Clare College

Inside Hogwarts: Mein Jahr in Cambridge

Tamina macht trotz Corona mit dem Erasmus-Programm zwei Auslandssemester an der englischen University of Cambridge. Was sie dabei alles erlebt, darüber berichtet sie in ihrer Kolumne.

Teil 12: Von Sherry nippenden Studenten in schwarzen Roben, Stechkahnfahrten und einem abrupten Abschied

Das Easter Term schritt weiter voran und wurde immer besser. Mehr und mehr Beschränkungen wurden gelockert und somit konnten Ende Mai auch wieder Formal Halls stattfinden und die collegeeigenen Stechkähne, genannt „Punts“, waren wieder gratis für die Studenten aus Clare verfügbar.

Stechkahnfahren mit Freunden.
Stechkahnfahren mit Freunden.

Formal Halls sind im Prinzip die edle Variante des Abendessen in der Mensa und für mich der Inbegriff von „Oxbridge“. Wo sonst kann man wie Harry Potter in Hogwarts speisen? Fast alle Colleges besitzen aufgrund ihres Alters einen großen, ehrwürdigen, meist holzvertäfelten Saal, die „Hall“. Früher mussten die schwarzen Roben, die „Gowns“, auch in Seminaren oder Vorlesungen getragen werden – heute sind die meist nicht mal mehr bei diesem besonderen Dinner Pflicht, viele Studenten tragen sie jedoch trotzdem. Es ist schon ein sehr besonderes Gefühl, das einen ergreift, wenn man mit der Robe durch die Stadt oder auch nur durch das College läuft. Einerseits fühlt es sich ein bisschen wie eine Verkleidung an – besonders für jemanden, der keine Schuluniform gewöhnt ist. Andererseits macht es Spaß, sich so einer alten Tradition einmal hinzugeben und es macht so ein Abendessen auch zu etwas sehr Besonderem.

Mehr Cambridge geht nicht: Formal Hall im College

Im College sind die Formal Halls nach Studienlevel unterteilt: Von montags bis donnerstags finden die Abendessen für die Undergrads statt und freitags und Samstag für die Postgrads. Als Masterstudentin gehörte ich zu letzteren und besuchte mein erstes Formal mit meiner amerikanischen Zimmernachbarin Katherine. Clare hat zwar einen wunderschönen, ehrwürdigen Saal – aber der wurde natürlich genau in dem Jahr renoviert, in dem ich hier war. Angeblich musste einem Studenten erst ein Ölgemälde fast auf den Kopf fallen, damit der Saal auf Renovierungsbedarf geprüft wurde. Statt in der Great Hall fanden die Essen nun in einem kleineren Raum im ältesten Gebäude des Colleges statt. Für günstige 13 Pfund gab es drei Gänge und zwei Flaschen Wein pro Tisch mit maximal sechs Personen. Das Essen war für britische Verhältnisse recht gut gewürzt und tatsächlich schmackhaft. (Das Vorurteil, die Briten können nicht kochen, stimmt leider doch in vielen Fällen, wenn auch Ausnahmen die Regel bestätigen.)

Vor Beginn des Dinners ging es auf einen Sherry in die Bar der Postgrads – englischer wird es nicht mehr, dachte ich. Zum Glück war die Stimmung, trotz Sherry, nicht versnobt, sondern heiter. Die meisten Studenten amüsierten sich über sich selbst, wie sie so in schwarzer Robe an einem Sherry-Glas nippten und über ihre aktuelle Recherche sprachen. Es war ein interessanter Mix von Neu und Alt: hippe Hauptstadtfrisuren, Tattoos, Piercings, bunte, teilweise abgedrehte Klamotten – wie sie vor einigen Jahren noch nicht in dieser Umgebung möglich gewesen wären – und dazu die schwarzen Gowns, die Ledersofas, der Sherry, die kleinen, verzinnten Buntglasfenster. Das Essen wurde hübsch angerichtet, auf großen Tellern, von fein angezogenen Kellnern serviert. Die Tische waren mit dem collegeeigenen Tafelsilber eingedeckt. Kerzen sorgten für eine gemütliche Stimmung – so gut es eben in diesem „Ersatzraum“ ging. In der Great Hall sitzen alle an einer langen Tafel. Jetzt wurden wir den Regeln entsprechend an Tischen zu sechst gesetzt, Katherine und ich kannten unsere Tischnachbarn nicht. Das erwies sich allerdings nicht als Problem, alle waren auf neue Leute aus, so schien es. Es wurde ein heiterer Abend mit interessanten Gesprächen. Nach dem Essen ging es noch auf ein Getränk zurück in die benachbarte Bar, bevor Katherine und ich den Rückweg über die collegeeigene Brücke über die Cam zu unserem Wohnheim antraten. So fühlt sich also die schöne Seite eines Cambridge-Studiums an.

Am schönsten erkundet sich Cambridge vom Wasser aus

Auf den sonnigen April hatte leider ein verregneter Mai gefolgt, doch die hartgesottenen Engländer saßen trotzdem im Biergarten oder in einem der Stechkähne – dann jeweils eben mit Regenschirm. Mein erster Versuch im Stechkahn fahren fand dann leider auch bei großartig englischem Wetter statt: Im Zickzack stakte ich mit einer Freundin den Fluss erst hinunter und dann wieder hinauf. Was bei den geführten Touren so kinderleicht aussieht, stellt sich in Wirklichkeit doch schwerer heraus: Man muss aufpassen, dass der Stab nicht im Modder stecken bleibt oder man selbst nicht an einer Brücke hängen bleibt – beides würde nass im Wasser enden. Wir blieben zwar nicht trocken, aber das war zum Glück nur dem Regen und der nassen Stange geschuldet.

Tamina mit Katherine in Roben
Formal mit Katherine!

