Interview

Stefanie Stahl: „Für junge Menschen sind soziale Kontakte unheimlich wichtig“

Die Psychologin Stefanie Stahl hat schon einige Bücher veröffentlicht, unter anderem „Das Kind in dir muss Heimat finden“ und „So stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl“. Neuerdings könnt ihr die gebürtige Hamburgerin auch in ihrem Podcast „Stahl aber herzlich“ hören. Darin erörtert sie mit echten Klienten deren spezifische Probleme, wovon schließlich auch die Zuhörer*innen profitieren sollen. Im Interview spricht die Psychotherapeutin über die Auswirkungen des aktuellen Lockdowns auf die Psyche junger Menschen.
Chayenne Wolfframm, funky-Jugendreporterin

Seit Anfang letzten Jahres sieht für uns alle der Alltag auf einmal ganz anders aus. Was genau machen solche grundlegenden Veränderungen mit unserer Psyche?
Veränderungen verlangen immer eine gewisse Anpassungsfähigkeit und dafür brauche ich Stabilität. Je weniger psychisch stabil ich bin, desto mehr überfordern mich Veränderungen. Um mich auf neue Strukturen einstellen zu können, brauche ich eine Grundsicherheit, und da ist aktuell Corona eine echte Herausforderung. Für viele Menschen veränderte sich die normale Tagesstruktur. Doch eine solche Struktur und routinierte Abläufe geben uns unglaublich viel Halt. Wenn diese Struktur plötzlich wegfällt, dann laufen wir Gefahr, den äußeren Halt zu verlieren. Um diesen Strukturverlust zu beheben, ist es wichtig, dass man neue Strukturen schafft. Deswegen ist eine gängige Empfehlung in Corona-Zeiten, gerade für die Leute, die momentan keine Arbeit haben, sich in Kurzarbeit oder im Home-Office befinden, sich auch für diese Situation eine Tagesstruktur aufzubauen, damit die psychischen Abläufe auch momentan die gleichen sind.

Der Lockdown stellt auch für Jugendliche eine besondere Herausforderung dar. Was, denken Sie, setzt den jungen Menschen momentan besonders zu? 
Vor allem der Wegfall der sozialen Kontakte. Denn gerade für Jugendliche ist es unheimlich wichtig, dass sie soziale Kontakte haben und unterwegs sein können. Dies stellt einen wichtigen Punkt für den Ablösungsprozess von den eigenen Eltern dar. Dieser Wegfall, aber eben auch der Wegfall der Struktur „Schule“ oder „Ausbildung“, verlangt von den Jugendlichen ein ungeheures Maß an Selbstdisziplin und Überwindung von Frustration und Langeweile. Schließlich hat das Homeschooling völlig andere Herausforderungen, als morgens in die Schule zu gehen, dem Lehrer zuzuhören und allgemein viel aktiver in den Tag zu starte

Zum wahnsinnig werden: Wenn wir unseren Arbeitsplatz nicht mehr vom Privaten trennen können. © Pexels

Psychische Probleme können unterschiedliche Ursachen haben. Was löst besonders in der Corona-Pandemie Depressionen und psychische Erkrankungen aus? 
Der Wegfall von vielen Sozialkontakten und der Wegfall der Tagesstruktur. Dieser Wegfall destabilisiert. Es ist wichtig, dass man soziale Kontakte und auch Ausweichmöglichkeiten hat, sodass man nicht immer zu Hause festsitzt und beispielsweise mal ins Kino oder in die Kneipe gehen kann, einfach unter Leute kommt und etwas anderes erlebt. Immer nur sich selbst ausgesetzt zu sein ist nicht immer förderlich, denn Ablenkung ist ja auch eine Ablenkung von sich selbst und den eigenen Problemen.

Macht es im Umgang mit dem Lockdown einen Unterschied, ob Menschen schon psychisch vorerkrankt sind? 
Ja, auf jeden Fall. Vorerkrankte sind an sich schon instabiler und der Lockdown führt zu weiterer Destabilisierung. Viele der Tageskliniken sind momentan geschlossen und dadurch fällt der äußere Halt weg. Wenn man dann sowieso schon mit einer Angststörung oder Depression zu kämpfen hat, verschlimmert das natürlich die ganze Angelegenheit.

Da der Lockdown von außen verordnet wurde, stellt dies einen Kontrollverlust dar.

