Minimalismus – der Weg zum maximalen Glück?

Ein Smartphone, auf dem jemand Online Klamotten kauft.
Minimalismus soll die Formel zum maximalen Glück sein. Dabei muss man nicht 100 Dinge oder weniger besitzen, um Minimalist*in zu sein.
Marie Wilcke, funky-Jugendreporterin

Ein normaler Sonntagabend: Auf der Suche nach etwas Entspannung und einem guten Film wechsle ich von einer Streaming Plattform zur nächsten, während mein Zeigefinger bereits über dem Icon einer Shopping-App auf meinem Handy-Bildschirm schwebt. Kurzerhand entscheide ich mich für den Film „100 Dinge“ von Florian David Fitz. Der Film beginnt und meine App öffnet sich. Mit einem Auge beobachte ich, wie die beiden Filmfiguren Paul und Toni versuchen, ihre gemeinsam entwickelte Start-Up Idee für viel Geld zu verkaufen und bereits von ihrem möglichen Reichtum träumen – so weit so gut. Gleichzeitig scrolle ich durch die virtuelle Ladentheke meiner Shopping-App, die mir die neusten Trends der Herbst- und Winterzeit präsentiert.

In der Zwischenzeit hat sich die Handlung des Films auf eine Wette zugespitzt: Paul oder Toni, wer schafft es eher, 100 Tage auf Luxusgüter und Habseligkeiten zu verzichten? Es kommt zu unterhaltsamen Ausnahmesituationen, aber letztendlich beschleichen die Zuschauenden die gleichen Zweifel wie die beiden Charaktere: Ist der ganze Konsum wirklich nötig? Ich lege mein Handy weg. Die App ist längst geschlossen und die neuen Shopping-Trends sind nun vergessen. 

In „100 Dinge“ und im Internet tritt immer wieder eine bestimmte Zahl auf: 10.000. Das ist die Anzahl der Dinge, die der/die durchschnittliche Europäer*in laut Statistiken heutzutage besitzt. Ein erfahrener Minimalist besitzt etwa ein Hundertstel davon – nur 100 Dinge. Doch welche Überzeugung steht hinter diesem einen Hundertstel? Und macht ein minimalistisches Leben wirklich glücklicher?

Klarer Blick nach innen mit der „Minimalisten-Brille“

Julia Riedel hat sich vor mehr als zwei Jahren dem Minimalismus verschrieben und teilt ihre Erfahrungen seitdem auf ihrem Instagram-Account „leichter_leben_“. „Als Kind habe ich sehr gerne Dinge gesammelt: Steine, gepresste Blumen, Schmuck und Taschenbücher. Je älter ich wurde, umso erdrückender fühlte sich das alles aber an“, erzählt die 21-Jährige. Die freie Zeit durch die Covid-Pandemie und inspirierende YouTube-Videos zum Thema Minimalismus hätten ihr schließlich den Impuls zum Ausmisten und Organisieren gegeben. Dies sei jedoch nur die oberflächliche, erste Ebene des Minimalismus, betont sie. Schließlich mache es uns nicht automatisch glücklicher, schlichtweg von weniger Dingen umgeben zu sein.

Torsten Schmidt und Sabine Meißner leiten gemeinsam die Life-Coaching Agentur „NEXTLEVEL“ und auch sie helfen mir, den Minimalismus zu verstehen: „Das minimalistische Leben hängt immer auch mit dem bewussten Leben zusammen“, erklären die beiden. Mir ist das alles immer noch ein wenig zu abstrakt und so frage ich noch einmal genauer nach: Beim bewussten Lebensstil gehe es darum, seinen eigenen Charakter kennenzulernen und sich über die eigenen Fähigkeiten, Interessen und Werte so im Klaren zu sein, dass man bewusst Entscheidungen treffen kann, die zweifelsfrei dem eigenen Richtungskompass entsprechen. Der Minimalismus unterstütze dabei insofern, als dass er unnötige Ablenkungen entfernt und dadurch einen klaren Blick auf das bewusste Leben schafft. Auch Julia erklärt, durch ihre „Minimalisten-Brille“ eine weitreichendere Perspektive erhalten zu haben: „Minimalistisch leben heißt für mich in tiefer Auseinandersetzung mit mir selbst zu sein, mit meinen Wünschen und dem, was mir wirklich wichtig ist.“