Punting, wie das Stechkahn fahren hier genannt wird, ist vermutlich die schönste Freizeitbeschäftigung in der Stadt. Vom Wasser aus hat man einen tollen Blick in die anderen Colleges und deren Gärten. Gerade jetzt, wo es nicht möglich ist, sich einfach andere Colleges anzugucken, weil die Porter einen abweisen, ist es die beste Möglichkeit zum Sightseeing. Und so wurde Punting zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Nach drei Touren durch die Innenstadt wagte ich mich mit ein paar Freunden sogar nach Grantchester. Fast zwei Stunden dauerte der Hinweg, der jedoch schöner nicht sein konnte: Sobald man die Stadt mit ihren sandsteinfarbenen Colleges verlässt, taucht man in eine liebliche Landschaft mit Schafweiden und Auen ein. Vom Wasser aus hat man das Gefühl, direkt in unbebaute Natur einzutauchen, sobald man den Mill Pond verlassen hat – denn die Ufer sind Naturschutzgebiet und die Bebauung hinter Bäumen und Wiesen nicht zu erkennen. In den Meadows von Grantchester angekommen genossen wir ein kleines Picknick, bevor wir uns aufgrund von Zeitmangel wieder auf den Rückweg machen mussten. Das Wetter war großartig Anfang Juni und viele Studenten badeten in dem flachen, schlammigen Fluss. So eine ausgelassene, fröhliche Stimmung hatte ich im letzten Jahr wirklich vermisst. Aber jetzt war sie endlich zurück – und mit ihr kam nun endlich das Gefühl, angekommen zu sein. Es fühlte sich endlich ein wenig nach Erasmus an, wie es sonst sein sollte.

Und auf einmal war alles wieder vorbei

Obwohl das letzte Term genauso lang war wie die zwei zuvor, verging es gefühlt dreimal so schnell. Wie schnell die Zeit vergehen kann, war mir bewusst – also versuchte ich aus jedem Tag das Maximale herauszuholen. Dreiviertel meines Erasmus-Jahres hatte ich im Lockdown, in meinem Zimmer verbracht. Jetzt wollte ich all das nachholen, das ich zuvor verpasst hatte. Ich machte „To See“-Listen, arbeitete jeden Tag in einem anderen Cafe, erkundete neue Stadtviertel und Pubs, machte Ausflüge in die Umgebung, veranstaltete Picknicks mit Freunden. Alle paar Tage fand nun eine Abschiedsfeier statt. Die Erasmus-Studenten verließen nach und nach die Stadt. Ich wollte bis Juli bleiben, jede Minute auskosten, die ich in dieser schönen Stadt haben kann. Trotzdem war es schwer, immer im Hinterkopf zu haben: Sehe ich diese Person jetzt vielleicht zum letzten Mal? Habe ich das letzte Mal hier einen Kaffee getrunken? Die Stimmung war gemischt: Einerseits freuten wir uns über die schöne Zeit, die wir hatten. Andererseits waren wir traurig, dass unsere Gruppe bald in ganz Europa verstreut sein würde.

Tamina in schwarzer Studienrobe auf dem Rasen vor dem College.
Tamina vor dem College.

Am Ende des Terms fand dann auch das sportliche Highlight in Cambridge statt: Die Regatta. Mein College war das einzige, das drei Frauenmannschaften für die Novices stellte. Jeden Tag gab es ein Rennen gegen ein Team eines anderen Colleges. Insgesamt schnitten wir sehr gut ab und konnten einige Rennen gewinnen. Am schönsten war jedoch das Zugehörigkeitsgefühl, das so ein Turnier vermittelt. Am letzten Tag der Regatta gab es dann zum krönenden Abschluss das Boat Club Dinner: Und aufgrund der Corona-Maßnahmen gab es Pizza unter einem großen Zelt im Hof, anstelle eines feinen Drei-Gänge-Menüs in edler Abendgaderobe in der Great Hall. Die Veranstaltung an sich konnte trotzdem nicht mehr „Cambridge“ aus allen Poren schreien: Die Captains, Coaches und Mitglieder des Committee trugen Blazer in den Farben des Clubs, die je nach Rang gestaltet waren. Es gab Reden von jedem der über sechs verschiedenen Teams und schließlich auch noch anonym eingereichte Anekdoten aus dem letzten Jahr.  Es sollte einer der schönsten Abende in Cambridge werden. Danach konnte ich verstehen, wie sehr Sport Menschen zusammenbringen kann. Es ist wirklich schade, dass es eine solche Clubkultur nicht in Berlin gibt – ich werde das und das Rudern vermissen.

Und obwohl ich Tag ein Tag aus im Mai und Juni unterwegs gewesen war, hatte ich nicht das Gefühl, bereit zu sein, Cambridge wieder zu verlassen, als der Juli näher rückte. Noch so viel mehr zu sehen, zu machen, zu erleben, dachte ich. Doch dann machte mir Corona erneut einen Strich durch die Rechnung und ließ mich die letzten beiden Wochen in Cambridge nicht draußen im Punt, sondern fiebrig und krank im Bett verbringen. Einen härteren Schnitt hätte es vermutlich nicht geben können. Im Taxi zum Bahnhof fuhr ich ein letztes Mal an dem Panorama der „Backs“ vorbei, die Chapel des King’s College im Hintergrund. Es fühlte sich nicht an wie ein „Goodbye“. Es war eher ein „see you later“. Bis bald, Cambridge.

Teil 11: Die sportliche Seite eines Cambridge-Studiums

Und dann war es auf einmal Frühling. Er brachte nicht nur Sonne, sondern auch Lockerungen und damit eine freundlichere Stimmung, Freizeitaktivitäten und Möglichkeiten zum Kennenlernen und Unternehmen mit sich. Bisher kannte ich in Cambridge nur die akademische Seite des Studiums: Kurze, sehr stressreiche Terms, wöchentliche Essays, manchmal entspannte, häufig verhörähnliche Supervisions und das Gefühl, immer noch mehr gemacht haben zu müssen. Statt meines bisherigen Tagesablaufs – bestehend aus 8 Uhr aufstehen, Sport, Frühstück, 9 Uhr an den Schreibtisch, 13 Uhr kurze Mittagspause, weiter arbeiten bis 18 Uhr, danach etwas Freizeit in Gestalt von Skype oder Netflix, Abendessen und schlafen – hatte ich nun kein Projekt mehr zu erledigen, kein Essay mehr zu schreiben, keine Supervision mehr vorzubereiten, kein Seminar mehr, für das ich Texte bearbeiten musste. Ich war frei. Ein Blick auf meinen Kalender verriet mir, dass ich nur noch zwei Monate in Cambridge hatte, denn mittlerweile war es fast Mai. Panik stieg in mir auf. So viel was ich noch machen wollte und aus verschiedenen Gründen bisher noch nicht konnte! Das musste sich ändern.

Freizeit statt Schreibtisch – und jetzt?

