100 Jahre Frauenwahlrecht: Wir sind noch lange nicht am Ziel

18 der 37 ersten Parlamentarierinnen vor dem Weimarer Parlament. Foto: Horst Ziegenfusz/ Historisches Museum Frankfurt
18 der 37 ersten Parlamentarierinnen vor dem Weimarer Parlament. Foto: Horst Ziegenfusz/ Historisches Museum Frankfurt
Vor 100 Jahren wurde in Deutschland das Wahlrecht für Frauen eingeführt. Von einer vollständigen Gleichberechtigung der Geschlechter sind wir jedoch noch weit entfernt. Eine Bestandsaufnahme.

Entschlossen, selbstbewusst und auch ein wenig trotzig blicken einem die Frauen um SPD-Politikerin Marie Juchacz auf dem alten Schwarz-Weiß-Foto entgegen. Jahre des Widerstands gegen eine Welt, die sie nicht ernst nimmt, die sie diskriminiert und systematisch unterdrückt, haben deutliche Spuren hinterlassen. Es ist eine Welt, in der Frauen nichts zu sagen haben, bevormundet werden und in der sie sich dem anderen Geschlecht unterordnen müssen. Doch die Anstrengungen haben sich ausgezahlt, denn Marie Juchacz und ihre Genossinnen haben gerade einen historischen Sieg errungen: Sie sind die ersten weiblichen Abgeordneten der deutschen Geschichte.

Am 19. Februar 1919 tritt Juchacz als erste Frau überhaupt vor das Weimarer Parlament und verkündet: „Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“ Im Zuge der Revolutionswirren wenige Monate zuvor hatte die sozialdemokratische Übergangsregierung am 12. November 1918 das aktive und passive Wahlrecht für Frauen eingeführt. (Mehr über die Novemberrevolution erfahrt ihr unter anderem in diesem Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung.)

Ein historischer Moment

Im Januar 1919 war es dann so weit: Erstmalig konnten in Deutschland nun auch Frauen wählen und gewählt werden. Neben Marie Juchacz zogen noch 36 weitere Frauen ins Parlament ein. Das entsprach einer Frauenquote von fast 9 Prozent. Damit hatte das Ringen um Gleichberechtigung jedoch gerade erst begonnen. „Wir wissen, dass hier noch mit sehr vielen Dingen der Vergangenheit aufzuräumen ist, die nicht von heute auf morgen aus der Welt zu schaffen sind“, stellte auch Juchacz in ihrer Rede fest.

Plakat der SPD zu den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung 1919.

100 Jahre nach diesem historischen Moment muss man Bilanz ziehen: Haben wir mittlerweile aufgeräumt? Wie weit sind wir in den letzten 100 Jahren gekommen? Sicher, eine ganze Menge hat sich seit der Weimarer Republik zum Positiven gewendet: Frauen müssen nicht mehr ihren Ehemann um Erlaubnis fragen, wenn sie arbeiten wollen. Frauen haben hohe politische Ämter inne. Sie sind erfolgreich als Wissenschaftlerinnen tätig, als Polizistinnen, Richterinnen und Soldatinnen.

Auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey findet: „Seit 100 Jahren haben Frauen das Recht, zu wählen und gewählt zu werden. Wenn wir in diesem Jahr das Jubiläum des Frauenwahlrechts feiern, schauen wir stolz zurück auf das, was sich Frauen seitdem erkämpft haben.“

Gender Pay Gap: Frauen verdienen weniger als Männer

Doch viele Formen der Benachteiligung existieren weiter. Zum Beispiel verdienen Frauen in Deutschland durchschnittlich 21 Prozent weniger als Männer. „Die Idee vom gleichen Lohn für gleiche oder gleichwertige Arbeit ist noch weit entfernt von der Verwirklichung“, sagt Juristin und Politikwissenschaftlerin Sabine Berghahn. Dieser sogenannte Gender Pay Gap sei „zum Großteil auf strukturelle oder individuelle Diskriminierung von Frauen zurückzuführen“, so die Wissenschaftlerin weiter.

In den meisten Familien ist es noch immer die Frau, die sich – getreu der traditionellen Geschlechterstereotypen – um Haushalt und Kinder kümmert und daher verstärkt in Teilzeit arbeitet. Das bedeutet jedoch nicht nur geringeren Lohn, sondern auch geringere Aufstiegschancen im Job. Dazu kommt, dass Arbeitsfelder wie Kindererziehung oder Krankenpflege, die zu 86 Prozent von Frauen ausgeübt werden, mit einem deutlich schlechteren Verdienst einhergehen als Berufe in Männerdomänen wie dem Ingenieurwesen. Selbstbestimmt eine Karriere aufzubauen, ist für sie um einiges schwerer als für Männer. (In diesem Wikipedia Artikel hier könnt ihr euch detailliert darüber informieren, wie hoch der jeweilige Frauenanteil in den verschiedenen Berufsfeldern ist.)

Unzureichende Gleichberechtigung im Deutschen Bundestag

Und auch in der Politik sind wir von vollständiger Gleichberechtigung noch immer weit entfernt. 100 Jahre nachdem die ersten Frauen ins Parlament einzogen, sind im Deutschen Bundestag die Geschlechter immer noch nicht gleichmäßig verteilt. Nur rund 30 Prozent der Abgeordneten sind Frauen. Helga Lukoschat von der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft hält das für bedenklich: „Wir können nicht davon ausgehen, dass Frauen weniger qualifiziert und weniger politisch interessiert sind als Männer. Sie haben aber ganz offensichtlich Zugangshürden zu überwinden, sowohl bei der Mitgliedschaft in den Parteien als auch beim Aufstieg im politischen System.“

„Frauen werden abgewertet, nach dem Äußeren beurteilt und mit zweierlei Maß gemessen“

In der Politik spielen chauvinistische Sichtweisen noch immer eine Rolle, kritisiert Helga Lukoschat.