Dies ist nun schon der zweite Corona-Lockdown. Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene verlieren teilweise die Hoffnung. Welche Gedanken könnten sie motivieren, durchzuhalten, bis sich die Lage wieder entspannt? 
Ganz wichtig finde ich den Gedanken, dass sich die Lage absehbar entspannen wird. Für den Alltag ist es wichtig, dass man sich nicht in seine Ängste reinsteigert und sich in irgendwelchen Szenarien verliert. Stattdessen sollte man immer wieder trainieren, sich möglichst darauf zu konzentrieren, was gerade anliegt. Dafür kann es hilfreich sein, sich persönlich Projekte vorzunehmen. Da der Lockdown von außen verordnet wurde, stellt dies einen Kontrollverlust dar. Jedoch gibt uns Kontrolle immer das Gefühl von Sicherheit und ist eine Antwort auf Angst. Indem ich den Lockdown genau dafür nutze, wofür sonst die Zeit fehlt, drehe ich den Spieß um und habe wieder ein Stück weit mehr die Kontrolle. Wenn ich mir Projekte vornehme und diese in die Tagesstruktur einpflege, verliert der Kontrollverlust eben auch seinen Schrecken. Bei Ängsten und Grübeleien ist es immer das Schlechteste, sich da hineinzusteigern. Sie sind ein hilfloser Versuch des Gehirns, eine Situation unter Kontrolle zu bekommen. Deswegen empfehle ich oft, diese einfach mal aufzuschreiben. Das entspannt das Gehirn, da dieses im Zweifelsfall weiß, dass alles auf dem Zettel steht. Außerdem kann ich mich wieder auf die Aufgaben konzentrieren, die gerade anstehen.

„Die Trauer um gestorbene Corona-Opfer, Vereinsamung, Einkommensverluste und Angst lösen psychische Erkrankungen aus oder verschlimmern bereits bestehende Erkrankungen. Viele Menschen reagierten auf ihre Probleme mit erhöhtem Alkohol- und Drogenkonsum, Schlaflosigkeit und Angstzuständen.“ Dies sagte die WHO-Direktorin für psychische Gesundheit, Devora Kestel.  Was können Betroffene Ihrer Meinung nach dagegen tun? 
Steckt jemand schon in der Sucht fest, ist es nicht leicht, das allein in den Griff zu bekommen. Da hilft es oft, sich extern Hilfe zu suchen. Dazu gehört allerdings erstmal ein Eingeständnis, dass man damit überhaupt ein Problem hat. Das ist ein wichtiger, aber auch innerlich ein bedrohlicher Schritt. Die Frage ist auch immer: Wenn ich nicht jeden Abend trinke, was mache ich stattdessen? Man braucht Werte und Beschäftigungen, die wirklich attraktiver sind.

In Ihrem Buch „So stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl“ sagen Sie, dass Angst und Depressionen oft Hand in Hand gehen und man deshalb auch von ängstlich-depressivem Erleben spricht. Was können Eltern, Familien, Kinder und Jugendliche selbst gegen Einsamkeit und mögliche Depressionen tun? 
Wichtig ist es, Beziehungen zu pflegen und sich daran zu erinnern, mit welchen Menschen ich gute Beziehungen habe. Mit diesen kann ich dann auch mal anders in Kontakt treten, indem ich zum Beispiel Briefe schreibe oder mir Geschenke überlege. Wichtig ist auch, dass man ein, zwei Leute hat, mit denen man engeren Kontakt pflegt, sodass man nicht den ganzen Freundeskreis, aber zumindest einzelne Freunde sieht. Selbsthilfegruppen im Internet, Chats und Skype können auch einiges auffangen. Außerdem könnte man sich Beschäftigungen zulegen, die einen inspirieren, durch die man sich angeregt und autonom fühlt und bei denen man sich sagt, das kann ich auch alleine machen, da brauche ich nicht unbedingt den sozialen Kontakt.

Wenn man schon etwas älter ist, kann man die Zeit auch wunderbar für psychische Hausaufgaben nutzen.