Wer in Cambridge studiert, wird viel von der sogenannte „Cambridge experience“ hören. Ich weiß bis heute nicht genau, was genau das jetzt sein soll, aber was für mich dazu gehört, sind sogenannte „Formal Halls“ im College, Socities und Supervisions. Letzteres hatte ich bereits 12-mal erleben und daher erfolgreich abhaken können. Blieben noch die „angenehmen“ Dinge. In meiner bisherigen Zeit in Cambridge hatte ich mehr Essays geschrieben als Leute kennengelernt. Und das fiel mir besonders auf, als ich keine Essays mehr zu schreiben hatte. Also beschloss ich, neuen Socities beizutreten und entdeckte zum ersten Mal in meinem Leben Mannschaftssport für mich.

Vom Sportmuffel zum Frühaufsteher: Cambridge machts möglich

Eigentlich hatte ich mich zum Rudern schon im ersten Term angemeldet. Aufgrund des Lockdowns, der Anfang November einsetzte, war jedoch kein Training bis April möglich gewesen. Rudern ist „typisch Cambridge“ und auf jeden Fall Teil der bereits erwähnten „Cambridge-Erfahrung“: Jedes College hat seinen eigenen Club und normalerweise wird das ganze Jahr trotz Wind und Regen auf dem Wasser trainiert. Am Ende des zweiten und dritten Terms finden dann die „Bumps“ statt: Rennen, in denen die Achterboote gegeneinander antreten und versuchen, die vorderen Boote zu rammen und damit zu disqualifizieren. Normalerweise ist das eines der größten Highlights in einem Cambridge-Jahr. Doch aufgrund von Corona konnte kaum Training stattfinden. Deswegen wurden die „Bumps“ auch abgesagt. Stattdessen wird es im Juni eine Regatta geben – das erste Mal in der Geschichte der Uni. Dafür wurde jetzt so oft es ging trainiert. In meinem College hatten sich über 40 Studentinnen für die Anfängerboote, genannt Novices, gemeldet. Ich meldete mich für zwei bis drei „Outings“ pro Woche an. „Outings“ sind Trainingseinheiten auf dem Wasser in den typischen Achterbooten. Früh am Morgen oder nachmittags ging es nun jeweils zwei Stunden aufs Wasser. Und erstaunlich schnell stellten sich Verbesserungen ein: Während ich am Anfang noch Probleme hatte, mir die einzelnen Bewegungen zu merken, waren wir als Team schon bald synchroner.

Taminas Ruderteam in Neoprenanzügen
Das Ruderteam in Montur

Rudern ist natürlich anstrengend – aber es macht auch unglaublich viel Spaß, besonders in so einer schönen Stadt wie Cambridge. Denn obwohl man mit Sprints und Übungen durch die Coaches beschäftigt wird, hat man in den Pausen zur Erholung oder beim leichten Paddeln tolle Ausblicke auf den Fluss und die grünen Parks und Weiden drumherum. Cambridge ist wirklich herrlich grün und viele nutzen die Flächen zum Picknicken, Lesen und Sonnen, sobald ein Sonnenstrahl sich blicken lässt. Der, wie ich finde, anstrengendste Teil des Rudertrainings folgt jedoch an Land, wenn wir – völlig fertig von den Sprints – das schwere, lange Boot wieder ins Bootshaus tragen müssen. Das saugt einem das letzte bisschen Kraft.

Freizeitclubs und Sportarten sind vielseitig und günstig – dank Finanzierung durch die Uni

Und obwohl das Rudern natürlich körperlich anstrengend ist, hat es dafür gesorgt, dass ich mich im College endlich angekommen fühle. Fast jedes Mal lerne ich andere Studentinnen kennen, die mit mir im Boot sitzen. Auf dem Weg zurück zum College hat man immer schnell ein Thema, über das man sich unterhalten kann: Rudern. Und schließlich veranstaltet der Boat Club sogenannte Socials, also Kennenlernabende, zum Beispeil im Pub. Nach wenigen Wochen im Ruderclub vergeht kein Tag, an dem ich nicht durch das College laufe und jemanden grüße, auf einen Schwatz stehen bleibe. Vorher wirkte der graue, riesige Gebäudekomplex wie eine anonyme Mietskaserne in Berlin. Jetzt ist es mein Zuhause geworden. Eigentlich hätte die internatsartige Atmosphäre der Colleges dafür sorgen sollen, dass sich die neuen Studenten schnell einfinden können. Aber aufgrund der Beschränkungen durch Corona konnten gemeinsame Abendessen in der Great Hall (genannt Formal Halls), Welfare Teas (Teerunden mit gratis Gebäck) oder Freizeitclubs, genannt Societies, nicht stattfinden. Man war mehr oder weniger in seinem Zimmer eingepfercht, mit einer winzigen Küche, ohne Freizeitaktivitäten oder irgendeinen anderen Ausgleich, aber mit dem gleichen akademischen Stress.

Neben dem Rudern meldete ich mich ebenfalls beim Cambridge University Riding Club und beim CU Polo Club an. Letzteres kann man wohl nur in England so einfach machen. Polo spielen ist eigentlich ein extrem teurer Sport. Aber da in Cambridge alles durch die Uni oder die Colleges querfinanziert wird, sind die meisten Sportarten wie Rudern kostenlos und Polo oder Reiten kosten nur ein paar Pfund. Sobald man es einmal nach Cambridge geschafft hat, kann man sich ganz leicht wie ein Angehöriger der Aristokratie fühlen… Ob das die „Cambridge experience“ ist?

Teil 10: Schon wieder Quarantäne, schon wieder Stress

Aufgrund der Einreisebeschränkungen musste ich mich schon wieder in Quarantäne begeben, als ich nach Ostern zurück in das Vereinigte Königreich einreiste. Diesmal entschied ich mich jedoch, meine Qual durch das „Test to Release“ Programm um fünf Tage zu verkürzen und einen PCR-Test am 5. Tag zu machen. Ich hatte auf schön englisches Wetter mit Regen gehofft, damit ich ohne „Fear of Missing Out“, kurz FOMO, an meiner letzten Hausarbeit in Cambridge arbeiten konnte.

Im Gegensatz zu den bisherigen Essays, die hier geschrieben habe, war meine Abschlussarbeit für das Mastermodul deutlich anspruchsvoller – und gleichzeitig gab es keine Supervisions oder sonstige Hilfen, die mir die Recherche oder meine Argumentation vereinfacht hätten. Als ich in meinem Zimmer im College wieder ankam, wartete auf mich ein riesiger Stapel dicker Bücher, ein Laptop und eine Deadline, die mir jede Minute im Nacken saß.

