Meinung

Wann ist ein Mann ein Mann?

Das Jahrhunderte alte Bild des Mannes als Krieger und Held ist im Jahre 2020 längst in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht. Je weiter die Technologisierung unsere Gesellschaft und Arbeit erobert, desto weniger relevant werden klassisch männliche Attribute wie Muskelkraft und körperliche Überlegenheit. Doch in einer Zeit, in der klassische Rollenbilder sich zumindest oberflächlich langsam, aber stetig aufzulösen scheinen, fühlt der moderne junge Mann sich bisweilen zurückgelassen.

Freiheiten führen zu Verunsicherungen

In liberalen Gesellschaften haben wir heute mehr Möglichkeiten denn je, unser gesellschaftliches Leben, unseren Job und unsere Sexualität nach unseren persönlichen Vorstellungen zu gestalten. Das ist zweifellos eine hervorragende Entwicklung. Doch all diese Freiheiten führen bei vielen jungen Männern zu Verunsicherung. Viele haben ihren Platz inmitten dieser modernen Gesellschaft noch nicht gefunden. Es ist ja irgendwie ganz logisch: Wo man damals als Junge mit sehr starren Vorstellungen von der eigenen Geschlechterrolle erzogen wurde – etwa der Mann als knallharter Familienversorger, der auf emotionaler Ebene nichts an sich heranlässt –, entstand durch progressiven gesellschaftlichen Wandel eine Art Vakuum. Und diese Lücke kann nun nicht einfach von einem ähnlichen Stereotyp wie dem des Kriegers und Helden gefüllt werden. 

Somit gibt es heute keine Definition von Männlichkeit im eigentlichen Sinne mehr, was bei vielen zu Orientierungslosigkeit führt. Natürlich ist nach wie vor die individuelle Erziehung nicht zu vernachlässigen. Sie prägt uns weiterhin und kann Heranwachsenden auch heute noch archaische Rollenvorstellungen einimpfen. Nichtsdestotrotz werden die meisten von uns im Laufe des Erwachsenwerdens in Situationen geraten, die sie dazu zwingen, ihre Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu hinterfragen und ihre eigene Rolle dementsprechend anzupassen. Doch wohin also als Mann? 

Viele sind überzeugt davon, den richtigen Weg weisen zu können. Sei es die Werbung, die bis heute – zuweilen verzweifelt – ein klischeehaftes Männerbild propagiert, wenn sie versucht, uns den neusten Rasierapparat schmackhaft zu machen. Oder Rechtspopulisten, die dazu aufrufen, zur „echten“ Männlichkeit zurückzukehren. Damit gemeint ist nichts anderes als ein Rückschritt in vergangene Zeiten, als der Mann am Hebel aller Entscheidungen saß und die Frau gänzlich von ihm abhängig war. In der Genderforschung nennt man das übrigens „hegemoniale Männlichkeit“. Solche Gegenbewegungen zum modernen, egalitären Gedanken führen letztlich dazu, dass sich die Antwort auf die Frage nach einer neuen, progressiven Form von Männlichkeit verzögert. Denn die Wahrheit ist: Jeder muss den starren Rahmen der Rollenbilder verlassen und seine eigene Form von Männlichkeit entwickeln.

Praxis anders als Theorie?

Dabei sollten wir uns nebenbei auch fragen, ob wir als Gesellschaft tatsächlich schon so weit sind, wie wir oberflächlich scheinen. Laut Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky, die an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Gender Studies lehrt, schlagen sich moderne Vorstellungen von Geschlechtergleichheit in unserem Alltag gar nicht so sehr nieder, wie wir es von uns behaupten: „Einerseits sind junge Menschen, Männer wie Frauen, gleichermaßen an Gleichberechtigung orientiert. Wenn man sie fragt, sagen sie durch die Bank, dass das Geschlecht für sie keine Rolle spiele und sich Männer genauso um die Familie kümmern wie Frauen. Gleichzeitig sehen wir, dass genau diese Paare, wenn es dann so weit ist und sie Kinder haben, das gar nicht so leben. Stattdessen teilen sie ganz geschlechtstypisch die Arbeiten und die Zuständigkeitsbereiche auf“, so die Expertin. 

Mehr Schein als Sein also? Zumindest lässt sich vermuten, dass viele Männer ihre neue Rolle (noch) nicht gefunden haben und sich daher in traditionelle Rollenbilder flüchten. Natürlich ist das auch äußeren Umständen geschuldet, da auch in einer Familie die finanzielle Versorgung gesichert sein muss. Denn wie wir alle wissen: Frauen werden leider immer noch nicht so gut bezahlt wie Männer. Und eine Frau, die arbeiten geht, während der Mann mit den Kindern für längere Zeit zuhause bleibt, ist statistisch erwiesenermaßen auch heute noch extrem selten. 

Ein neues Selbstbewusstsein muss her

Dem Mann von heute fehlt also das, was moderner Feminismus für die Frau ist. Viele fordern, der Mann müsse sich „von sich selbst“ emanzipieren, also von seinen veralteten Wertevorstellungen und seiner durch die neue, facettenreiche gesellschaftliche Lage bedingten Unsicherheit. Doch der Diskurs um die Thematik hat bisher noch keinen handfesten Leitfaden dafür hervorgebracht, an dem Mann sich entlanghangeln könnte. Ein kollektives, männliches Selbstbewusstsein existiert nicht. Da die Orientierungslosigkeit bis hin zu Depressionen und existenziellen Krisen in den Mittzwanzigern führen kann, sollten junge Männer dringend mehr Anhaltspunkte zur eigenen Rollenfindung haben. Dafür wird noch eine gehörige Portion Mut auf Seiten der Männer vonnöten sein, gerade wenn es darum geht, sich auf neue Geschlechterrollen einzulassen.