Interview

So erging es türkischen Gastarbeitern in den Sechzigerjahren

Aufgrund eines Fehlers beim Naehen wurde Hanife in der Fabrik gefeuert (c) Unsplash
Aufgrund eines Fehlers beim Naehen wurde Hanife in der Fabrik gefeuert (c) Unsplash
In den Sechzigerjahren kamen die ersten Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Hanife Yildiz war eine von ihnen. Ich traf sie zum Interview.
Von Can Kleinmanns, Klasse 8a, Schiller-Schule Bochum

Wie kam es dazu, dass sie nach Deutschland gekommen sind?

Damals ging es uns in der Türkei wirtschaftlich schlecht. Es gab kaum eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Für mich war es eine Chance, Arbeit zu finden und meine Familie finanziell zu unterstützen. Mein Vater hatte ein großes Anwesen, doch die Landwirtschaft bracht kaum Geld ein. Es gab keine Maschinen und es war eine körperlich anstrengende Arbeit. Daher witterte ich auch für mich eine Chance, etwas anderes zu erleben.

Wie alt waren sie und was wussten sie über Deutschland als sie hierher gekommen sind?

Als ich hierher kam war ich 18 Jahre alt und ich wusste nicht viel, außer dass Deutschland das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sei. Für jeden gab es gut bezahlte Arbeit. Die türkische Sprache erzählt in Bildern. Übersetzt sagten die Türken über Deutschland: „In Deutschland kann man Honig von der Straße essen“.

Mussten Sie für Ihre Einreise nach Deutschland sowohl in der Türkei als auch in Deutschland gewisse Kriterien erfüllen?

Zuerst brauchte ich alle nötigen Papiere wie zum Beispiel meine Geburtsurkunde und einen gültigen Reisepass, den ich extra für Deutschland beantragt habe. Dies war mit einem hohen Zeitaufwand und vielen Kosten verbunden, da damals auf dem Land die wenigsten Menschen wegen der großen Entfernung zur nächsten großen Stadt überhaupt registriert waren. Das Geburtsdatum wurde damals von den Beamten einfach geschätzt. Meist stimmt also das Geburtsdatum bei der ersten Generation der Gastarbeiter nicht. Zwischen der Türkei und Deutschland gab es außerdem noch ein Anwerbeabkommen für einen befristeten geplanten Arbeitsaufenthalt. Ich war gezwungen, mich in einem Art Zwischenstation in Istanbul von einem extra geschulten Arzt ein Gesundheits- und Arbeitstauglichkeits-Zeugnis ausstellen zu lassen.

Und wurde gefragt, ob du deutsch kannst?

Nein. Die Hauptsache war, dass ich jung, gesund und arbeitswillig war. Deutschkurse wurden nicht angeboten, weil wir, wie der Name schon sagt, Gastarbeiter waren. Die meisten Türken und auch der Deutsche Staat dachten, dass wir Geld verdienen und dann wieder in unsere Heimat zurückkehren, also nur für ein paar Jahre in Deutschland bleiben. Zu Gast also!

„Egal“ war die Antwort, auf die Frage, ob man uns zu viel Arbeit zumutete.

Gastarbeiterin Hanife Yildiz über ihre Arbeitsbedingungen in der deutschen Fabrik

Wohin in Deutschland bist du gekommen?

Ich bin mit der Bahn nach München und von da aus nach Sonthofen, wo bereits ein Teil aus meiner Familie lebte. Nämlich mein Bruder mit seiner Frau, die zuvor diesen Schritt schon gegangen waren und mich dazu ermutigten, dass auch ich hier eine Arbeit finden würde.

Wie lange hat es gedauert bis du arbeiten konntest?

(lacht) Am zweiten Tag, nachdem alle Papiere eingereicht wurden, habe ich in einer Fabrik angefangen, am Fließband zu arbeiten. Diese Stelle hatte bereits mein Bruder, bevor ich eingereist war, für mich gefunden.

War es nicht schwierig, mit nur ein paar Worten Deutsch zu arbeiten?

Allerdings. Die einzigen Worte, die ich mir durch zuhören beigebracht hatte, waren „ja“, „nein“ und „egal“. „Egal“ war die Antwort, auf die Frage, ob man uns zum Beispiel zu viel Arbeit zumutete. Was das Wort tatsächlich bedeutet, erfuhr ich später erst. In der Fabrik in der ich arbeitete, wurden Nylon-Strümpfe hergestellt. Recht aufgeregt passierte mir beim einspannen des Fadens ein Fehler und die komplette Maschine stoppte. Der Vorarbeiter war sauer und fragte mich ob ich schuld sei. Ich antwortete mit „egal“, weil ich die Bedeutung des Wortes nicht wirklich kannte. Ich dachte, ich könnte damit den Vorgesetzten beruhigen beziehungsweise mich entschuldigen. Ich wurde gekündigt (lacht).

Das tut mir leid für dich. Hast du denn auch schöne Erinnerungen an die Anfangszeiten in Deutschland?

Ja. Als ich damals aus der Türkei mit den Zug in München ankam, wurden wir mit einem Blumenstrauß vom Bürgermeister empfangen. Wir wurden als Arbeiter gebraucht. Heute ist das kaum noch vorstellbar, so herzlich empfangen zu werden.

Hanife, wie viele Jahre lebst du jetzt in Deutschland und bist du heute mit deiner Entscheidung, nach Deutschland gekommen zu sein, zufrieden?

Ich lebe jetzt seit fast 50 Jahren in Deutschland und rückblickend ist alles anders gekommen, als ich gedacht habe. Aber ich bin glücklich in Deutschland. Ich habe geheiratet und eine Familie gegründet. Meine vier Kinder sind alle hier geboren worden und haben eine gute Schul- und Berufsausbildung genossen. Mittlerweile habe ich sechs Enkelkinder, die kaum ein Wort türkisch können und vor sechs Jahren haben mein Mann und ich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.

Beitragsbild: Volha Flaxeco via Unsplash

Von Reinickendorf bis Bochum, von Fulda bis Ottensen – überall schreiben Schülerinnen und Schüler Artikel über das, was um sie herum passiert. Jeder und jede aus ihrer eigenen Sichtweise, mit eigener Meinung und eigenem Schwerpunkt. Bei all den Unterschieden eint sie, dass sie mit ihrer Klasse an MEDIACAMPUS teilnehmen, dem medienpädagogischen Projekt der Funke Mediengruppe. Das erlernte Wissen wenden sie dann praktisch an, indem sie erste journalistische Texte schreiben. Auf funky können sie die Früchte ihrer Arbeit präsentieren.