Note to myself: Prokrastinieren funktioniert auch in der Quarantäne (leider)

Bisher hatte ich mich gerne kopfüber in die Arbeit gestürzt und viel Herzblut in meine Recherchen und Essays gegeben. Und auch wenn das Thema, britische und französische Rivalitäten in den pazifischen Inseln im 19. Jahrhundert, sehr interessant war – so war doch irgendwie die Luft bei mir aus. Ich war absolut genervt davon, eingesperrt zu werden, Unsummen an Geld für Tests zu bezahlen und meine Zeit in immer dem gleichen Zimmer zu verschwenden. Dementsprechend schleppend lief dann auch meine Recherche an.

Mithilfe von täglichen Workouts über Zoom und Videotelefonaten mit Freunden zuhause versuchte ich mir meine mentale und physische Gesundheit in der erneuten Isolationshaft aufrechtzuerhalten. In Cambridge hatte ich immer wieder das Gefühl, zu schlecht, zu langsam zu sein und zu wenig zu leisten – ein Gefühl, dass hier tatsächlich jede und jeder hat und von den Studierenden als „imposter syndrome“ – das Hochstaplersyndrom – bezeichnet wird. Auch ich fragte mich mehrmals, wenn ich wieder an einem Kapitel verzweifelte, was genau ich hier eigentlich tue.

Was mache ich hier eigentlich?


Obwohl ich nach dem sechsten Tag die Quarantäne verlassen konnte, verbrachte ich doch die meiste Zeit in meinem Zimmer an meinem Schreibtisch. Denn die Bibliotheken stellten nur wenige Arbeitsplätze zur Verfügung und waren permanent ausgebucht. Vermutlich hätte ich mir einen Wecker stellen müssen in der Nacht, wenn die neuen Plätze für die nächste Woche freigeschaltet wurden – aber das war mir dann doch zu doof. Also saß ich Tag ein, Tag aus an meinem unbequemen Schreibtisch im Jugendherberge-Stil und wälzte Bücher zu Tahiti, Neukaledonien oder Fidschi. Auch wenn mein Master breit gefächert ist, so hatte ich mich noch nie mit den pazifischen Inseln in meinem Geschichtsstudium beschäftigt. Daher musste ich nicht nur jeden zweiten Namen nachschlagen, um sicherzugehen, dass ich Inseln nicht mit Personen verwechsle, sondern musste mich auch noch selbstständig in französische Kolonialgeschichte einarbeiten.

Ein Spaziergang über die Ländereien.
Lockdown activities: Spazieren gehen mit Kühen.

Als ich das Thema ausgesucht hatte, hatte ich mich gefreut, etwas ganz neues, eine kleine Herausforderung anzutreten. Mein Ich drei Monate später bereute die Entscheidung allerdings: Nach einem Jahr online studieren hatte ich genug vom immer alleine im Zimmer sitzen, lesen, Notizen schreiben, innere Monologe führen. Normalerweise würde man sich für die Recherche in kleinen Gruppen treffen, Themen gemeinsam durcharbeiten und diskutieren. Nur noch zwei Tage, die Uhr tickte. Ich war schon völlig im Verzug mit meinem Zeitplan, hatte noch keinen Essayplan und noch kein Wort von den fälligen 4000 geschrieben. Der Stress löste schließlich doch noch Motivation aus – gutes Pferd springt knapp, sagt man doch. Und zwei Nachtschichten später hatte ich plötzlich die Menge an Wörtern auf digitalem Papier, die gebraucht wurden. Und Lesen konnte man das zum Glück auch irgendwie.

Gutes Pferd springt knapp

Und dann kam der große Tag der Abgabe. Für mich war dieses lange Essay wie eine heiße Kartoffel: ich wollte es schnell loswerden. Wenn man an einem Text so lange gearbeitet hat, solange geschraubt, verbessert hat, verzweifelt ist, dann will man ihn einfach nur noch loswerden und abschicken. Ich konnte mich gerade noch aufraffen, um ihn noch einmal zu lesen – und dann schickte ich die E-Mail an meinen Dozenten ab. Kurz verschnaufte ich an meinem Schreibtisch. Was tun mit der neuen Freiheit? Eine Woche zuvor, kurz nach meiner Ankunft, wurden weitere Lockerungen in England vollzogen: Geschäfte hatten wieder offen, die Gastronomie durfte draußen wieder den Betrieb aufnehmen. Zur Feier des Tages ging ich in den nächsten Pub mit Terrasse am Wasser und trank einen Cider. Lasset die schönen Tage beginnen! Jetzt konnte endlich der schöne Teil meines Erasmus-Jahrs starten, bitte.

Teil 9: Endlich Frühling in Cambridge

Vor dem ältesten College in Cambridge namens Peterhouse blühten Ende März schon die Kirschen.

Die acht Wochen des zweiten Terms verstrichen wieder wie im Flug. Ende März konnte ich kaum glauben, dass das Semester schon wieder vorbei war. Wie viel doch in acht Wochen passieren kann! Erst die Ankündigung des dritten nationalen Lockdowns in England, dann das Verbot meiner Rückkehr nach Cambridge, und schließlich der ganze Stress mit meinen Kursen und Lehrenden an der Gastuniversität, die das Prinzip von Erasmus nicht verstanden zu haben schienen.

Nichtsdestotrotz habe ich nicht bereut, in diesem Jahr Erasmus in England gemacht zu haben. Durch die vielen Brexit- und Corona-bedingten Unannehmlichkeiten habe ich zwangsläufig lernen müssen, mich selbst gut zu organisieren und mit dem Gefühl zurecht zu kommen, unerwünscht zu sein, sich trotzdem durchsetzen zu können und schlussendlich trotz allem weiterzumachen. Die online Lehre in Cambridge war zudem deutlich besser umgesetzt als in Berlin. Und das Supervision-System ist einfach unglaublich gut, um in neue Themen schnell und tief einzutauchen und anregende Diskussionen zu führen. In zwei Terms habe ich mehr akademischen Austausch erlebt als in vier Jahren Studium in Berlin. Der ganze Stress lohnt sich also.