Haben Sie da spontan eine Idee, woher man solche Anregungen bekommt?
Ich würde sagen, man überlegt mal, was man gerne lernen oder können möchte, und nimmt sich da einfach ein Hobby vor, das man eben auch so machen kann. Zum Beispiel eine neue Sprache. Durch das Internet kann man auch viel über Selbsthilfe erlernen, aber dazu braucht es natürlich auch eine gewisse Struktur und Frustrationstoleranz, dass man nicht gleich das Handtuch hinschmeißt. Wenn man schon etwas älter ist, kann man die Zeit natürlich auch wunderbar für psychische Hausaufgaben nutzen. Indem man sich mit den Themen, die gerne verdrängt werden, aber innerlich Angst auslösen, beschäftigt. Außerdem ist jetzt die beste Zeit dafür, mithilfe von Ratgebern und Seminaren ein paar psychische Themen aufzurollen und anzugehen.

Lebt man mit seinem Partner, seinen Kindern oder anderen Familienmitgliedern zusammen, sieht man sich momentan meist jeden Tag. Das kann auf die Dauer ganz schön anstrengend sein. Wie kann dennoch ein entspanntes Zusammenleben geführt werden? 
Zum einen sollte man sich nicht mit seinen eigenen Ansprüchen überfordern. Vor allem für Eltern ist es momentan wichtig, dass sie sich bezüglich des Homeschoolings nicht verpflichtet fühlen, als die Lehrer ihrer Kinder einzuspringen. Sie können sich damit zufriedengeben, die Kinder zu motivieren. Es ist wichtig, sich eine entspannte Haltung zuzulegen. Schließlich ist es eben im Moment so, wie es ist. Wichtig ist außerdem, dass die Homeschooling- und Arbeitsplätze wieder weggeräumt werden, man sich als Familie eine Tagestruktur und Rituale zurechtlegt, um eine Grenze zwischen Freizeit und Arbeit klarer abzustecken.

Befinden wir uns selbst total im Stress, stressen uns andere Menschen noch viel mehr.

Eine Umarmung unter Freunden, ein Händedruck zur Begrüßung – besonders der Körperkontakt im Alltag wird vermisst. Gibt es einen Ersatz für den Berührungsmangel? 
Ich denke eigentlich, dass die meisten Menschen noch Menschen haben, die sie berühren, zumindest innerhalb der eigenen Familie. Außerdem denke ich, dass, wenn sich zwei beste Freunde treffen, die sich wahrscheinlich auch noch ab und zu in den Arm nehmen. Mir persönlich ist noch niemand begegnet, der sich da so wahnsinnig drüber beklagt hätte. Die Liebesbeziehungen bahnen sich natürlich etwas länger an, doch das muss auch nicht immer nur von Nachteil sein. Es kann auch Vorteile haben, die Sache mal ein bisschen langsamer anzugehen und den Verstand noch ein bisschen in den Vordergrund zu stellen. Das neue Dating geht ja vor allem über gemeinsame Spaziergänge und das kann ja auch eine Chance sein.

Zu guter Letzt: Gibt es etwas, das Sie aus der Corona-Pandemie für sich selbst gelernt haben und anderen auf den Weg geben möchten?
Ich muss ehrlich sagen, dass ich gar nicht so wahnsinnig davon betroffen war, da ich auch immer normal weiterarbeiten konnte und ein paar Freunde gesehen habe. Wenn ich die Frage ehrlich beantworte, habe ich daraus jetzt nichts Besonderes für mich gezogen. Was ich aber grundsätzlich mit auf den Weg geben kann und möchte, ist, dass man dafür sorgt, sein Leben zu genießen und sich nicht immer nur Gedanken darüber macht, wie man seine Arbeit oder anderes geregelt bekommt oder wie man sich selbst optimiert. Stattdessen sollte man aktiv dafür sorgen, immer wieder Auftankstationen zu haben. Denn, wenn ich selber gut aufgetankt und guter Dinge bin, dann bin ich nicht nur persönlich ausgeglichener, sondern ich bin auch so der bessere Mensch. Befinden wir uns selbst total im Stress, stressen uns andere Menschen noch viel mehr.

Weitere Infos zu Stefanie Stahl und ihren Büchern findet ihr unter: https://www.stefaniestahl.de/deu/

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Wir haben genug davon, dass die Geschichten immer nur von den Alten erzählt werden. Deswegen haben wir den Stift selbst in die Hand genommen, sind durch die Lande gezogen, haben Geschichten und Menschen gesucht, gefunden und alles aufgeschrieben, was uns untergekommen ist. Wir haben unsere Smartphones und Kameras gezückt und Fotos und Videos gemacht. Auf funky zeigen wir euch die Ergebnisse unserer Recherchen.