Warum zu viel kaufen krank macht

Es ist kein Geheimnis, dass unsere Gesellschaft so viel konsumiert wie nie zuvor: Immer größere Online-Versandhändler, immer schneller werdende Versandmöglichkeiten, immer bessere Zahlungsoptionen – das Kauferlebnis der heutigen Zeit könnte kaum bequemer sein. Und doch war es gleichzeitig noch nie gefährlicher: So leiden etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung unter einer Kaufsucht. Torsten erklärt es sich so, dass Impulskäufe als eine Art Abkürzung zum Glück im Gehirn abgespeichert werden, da sie eine der schnellsten Möglichkeiten sind, möglichst viele Grundbedürfnisse gleichzeitig abzudecken. Zu diesen Grundbedürfnissen gehören beispielsweise die Anerkennung durch Mitmenschen, aber auch die Bestätigung des Selbstwertgefühls. Doch bei zu hohem Konsum wird diese Reizschwelle überlastet werden, wir stumpfen beim Kaufen ab, haben das Gefühl immer mehr zu brauchen. Auch Sabine ist selbst schon lange praktizierende Minimalistin und sagt zum Thema Konsum und Kaufsucht: „Ich bin davon überzeugt, dass ich eine größere Chance habe, meine seelischen Grundbedürfnisse nachhaltig zu erreichen, wenn ich mich vom Materiellen loslöse.“

Die Vorteile des Minimalismus: Ist weniger wirklich mehr?

Bis jetzt haben wir erfahren, dass die Selbstreflexion den Großteil eines minimalistischen Lebens ausmacht. Da das jedoch sehr subjektiv ist und von Person zu Person unterschiedlich stattfindet, interessiert mich: Welche offensichtlicheren Vorteile bringt der Minimalismus noch mit sich?

Julia erzählt, außer Platz spare man viel Zeit: „Materielles geht immer mit Aufwand einher. Es muss besorgt, gewartet und am Ende entsorgt werden. Steht viel herum, fällt auch das Aufräumen und Putzen schwerer.“ 

Zusätzlich spare man bei einem minimalistischen Leben natürlich auch Geld, wobei es allen meiner Interviewpartner*innen wichtig war zu betonen, dass es hierbei keinesfalls um Verzicht geht. Sabine unterscheidet beim Kaufen zwischen Geld ausgeben und Geld investieren. Und auch Julia erklärt mir: „Ich kaufe mir trotzdem, was mich glücklich macht. Ich gebe beispielsweise Geld für Blumen aus, wenn sie mir gefallen. Das bedeutet, ich schränke mich nicht ein, im Gegenteil: Ich gebe mir genau das, was ich brauche.

Wie gelingt der Wandel zum Minimalismus?

Ich denke zurück an die Zahl vom Anfang: Nur 100 Dinge besitzen. Ich gebe zu, nicht alle meine Besitztümer haben für mich den gleichen Wert und sind in ständiger Benutzung. Aber ist dieses intensive Reduzieren nicht doch eine etwas zu drastische Veränderung?

Julia beschreibt den Prozess dieser Umstellung als fließend und gar aufregend bei der Erkenntnis, wie wenig Dinge sie eigentlich wirklich braucht. Direkt mit dem Ziel anzufangen, seinen Besitz auf 100 Dinge zu beschränken, ist dann aber wohl doch etwas übertrieben und auch gar nicht nötig: „Es ist nicht wichtig, wie viele Dinge du noch zu Hause hast. Es geht nicht darum, maßlos zu reduzieren, sondern darum, das loszuwerden, was dich nur Platz, Zeit und Energie kostet.“ 

Für diesen ersten Schritt des Aussortierens schlagen Sabine und Julia beide vor, die aussortierten Sachen, bei denen noch Zweifel bestehen, erst einmal ein Jahr lang in einer Kiste zu verstauen. Sollte man ein Jahr lang ohne die Dinge ausgekommen sein, können sie dann guten Gewissens entsorgt werden.

Wie bereits festgestellt sollte das minimalistische Denken aber am besten direkt bei der Wurzel des Konsums ansetzen: Um Impulskäufe zu vermeiden, setzt Sabine hier auf ihre „Wunschliste“. Besteht ein Kaufwunsch, dann schreibt sie diesen zunächst auf die Liste, wartet dann aber erst die nächsten 30 Tage ab, um anschließend herauszufinden, ob es sich um einen echten Wunsch handelt. 

„Minimalismus ist kein Sprint, sondern ein Marathon“

Letztendlich scheint der wichtigste Tipp aber der zu sein, sich Zeit zu nehmen. Julia macht das am Ende mit einem Vergleich greifbar: „Minimalismus ist kein Sprint, sondern ein Marathon. […]. Es geht um eine Mindset-Änderung und die passiert über einen längeren Zeitraum hinweg, nicht von einem Tag auf den anderen.“ 

Es gibt verschiedene Wege, die zum Minimalismus führen können: Anregende YouTube-Videos, der Frühlingsputz oder eine extreme Wette wie bei Paul und Toni aus dem Film. Die Minimalismus-Reise ist dabei jedoch so individuell wie der einzelne Mensch selbst. Der Minimalismus folgt keinen Regeln, sondern einer Philosophie. Auch wenn dadurch keine Voraussagungen über Erfolg oder Dauer der Reise gemacht werden können, habe ich gelernt, dass es eine Sache gibt, die dich der Minimalismus auf keinen Fall macht: Unglücklich.

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Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.