Die vermutlich am stärksten frequentierteste Spazierstrecke in Cambridge – die Grantchester Meadows

Picknick bei 14 Grad? In England normal

Pünktlich zum Ende des Terms begann der Frühling in Cambridge. Bei 14 Grad und Sonne-Wolken-Mix trafen sich die zurückgekehrten Studierenden entlang der Cam auf den Wiesen und picknickten. Nicht wenige gingen sogar in der Cam baden – die spinnen, die Engländer. 😉 Obwohl nur wenige meiner Mitbewohner ins College zurückgekehrt waren, hatten wir eine nette Gemeinschaft. Es wurden neue Brettspiele oder Rezepte getestet und zweiwöchentlich gab es einen Filmabend für alle Geschichtsstudis des Clare College. Auch wenn die College-Erfahrung wohl deutlich ausgeprägter ohne Corona gewesen wäre, so bin ich froh, wenigstens einen Teil davon mitbekommen zu haben.

Auch ein paar andere Erasmus-Studierende waren nach Cambridge zurückgekehrt. Unsere Whatsapp-Gruppe erwies sich nun als Segen: Verteilt über die ganze Stadt in verschiedenen Colleges wäre es vermutlich sonst unmöglich, sich zu verabreden.  Inspiriert von den Einheimischen verabredeten wir uns zu einem Picknick in den Grantchester Meadows, einer Auenlandschaft und beliebtem Spazierweg zwischen Cambridge und dem gemütlichen Dorf Grantchester. In der Sonne ließ es sich trotz 14 Grad gut aushalten. Das Gras leuchtete grün, die ersten Knospen und Blüten waren zu erkennen und Krokusse und Osterglocken blühten so weit das Auge reichte.

Nach der Quarantäne und dem Ende des Lent Term war endlich wieder Zeit, sich mit Freunden zu ausgelassenen Spaziergängen zu verabreden.

Manchmal muss es eben Glück sein

Eigentlich war es allen Studierenden verboten worden, über die Osterferien das College zu verlassen und nach Hause zu fahren. Aufgrund der niedrigen Fallzahlen und der gut laufenden Impfkampagne in England wurde diese Regel jedoch fallen gelassen. Es wurde uns erlaubt, das College über die Ferien zu verlassen und nach Ostern wieder dorthin zurückzukehren. Angesichts des sonst herrschenden Reiseverbots für das United Kingdom nutzte ich diese Chance, um meinen Freund in Polen besuchen fahren zu können.

Und als hätte Polen nur so auf meine Ankunft damit gewartet, wurde natürlich kurz vor meiner Einreise ein Lockdown im Land verhängt. Trotzdem wurden es zwei entspannte Wochen, in denen ich neue Kraft für mein letztes Term in Cambridge und mein letztes langes Essay tanken konnte, welches mir nun noch zwei Wochen im Nacken sitzen wird.

Teil 8: Zurück auf die Insel

In England ist es Gang und gebe, direkt nach den A-Levels, dem britischen Äquivalent zum Abitur, ein Studium zu beginnen. Aus diesem Grund haben (fast) alle Bachelor-Studierende noch ein Kinderzimmer bei ihren Eltern, in das sie nun zurückkehren konnten, nachdem der dritte Lockdown in England eine Rückkehr ans College verhinderte. Ich hatte eine solche Möglichkeit nicht. Zum einen bin ich eine Masterstundentin und wohne daher schon einige Jahre in meiner eigenen Wohnung, zum anderen hatte ich mein WG-Zimmer für das gesamte Jahr untervermietet. Aus diesem Grund beantragte ich eine außerordentliche Rückkehr in mein Zimmer in Cambridge. Mitte Februar wurde mir dafür schließlich eine positive Antwort übermittelt.

Einerseits freute ich mich auf die Rückkehr nach England, denn dort empfand ich die Mentalität und Stimmung der Menschen nicht nur als angenehmer und hoffte, dass mir die Motivation und Konzentration auf mein Auslandsstudium vor Ort leichter fallen würde. Außerdem wollte ich so viel Zeit wie möglich in meinem Lieblingsland verbringen. Denn aufgrund des Brexits wird das Studieren und Arbeiten in Großbritannien zukünftig nicht mehr so einfach möglich sein. Andererseits hatte ich mich wieder in Berlin eingelebt und mich an das Zusammenleben mit meinem Freund gewöhnt, weswegen mir der Abschied dann doch schwer fiel. Zusätzlich ist Reisen in Pandemiezeiten unglaublich anstrengend.

… und ab in die Quarantäne

Bevor man nach England einreisen darf, muss man einen negativen PCR-Test machen, zwei weitere Tests für ganze 210 Britische Pfund buchen, ellenlange online-Formulare ausfüllen und sich schließlich nach der Ankunft für zehn Tage in Quarantäne begeben. Obwohl ich alle Dokumente beisammenhatte, war die Rückreise nach England äußerst stressreich.

Bereits am Flughafen herrschte Chaos – und das obwohl der BER gähnend leer war. An vier Schaltern tummelten sich die Fluggäste meines Fluges. Und nicht alle schienen so gut vorbereitet: Es gab Tränen bei vielen jungen Passagieren, die scheinbar nicht ausreichende Nachweise vorweisen konnten. Nach dem Sicherheitscheck am Gate gab es immer wieder neue Ansagen, Dokumente wurden wieder und wieder geprüft. Irgendwann saß ich im Flieger. Und spät in der Nacht erreichte ich dann völlig fertig nach mehreren Stunden Reisezeit mein College.

Vor der Quarantäne hatte ich mich sehr gegruselt. Bisher konnte ich diese immer durch einen Test umgehen. Zehn Tage nicht rausdürfen? Das klang für mich nur schwer aushaltbar. Von meinem Mitbewohner Luc wusste ich, dass das Essen in der Quarantäne fast nur aus Dosensuppen besteht. Ich liebe Kochen und frisches Essen. Dosenessen ist daher für mich ein absoluter Graus. Doch am Ende sollte es gar nicht so schlimm werden, wie zunächst angenommen.

Der Uni-Stress half durch die Quarantäne

Statt Dosenessen gab es vorgekochtes und portionsweise eingefrorenes Essen aus der Buttery, der College-Mensa. Das war tatsächlich genießbar. Und die Tage vergingen dank des hohen Arbeitsaufwands für meine drei Kurse wie im Flug. Ich gewöhnte mir einen gut strukturierten Tagesablauf an, um nicht in meinen vier Wänden durchzudrehen: Früh aufstehen, Yoga oder Sport machen, frühstücken, erste Vorlesungen anschauen, danach zwei Aufsätze lesen, Mittag essen, Notizen für mein Essay schreiben, nachmittags sich zu den Zoom-Meetings schalten, Abendessen und britische Serien zur Belohnung für den überstandenen Tag und gegen das „Fernweh“ nach draußen gucken.

