Abi nachholen im Rollstuhl: ein lebenslanger Kampf für Inklusion

Katrin Haese im Rollstuhl

Leider muss man sich sehr oft seinen Rechtsanspruch auf Integration hart erkämpfen, um in der heutigen Gesellschaft, in der fast nur noch die Leistung zählt, als Behinderte leben zu können.

Von Katrin Haese, Klasse A02, Weiterbildungskolleg Emscher Lippe, Gelsenkirchen

Ich fragte die anderen Kinder: „Darf ich mitspielen?“ Die anderen Kinder entgegneten: „Ja, klar, aber du spielst den Hund der Familie. Du krabbelst auf dem Boden!“. Das machte mich traurig. Ich spielte aber dann doch den Hund, um bei dem Spiel dabei sein zu können.

Heute bin ich 41 Jahre alt und sitze wie schon zur Kindergartenzeit im Rollstuhl. Ich möchte mich zum Thema Inklusion äußern, da ich durch meine körperliche Situation und meinen Rollstuhl Inklusion selbst erlebe und durchlebe.

Abgelehnt wegen Mehraufwand

Inklusion ist der Fachausdruck für das Zusammenleben von Nichtbehinderten und Behinderten Menschen im Alltag. Die Inklusion war das erste Mal Thema in meinem Leben, als ich in den Kindergarten kommen sollte. Jedes Kind geht mit circa drei Jahren in den Kindergarten. Das sollte ich auch, denn ich war Einzelkind und ich sollte natürlich in Kontakt mit anderen Kindern kommen.

Also meldeten meine Eltern, wie vieler ihrer Bekannten auch im Kindergarten an. Die Kindergartenleiterin eines christlichen Kindergartens weigerte sich damals, ein behindertes Kind im Kindergarten aufzunehmen. Ihre Begründung war, dass sie eine extra Erzieherin einstellen müsse, um den Mehraufwand leisten zu können, der durch meine körperliche Behinderung entstehen würde.

Solidarisiert euch!

Das war aber absoluter Blödsinn, denn man muss auch oft einem nichtbehinderten Kind mit drei Jahren auf die Toilette helfen. Dennoch meldeten meine Eltern mich nach diesem Vorfall kurzentschlossen wieder beim christlichen Kindergarten ab.

Die Bekannten meiner Eltern meldeten aus Solidarität gegenüber meiner Eltern ihre Kinder auch von dem christlichen Kindergarten ab. Daraufhin beschlossen alle Betroffenen, ihre Kinder nun im städtischen Kindergarten anzumelden. Die Leiterin dort hatte auch kein Problem damit, mich als Behinderte dort aufzunehmen.

Bei „Vater, Mutter, Kind“ war ich der Hund

Was mich als Kind im Kindergarten dennoch immer sehr traurig gemacht hat, ist die Tatsache, dass ich, wenn wir „Vater, Mutter, Kind“ gespielt haben, immer den Hund spielen musste, da ich mich ja auf allen Vieren fortbewegt habe. Wie gerne hätte ich auch mal die Mutter oder den Vater gespielt wie die anderen Kinder.

Ich habe deswegen geweint. Ich erinnere mich heute noch als erwachsene junge Frau an dieses „Vater, Mutter, Kind“-Spiel im Kindergarten.

Dank Rechtsanwalt in die Regelschule

Als die Einschulung dann anstand, haben meine Eltern unter Zuhilfenahme eines Rechtsanwaltes darum gekämpft, dass ich die Regel-Grundschule besuchen durfte. 1983 hatte man noch keinen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Regelschule, so wie es heute der Fall ist.

Anschließend besuchte ich die höhere Handelsschule und die Berufsschule Bottrop. Diese beiden Schulbesuche waren nur möglich, durch den Fahrdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Mangels eines vorhandenen Fahrstuhls wurde ich von Mitschülern und dem roten Kreuz in die Klassenzimmer auf verschiedenen Etage getragen.

Heute haben Behinderte mehr Möglichkeiten

2006 habe ich meine Berufsausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen. Seit August 2017 besuche ich erneut die Schule. Jetzt ist es das Weiterbildungskolleg in Gelsenkirchen. Dort will ich mein Abitur nachholen.

Die Lehrer hier sind sehr engagiert und unterstützen mich, wo sie nur können. Dem Schuldirektor Jahn bin ich sehr dankbar, dass er mich am Abendgymnasium aufgenommen hat.

Inklusion bedeutet Freiheit und Selbstbestimmung

Sie sehen, Inklusion war schon in den 1980er Jahren möglich, aber nur mit einem engagierten gut funktionierenden sozialen Umfeld. Und nicht jeder Behinderte ist in der Lage, eine Regelschule zu besuchen. Jede Behinderung ist anders.

Ich denke, dass mich das Thema Inklusion mein Leben lang begleiten wird, auch wenn man heute einen Rechtsanspruch darauf hat. Egal welche Art von Behinderung man hat, steht es einem zu, integriert in der Gesellschaft zu leben.

Ich werde immer weiter für ein freies und selbstbestimmtes Leben kämpfen. Denn diese Werte sind für mich als als gehandicapte Frau das Wichtigste!

Beitragsbild: Privat

Verwandte Beiträge

Von Reinickendorf bis Bochum, von Fulda bis Ottensen – überall schreiben Schülerinnen und Schüler Artikel über das, was um sie herum passiert. Jeder und jede aus ihrer eigenen Sichtweise, mit eigener Meinung und eigenem Schwerpunkt. Bei all den Unterschieden eint sie, dass sie mit ihrer Klasse an MEDIACAMPUS teilnehmen, dem medienpädagogischen Projekt der Funke Mediengruppe. Das erlernte Wissen wenden sie dann praktisch an, indem sie erste journalistische Texte schreiben. Auf funky können sie die Früchte ihrer Arbeit präsentieren.