Obdachlos: Einmal zum Abgrund und zurück ins Leben

Drei Obdachlose unter einer Brücke
Obdachlos (c) Sascha Kohlmann veröffentlich unter der Creative Commons Licence CC BY-SA 2.0

Warum wird ein Mensch obdachlos? Manchmal reicht ein Schicksalsschlag. Ein Betroffener in Hamburg erzählt.

Von Sophie Scheutzow, 8B, Gymnasium Oberalster

Hamburg.  „Dann saß ich auf der Straße. Völlig kaputt, zerbrochen, am Boden zerstört. Ich sah keinen Sinn mehr im Leben. Ich dachte mir: Warum passiert mir so etwas?“, erzählt Thomas (Name geändert).

Thomas und ich sitzen im Hinterhof der Räume des Hamburger Straßenmagazins „Hinz&Kunzt“. Mit seinen braunen Augen schaut Thomas mich durch seine Brille an. Er fährt sich mit der Hand durch seine angegrauten Haare und erzählt mir seine Geschichte. Neben ihm auf dem Boden liegt ein brauner Labrador. Seine Hündin. „Keine Angst, sie beißt nicht“, sagt er und lächelt. „Der Arzt meinte nach meiner Therapie, ich solle mir ein Hobby suchen, um nicht mehr ans Trinken zu denken, also holte ich meine Sina“, sagt Thomas. „Sie ist alles für mich, sie ist meine Begleiterin.“

„Man schämt sich für sein Aussehen“

Thomas lebte früher in Süddeutschland. Er hatte eine Familie, vier Kinder, und er war glücklich. Dann wurde er geschieden und zog aus – mit seinen sieben Sachen zu einem Freund. Er hatte einen guten Job, doch er war unglücklich. Er begann zu trinken. „Ich hatte keinen Bock, zur Arbeit zu gehen.“ Thomas verlor seinen Job.

Der Freund drohte ihm mit Rausschmiss, doch Thomas nahm das nicht ernst. „Eines Abends, als ich wieder mal betrunken nach Hause kam, nahm er meine Sachen und schmiss sie vor die Tür. Da wusste ich, dass ich kein Zuhause mehr hatte“, erzählt er. Von nun an lebte Thomas auf der Straße, ohne Geld, ohne eine Dusche, ohne Essen. „Man traut sich dann nicht einmal mehr, zu einer Familienfeier zu gehen. Man schämt sich für sein Aussehen und man will auch kein Familienmitglied um Hilfe bitten“, sagt Thomas. Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen, wie es ist, so beschämt zu sein.

Duschen für Obdachlose

Thomas zog nach Hamburg. Hier wollte er neu anfangen, doch er schlief weiter auf der Straße. Alles, was er besaß, war ein Rucksack, darin seine wichtigsten Sachen. „Stell dir vor, du hast ein paar Klamotten darin, die du neben deinem Essen lagerst. Die fangen irgendwann richtig an zu stinken. Du kannst dich nur selten duschen, in Hamburg gibt es zwar Duschen für Obdachlose, doch wenn man sich da anstellt, weil man zum Beispiel zum Arzt will, muss man sich ganz früh da anstellen. Dann kannst du entweder ganz lange auf eine freie Dusche warten oder du hast keinen Bock und trinkst, sagst den Arzttermin halt ab“, erzählt Thomas. Ich kann mir so ein Leben nicht vorstellen. Man vergisst, dass die tägliche Dusche, warmes Essen und ein kuschliges Bett nicht normal für alle Menschen auf der Welt sind.

Ständige Angst

„Man kommt nicht zum Schlafen, weil man Angst hat, dass einem die Sachen gestohlen werden. Man muss sich das so vorstellen, als wenn man mit offener Haustür schlafen würde“, sagt Thomas. Mir wird klar, dass man auf der Straße in ständiger Angst lebt. Wie kann man unter solchen Umständen überleben, wie schafft man es, nicht zusammenzubrechen?
Thomas schlief sechs Jahre lang in Hamburg auf der Straße. Es war ihm peinlich, obdachlos zu sein. Er wollte es sich selber nicht eingestehen, deswegen suchte er sich keine Hilfe. Ich kann Thomas gut verstehen. Menschen in seiner Situation trauen sich oft vor lauter Scham nicht, anderen Menschen ihre Probleme anzuvertrauen und sich helfen zu lassen.

Endlich verdiente er Geld

Eines Tages nahm ein Freund Thomas mit zum Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“. Thomas hätte gern Zeitungen verkauft, doch weil er alkoholabhängig war, durfte er das nicht. Also wurde er in die Entzugsklinik geschickt. „Bei ,Hinz&Kunzt‘ haben sie sich um mich gekümmert, das hat mir geholfen“, erzählt er. „Danach bekam ich meine Hündin Sina, und es ging wieder bergauf. Sina ist mein treuer Freund in jeder Situation.“ An den Tag, an dem Thomas seine erste Zeitung verkaufte, erinnert er sich genau. Endlich verdiente er Geld. Endlich konnte er sich etwas zu essen kaufen.

Das Straßenmagazin „Hinz & Kunzt“ wird von mehr als 500 wohnungslosen Menschen auf den Straßen Hamburgs verkauft. Das Magazin erscheint einmal im Monat. Es kostet 2,20 Euro. 1,10 Euro vom Verkaufspreis erhält der Verkäufer. „Hinz&Kunzt“ ist nicht nur eine Zeitung, es ist ein Sozialprojekt und eine Anlaufstelle für Obdachlose. Sie können sich dort aufwärmen und Kaffee trinken oder sich von Sozialarbeitern zu ihren Problemen beraten lassen. „Hinz & Kunzt“ gibt diesen Menschen eine Aufgabe, sie finden durch das Projekt zurück ins Leben. Ich finde das Projekt toll.

Verkaufsstammplatz in der Innenstadt

Thomas hatte seinen Verkaufsstammplatz in der Hamburger Innenstadt. „Es gab ein paar Kunden, die jeden Tag vorbeigingen, mich anlächelten und ab und zu eine Zeitung kauften. Eine Frau kam ein Jahr lang jeden Tag zu mir, kaufte eine Zeitung, unterhielt sich mit mir und prüfte, ob ich Alkohol getrunken hatte. Sie gab mir 300 Euro, um Sina kastrieren lassen zu können“, erzählt er.

Thomas hat es geschafft. Heute hat er eine Wohnung, einen Job bei „Hinz&Kunzt“. Als Stadtführer zeigt er Besuchern „Hamburgs Nebenschauplätze“: Orte, an denen Obdachlose leben. Er zeigt die Gefahren für Obdachlose, erzählt dabei seine eigene Geschichte. „Jetzt bin ich glücklich, ich habe ein Zuhause, einen Job, ich kann Menschen helfen, die das gleiche Schicksal erlebt haben wie ich. Ich mag mein Leben so wie es jetzt ist, ich habe für einen Traum gearbeitet. Ich bin stolz auf mich, dass ich es geschafft habe, mein Leben zu verbessern.“

Dieser Artikel wurde zuerst im Hamburger Abendblatt am 11. April 2017 veröffentlicht.
Titelbild: Obdachlos (c) Sascha Kohlmann veröffentlich unter der Creative Commons Licence CC BY-SA 2.0

 

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