Der Uni-Stress half mir durch die zehn Tage. Während ich zu Beginn des Terms das Gefühl hatte, als Erasmus-Studentin in den neuen Kursen unerwünscht zu sein und dafür kämpfen musste, eine Prüfung schreiben zu dürfen, ging nun alles viel leichter. Meine neue Supervisorin war deutlich netter und verständnisvoller, die Themen für die Essays aktuell und spannend und unsere Diskussionen in den Supervisions wieder auf Augenhöhe. Endlich konnte ich wieder ansatzweise so studieren, wie es in Cambridge gedacht ist.

Und dann waren die zehn Tage Quarantäne auch schon wieder vorbei. An meinem ersten Tag in Freiheit machte ich einen langen, zweistündigen Spaziergang durch Cambridge. Nicht einmal der Nieselregen konnte mir meine gute Laune vermiesen. Jeden darauffolgenden Tag nutzte ich, um mich draußen mit Freunden auf einen Kaffee zu treffen oder allein neue Ecken in der Stadt zu erkunden. Es war ein ganz neues Gefühl der Freiheit und der Dankbarkeit über eben diese.

Boris Exit-Plan: Licht am Ende des Corona-Tunnels

Zusätzlich gab der Exit-Plan der britischen Regierung Hoffnung: Anders als in Deutschland, wo der Lockdown nur weiter endlos verlängert wurde, war in England Land in Sicht. Alle fünf Wochen würden weitere Öffnungen erfolgen. Zuerst Ende März die Wiederaufnahme von Outdoor-Sport in Socities und die Erlaubnis, sich mit sechs Personen draußen treffen zu dürfen. Mitte April sollen unteranderem alle Geschäfte, Friseure und Bibliotheken erneut geöffnet und auch die Pubs und Restaurants sollen dann draußen wieder Essen und Trinken servieren dürfen. Im Mai sollen dann internationale Reisen wieder erlaubt und Ende Juni schließlich alle Maßnahmen fallen gelassen werden. Das machte Hoffnung auf ein Ende dieses Spuks, der nun schon seit über einem Jahr weltweit herrscht.

Teil 7: Über die Herausforderung, zuhause im Ausland zu studieren (II)

Für mich persönlich hat das online-Studium keine großen Vorteile. Meiner Meinung nach sind Diskussion und Austausch die wichtigsten Güter in einem Seminar. Und obwohl die Umsetzung bei den meisten meiner Kurse in Cambridge sehr gut und deutlich besser als in Berlin gewesen ist, waren die meisten Zoom-Meetings eher austauscharm. Sich selbst die ganze Zeit im Meeting zu sehen, das Gefühl, von anderen permanent beobachtet zu werden, kein netter Smalltalk im Flur vor dem Raum – diese Eigenschaften der Online-Lehre machen das Studium distanziert und reservierter.

Im ersten Term hatte ich wenigstens das Glück, dass meine Supervisions, wie die kurzen Feedbackgespräche mit Lehrenden genannt werden, analog stattfanden. Einmal pro Woche konnte ich dort mit einem jungen, engagierten Dozenten über mein wöchentliches Essay diskutieren. Meistens gab es kurze, interessante und vor allem persönliche Lektionen zu Themen und Fragen, die in den Vorlesungen oder in der Recherche zum Essay unbeantwortet blieben. Jetzt fiel sogar dieser wöchentliche Lichtblick weg. Alles fand online statt.

Erasmus ohne Erasmus-Erfahrung

Während es bei Vorlesungen praktisch sein kann, wenn diese vorher aufgezeichnet und dann hochgeladen werden, ist es mindestens genauso verlockend, diese immer wieder vor sich herzuschieben. Im Wintersemester mangelte es mir zu Beginn sehr an Motivation. Ich hatte das Gefühl, nur die Nachteile eines Studiums in Cambridge erfahren zu dürfen: Stress, das Gefühl nie genug Zeit für eine Aufgabe zu haben, Nachtschichten, keine Wochenenden. Ich konnte keine anderen Studierenden kennenlernen und meine neue Supervisorin, die auch meine Director of Studies ist, schien ebenfalls genervt und überarbeitet und hatte nicht wirklich Zeit oder Interesse an unseren Meetings. Nach zwei Wochen teilte sie mir deswegen jemand anderen zu. Mein Glück, wie sich später herausstellte.

Immer nur arbeiten? Das kann nicht gesund sein

Zusätzlich gab es immer wieder Probleme mit dem WLAN oder mit Büchern von den wöchentlichen Reading Lists, die ich von Deutschland aus nicht runterladen konnte. Zwar gab es einige Titel in den Berliner Bibliotheken, diese hatten aber entweder nur beschränkt offen oder ihre Ausgabe dauerte zu lange für meine wöchentlich wechselnden Themen. Während ich im ersten Term Freude an der Herausforderung des Studiums in Cambridge hatte, war ich nun zunächst nur genervt. Das sollte also jetzt mein Leben sein? Immer nur arbeiten von früh bis spät und keinerlei Möglichkeit zur Zerstreuung, weil alles geschlossen hat und die Freunde sich in ihren Wohnungen verstecken? Das kann doch nicht gesund sein.

Wintersport zuhause? Sehr gerne!

Doch irgendwie schaffte ich es, mich den neuen Herausforderungen anzupassen, meine Essays fristgerecht einzureichen, meine Kurse vor- und nachzubereiten. Einen kleinen Lichtblick und Ablenkung brachte der plötzliche Wintereinfall im Februar: Für zwei Wochen konnte ich Winterurlaub zuhause machen, mit Rodeln und Schlittschuhlaufen! Das war herrlich. Und dringend benötigt.