Laut der Politologin bestehen noch immer gravierende, strukturell bedingte Benachteiligungen von Frauen. „Das hat zum einen damit zu tun, dass Frauen in der Regel über weniger zeitliche Ressourcen als Männer verfügen, um Parteiarbeit zu betreiben, sich bekannt zu machen und entsprechend große Karriereschritte zu tätigen.“ Gleichzeitig gebe es aber auch innerhalb der jeweiligen Parteien, „gerade dann, wenn es um attraktive Positionen, wie zum Beispiel Direktmandate geht, immer auch noch mehr oder weniger offene Diskriminierung von Frauen: Man hört ihnen nicht zu, sie werden abgewertet, nach dem Äußeren beurteilt und mit zweierlei Maß gemessen“, erläutert Lukoschat.

Erklären kann man das vor allem damit, dass unser politisches System in einer Zeit entstanden ist, in der Frauen überhaupt nicht in den Entscheidungsprozess miteinbezogen wurden. Im 19. Jahrhundert, in dem die Ursprünge unserer repräsentativen Demokratie von heute liegen, war Politik reine „Männersache“. Das „schwache Geschlecht“ hatte sich vor allem um Familie und das Kinderkriegen zu kümmern. Zu viel Verantwortung, so dachten die meisten (männlichen) Zeitgenossen damals, würde Frauen überfordern und sie nur unnötig von ihrer Haupttätigkeit als Hüterin von Heim und Herd ablenken.

Das alte Klischee von Frauen und Technik

Viele dieser antiquierten Sichtweisen beeinflussen uns auch heute noch in unserem Denken. Besonders gut zeigt sich das in unserer Unilandschaft: „In Fächern wie Physik oder Informatik liegt der Studentinnenanteil weit unter 20 Prozent. Das hat immer noch ganz viel mit gesellschaftlichen Vorstellungen über den Zugang von Frauen zu Technik zu tun – Vorstellungen, die natürlich kulturell konstruiert sind“, erklärt Mechthild Koreuber, Frauenbeauftragte der Freien Universität Berlin.

Selbst in Disziplinen mit einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis begegnen wir aktiver Diskriminierung, wie Koreuber weiß: „Auch in Fächern, in denen es einen Studentinnenanteil von 50 Prozent gibt, wie zum Beispiel den Rechtswissenschaften, ist oft nur ein sehr kleiner Teil der Professuren mit Frauen besetzt.“

„Bei der Einschulung haben Mädchen ein genauso breites Interesse wie die Jungs. Im Laufe der Schulzeit entwickeln sich ihre Interessen aber immer mehr entlang der Geschlechterstereotypen.“

Mechthild Koreuber findet es bedenklich, wie sehr uns Konzepte der traditionellen Rollenverteilung auch heute noch beeinflussen.

Das hierfür zugrunde liegende Denkverhalten fängt jedoch schon in der Schule an: „Wir sehen einen ganz großen Unterschied zwischen Mädchen zu Beginn und zum Ende ihrer Schulzeit. Anfangs haben sie nämlich ein genauso breites Interesse wie die Jungs. Im Laufe der Schulzeit entwickeln sich ihre Interessen aber immer mehr entlang der Geschlechterstereotypen“, kritisiert die Frauenbeauftragte. Mädchen und jungen Frauen rät sie deshalb: „Bleibt neugierig! Verliert nicht das Interesse an Informatik und technischen Disziplinen!“

Immer weiter vorwärtsschreiten

In den letzten 100 Jahren sind wir weit gekommen. Doch wir haben noch immer einen langen Weg vor uns. Marie Juchacz forderte damals, „dass wir den Zug der Zeit nicht aufhalten, dass wir nicht bremsen, sondern immer weiter vorwärtsschreiten.“ Wir sollten uns ihre Worte zu Herzen nehmen, denn nichts von dem was vergangene Generationen für uns errungen haben, hat Bestand, wenn wir den Kampf für Emanzipation und Gleichberechtigung nicht tagtäglich weiterführen.

Dieser Kampf funktioniert jedoch nicht ohne euch, also lasst uns zusammen an einer besseren Zukunft arbeiten! Wie das geht? Schickt uns eure Gedanken zu dem Thema: Ihr habt Ideen dazu, wie man gegen noch bestehende Ungleichheit vorgehen kann? Teilt sie mit uns und schreibt uns eine Mail an: redaktion@funky.de

Titelbild: Historisches Museum Frankfurt/ Horst Ziegenfusz

Als typisches Opfer des „Irgendwas mit Medien“-Syndroms war es für mich seit Langem klar, dass mich mein Weg früher oder später in die Welt des Journalismus führen würde. Zum Glück war in der funky-Redaktion noch Platz für mich. Denn schon immer wollte ich in einem Job arbeiten, in dem ich mich täglich mit neuen Themen beschäftige und dabei immer etwas Neues dazulernen kann. Nachdem mir schon mein Praktikum in der Jugendredaktion sehr gut gefallen hat, freue ich mich jetzt auch als Volontär für funky schreiben zu dürfen.