Rolle des Verfassungsschutzes während der NSU-Untersuchung ist das Verständnis der Medien, die sich dieser Einstufung lediglich anschließen und die Gefahr von Seiten islamistischer oder auch linker Extremisten als akuter erachten, zumindest nachvollziehbar.

Nach dem Attentat in Hanau ist es verständlich, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund ängstlicher sind. Trotzdem sollten sie sich nicht an den Ängsten festbeißen, denn jeder sollte in Deutschland ohne die Sorge leben können, Opfer eines Anschlags zu werden

schlussfolgert Tarek Baé

Die Opfer von Tobias R. waren vor allem Jugendliche, die gemeinsam Zeit in einer Shishabar verbracht haben. Das ist für viele junge Menschen in Deutschland eine normale Freizeitbeschäftigung, für Heranwachsende mit Migrationshintergrund ist die Shishabar ein Rückzugsort und ein Ort der Zusammenkunft. Was ist für diese Jugendlichen eine gute Message nach so einem erschreckenden Erlebnis?

Ein wichtiges Thema zunächst ist, wie Shishabars in den letzten Monaten verteufelt wurden. In Anbetracht dessen ist es nicht unverständlich, dass der Täter diesen Ort auswählte. Es ist momentan auch verständlich, dass Heranwachsende ängstlich sind. Ich erinnere mich noch an Christchurch und an die folgenden Wochen, in denen man im Gebet stand und diesen Gedanken von „Was ist, wenn das hier passiert?“ nicht ganz loswurde. Die gleiche Vorsicht verspüren Jugendliche nach Hanau auch in Shishabars. Dieses Trauma brennt sich ein und man gewöhnt sich an bestimmte Bilder in der alltäglichen Berichterstattung. Ich beobachte, wie manche Jugendlichen Ängste langsam zu einem Teil ihrer Persönlichkeit machen. Dieses Misstrauen gegenüber der Gesellschaft, in der man lebt, kann sehr gefährlich werden. So etwas schädigt Menschen nachhaltig und sorgt dafür, dass das Gefühl bestehen bleibt, dass man sich an Orten, an denen sie sich eigentlich wohlfühlen sollte, nicht sicher fühlen kann. Ich kann mich noch erinnern, wie ich kurz nach Hanau von Straßbourg nach München gefahren bin und wir an einer kleinen Moschee gehalten haben. Auf den ersten Blick habe ich diese direkt nach Fluchtwegen abgesucht, was völlig absurd ist, weil ich gerade dabei war, mein Gebet zu verrichten und das mein einziger Gedanke hätte sein sollen. Jugendliche sind daher gut beraten, wenn sie sich nicht an diesen Ängsten festbeißen und stattdessen daran arbeiten, medienaffiner und politischer zu werden. Jeder sollte in Deutschland ohne die Sorge leben können, dass gleich ein Verrückter reinstürmt und alle abschießt.

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Meine Mutter sagt immer, dass ich spreche bevor ich nachdenke. Wahrscheinlich schreibe ich deswegen auch so gerne. Manchmal hat man so viele Gedanken im Kopf, dass die richtigen Worte länger brauchen, als der Mund sie ausspricht. Genau diese richtigen Worte versuche ich seit einiger Zeit bei funky zu Papier zu bringen. Zeitungen waren zwar nie mein Ding, aber als ich über die Jugendredaktion gestolpert bin, habe ich eine Zeitung gefunden, die ich auch gerne lese. Deswegen schreibe ich für funky: Damit ich morgens etwas anderes zum Lesen habe, als die Rückseite der Cornflakesschachtel.