Mitte Februar kam dann eine E-Mail meines Colleges. Ich hatte vor Beginn des Wintersemesters einen Antrag auf Rückkehr aufgrund besonderer Umstände gestellt. In Berlin konnte ich nur bis zum 20. Februar bleiben, danach würde mein Freund selbst sein Erasmus-Semester in Polen antreten und sein Zimmer untervermieten. Somit hätte ich erneut keinen Platz zum Arbeiten mehr gehabt, nachdem die eigentliche Bewohnerin meines zwischenzeitlichen Arbeitsplatzes auch zurückgekehrt war. Nach langem hin und her wurde mein Antrag dann aber doch genehmigt. Und so durfte ich Ende Februar dann – mit gemischten Gefühlen – zurück nach England reisen.

Teil 6: Über die Herausforderung, zuhause im Ausland zu studieren

Als ich Anfang Dezember für die Feiertage aus England zurück nach Hause fuhr, verließ ich ein Land in Aufbruchstimmung: Pubs, Restaurants, Museen und Bibliotheken waren geöffnet, Menschen saßen drinnen bei einem Pint zusammen und waren froh, endlich wieder soziale Kontakte pflegen zu können. Ich wusste, dass die Stimmung in Deutschland anders war – doch meine Vorfreude meinen Freund, meine Familie und meine Freundinnen und Freunde wiedersehen zu können war glücklicherweise größer als mein Unmut über die eingeschränkten Möglichkeiten in Berlin.

Unglücklicherweise wurde nur wenige Tage nach meiner Heimkehr ein neuer Lockdown in Berlin verhängt. Nach nur zweieinhalb Wochen Freiheit wurde meinem Leben also ein neuer Riegel vorgeschoben. Selbst die Glühweinstände, an denen man sich warme Getränke zum Mitnehmen für die Spaziergänge mit Freunden kaufen konnte, mussten jetzt dicht machen. Statt des Weihnachtsessens in meiner Wohnung mit dem gesamten Freundeskreis gab es nur Gemütlichkeit in kleiner Runde mit der Familie. Und dann war das Jahr auch schon vorbei. Wie viele andere hoffte auch ich, auf ein lang ersehntes Ende dieses Wahnsinns im neuen Jahr. Bitte lass 2021 besser werden, hoffte ich.

Neues Jahr, neues Glück? Eher nicht

Leider kam es dann doch anders als erhofft. Bevor ich nach Berlin zurückflog, hatte ich in Cambridge mit vielen anderen Studierenden und Lehrenden die Hoffnung auf einen zweiten Term in Präsenzbetrieb. Die Chancen dafür sahen gut aus, wurde doch der Lockdown beendet und die Impfkampagne in Großbritannien schon Anfang Dezember gestartet. Es sollte jedoch das Gegenteil eintreten.

Kurz nach Neujahr überschlugen sich die Nachrichten: in England wurde ein landesweiter neuer Lockdown verhängt, kurz darauf folgte die Ankündigung den Term komplett online stattfinden zu lassen. Wenig später wurde schließlich allen Studierenden die Rückreise ans College verboten. Innerhalb weniger Tage zerbrach mein schön zurechtgelegter Plan und alle Sicherheiten, die ich so dringend gebraucht hatte nach diesem vergangenen Jahr voller persönlicher Verluste und einer emotionalen Achterbahnfahrt nach der anderen.

Erasmus vom Berliner Küchentisch aus

Und so begann mein zweiter Term an der University of Cambridge nicht in England, sondern in Berlin-Kreuzberg, am Küchentisch der WG meines Freundes. Mein eigenes Zimmer hatte ich zu Beginn meines Auslandssemesters untervermietet für das gesamte akademische Jahr. Netterweise fand ich Asyl in der WG meines Freundes: wir teilten uns ein Zimmer, mein Schreibtisch war nun der Küchentisch. So glücklich ich über die schnelle Notlösung war, so schwierig war es dennoch, konzentriert zu arbeiten. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen in der Küche. Richtiges Studieren ist da unmöglich. Während mein Sprachkurs an der Humboldt-Universität bereits kurz nach Neujahr wieder anfing, hatte ich in Cambridge noch bis Ende Januar Ferien. Bis dahin musste ich eine Lösung finden, denn wie sollte ich so wöchentlich Essays schreiben, Vorlesungen folgen, Seminare vorbereiten oder Diskussionen führen, wenn nebenbei immer jemand Essen kocht oder sich einen Kaffee macht?

Improvisierter Schreibtisch: check, Kurs: gesucht

Am Ende hatte ich auch mal etwas Glück. Eine der Mitbewohnerinnen kehrte aufgrund der hohen Fallzahlen in Berlin nicht in die WG zurück und ich durfte ihren Schreibtisch solange benutzen. Online zu studieren ohne vernünftigen Tisch, Stuhl, Licht oder WLAN ist eine Qual und raubt einem den letzten Nerv. Deswegen war ich sehr dankbar über diese Zwischenlösung.

Leider hörten damit die schlechten Nachrichten aber nicht auf. Pünktlich zu Beginn des Semesters in Cambridge ergaben sich die nächsten Probleme: ich war nicht auf der online-Lehrplattform für meinen neuen Masterkurs eingeschrieben, der Dozent wurde zu spät über meine Existenz informiert und zeigte wenig Verständnis dafür, dass Erasmus-Studierende die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten wie reguläre Studierende. Um Punkte angerechnet zu bekommen an meiner Berliner Universität brauche ich eine Abschlussnote für jeden Kurs. Reguläre Studierende schreiben dafür ein Essay am Ende des Terms.

In Cambridge scheint der Brexit pünktlich umgesetzt worden zu sein – und die Erasmus-Studierenden damit vergessen

Für mich war scheinbar nur vereinbart worden, den Kurs besuchen zu dürfen – ohne jedoch eine Prüfung absolvieren zu können. Verzweifelt versuchte ich es bei allen mir bekannten Adressen: meiner Director of Studies, dem Erasmus-Koordinatoren der History Faculty in Cambridge und bei meinem Dozenten. Von niemandem bekam ich eine Antwort auf meine Fragen. Es ist ein absolut dämliches und erniedrigendes Gefühl, nur E-Mails schreiben zu können, in einem anderen Land, in einer anderen Stadt zu sitzen und nicht zu wissen, wo das Problem liegt und wie es sich lösen lässt. Aus Berlin war ich es gewöhnt, als Studentin Sachen selbst in Hand zu nehmen und mich zu kümmern, wenn es Probleme gab – denn hier fühlt sich niemand für die Studierenden zuständig, wer Glück hat, bekommt vielleicht noch etwas Feedback für die Abschlussarbeit.

In Cambridge soll das System so etwas jedoch genau verhindern. Während man sich an seine Tutorin oder seinen Tutor bei allen nicht-akademischen Angelegenheiten wenden kann, ist die oder der Director of Studies für die Organisation deines Studiums verantwortlich. In meiner Hilflosigkeit verschickte ich eine E-Mail nach der anderen – und bekam hauptsächlich passiv-aggressive Rückmeldungen und das Gefühl vermittelt, zu nerven, zu stören und mich gefälligst damit zufrieden zu stellen, hier sein zu dürfen. Lustig. Ich war ja nicht mal da.

Zwei enorm stressreiche, Zoom-Meetings und zahlreiche E-Mails später ließ sich endlich eine Lösung finden. Zwar wurde ich das gesamte Term das Gefühl nicht los, in meinem Masterkurs über das Empire nun ungewollt und bei meiner Director of Studies äußert unbeliebt zu sein, trotzdem konnte ich dahinter einen Haken setzen und mich auf die neuen Kurse und Essays vorbereiten.

Teil 5: Wie man einen Lockdown überlebt, oder: Das Glück, nette Mitbewohner zu haben

In England war der nationale Lockdown deutlich härter, als ich es aus Deutschland gewohnt war: Draußen durfte man sich nur mit einer Person treffen, drinnen nur mit seinem Haushalt. Alle Geschäfte, Bars und Restaurants hatten zu. Es gab keine Sport- oder Freizeitmöglichkeiten. Man durfte sein Haus nur zum Einkaufen oder Sport machen an der frischen Luft verlassen. Nichtsdestotrotz hatte ich am Ende aber doch eine nettere Zeit im Lockdown, als anfangs befürchtet. So war mein Supervisor zum Beispiel sehr verständnisvoll und machte mich nicht zur Sau, obwohl meine Arbeit von dieser Woche nicht so gut war, wie die der letzten beiden Wochen.

Happy Household im Pub nach dem Lockdown
(Foto: Privat)

Auch meine Mitbewohner aus meinem Aufgang im Wohnheim stellten sich als äußert nett und gesellig heraus: Bereits am ersten Wochenende im Lockdown veranstalten wir ein kleines Get-Together für unseren Haushalt. Am Samstagabend fanden sich fast alle unseres Aufgangs und damit Haushalts in meinem Zimmer bei ein paar Getränken zusammen und spielten Card Against Humanity. Diese Tradition würden wir erfolgreich einmal die Woche für die nächsten vier beibehalten. Es war mein wöchentlicher Lichtblick und die einzige Chance, andere Menschen in echt treffen zu können.

Mir fiel es aber zunehmend schwerer, mich für die Uni im Lockdown zu motivieren, jetzt wo alle Freizeitaktivitäten und schönen Sachen wegfielen. Also versuchte ich mich an den Tipps, die das Welfare Team meines Colleges per Mail an alle Studis geschickt hatte: Finde einen geregelten Tagesablauf, esse drei Mahlzeiten am Tag, mache Sport und verlasse dein Zimmer. Ich wurde deswegen zum Frühaufsteher, um vor den Unikursen per Videoschalte am Hochschulsportprogramm der Berliner Unis teilnehmen zu können, buchte mir Arbeitsplätze in Bibliotheken, um zum Arbeiten mein Zimmer zu verlassen und ging zum Mittagsessen auf den Markt, um unter Menschen zu sein. Das hielt mich mental gesund.

Meine großartigste Abwechslung in der Zeit war die Variation der verschiedenen Bibliotheken, in die ich mich zum Arbeiten flüchtete. Eines hatten sie allerdings alle gemeinsam: Sie waren unglaublich kalt. In Großbritannien sind ziehende Fenster normal, deswegen ist es immer etwas kühler, wenn sich nicht gerade viele Menschen in einem kleinen Pub sammeln. Aber aufgrund der Ansteckungsgefahr durch Aerosole reißen sie jetzt auch hier mittlerweile alle wie bescheuert die Fenster auf, weswegen die Studis nun mit Schal und Mütze an ihren Arbeitsplätzen bibbern. Nach den ersten paar Tagen fand ich zum Glück ein paar „wärmere“ Stellen für die nächsten Wochen. Trotzdem musste man immer eine Schicht Kleidung mehr einplanen.

Schönes, englisches Wetter während unseres Ausflugs nach Fen Ditton. (Foto: Privat)

Zusätzlich wurden alle Studis, die im College leben und ihre Einwilligung gaben, mit einem wöchentlichen PCR-Test auf Corona getestet. Und das kostenlos. Im Gegensatz zu deutschen Hochschulen musste Cambridge deswegen auch nicht schließen und bot sogar ganz normalen Präsenzunterricht für einige Fächer an. Insgesamt gab es kaum Corona-Fälle innerhalb der Universität, in meinem Haushalt keinen einzigen. Im Frühjahr des vergangenen Jahres hatte man in Deutschland noch darüber geschmunzelt, wie die Briten die Pandemie bewältigten. In diesem Herbst und Winter hatte ich jedoch das Gefühl, dass sich das Blatt gewendet hatte. Während es in Deutschland für Freunde von mir schwer war, überhaupt an einen Test zu kommen, und der Lockdown dort verlängert wurde, endete er in England planmäßig am zweiten Dezember.

Zum Abschied kam für einen kurzen Moment sogar noch weihnachtliche Stimmung auf, als in Cambridge für einen Morgen Schnee fiel. (Foto: Privat)

Es war die letzte der acht Wochen des Terms, als die Pubs, Restaurants und Geschäfte wieder öffneten. Und so verbrachte ich die Tage abwechselnd mit der Arbeit an meinem letzten Essay und mit Freunden in Pubs und Cafés. Wie vor dem Lockdown gab es nur Bedienung am Tisch und man musste ein Hauptgericht bestellen, wenn man etwas trinken wollte. Trotzdem war es schön, sich endlich wieder außerhalb des Wohnheims treffen zu können. Ich sah Freunde, die ich seit Beginn des Terms nicht mehr gesehen hatte, noch einmal wieder, bevor es für viele über Weihnachten nach Hause ging. Mit meinen Mitbewohnern verabredete ich mich zum Weihnachtsessen in der College-Kantine und am Sonntag zum traditionellen Sunday Roast im Nachbardorf Fen Ditton. Der Weg dorthin war typisch englisch: Immer an der Cam entlang, ging es erst durch Stadtparks und vorbei an den Ruderclubs der Colleges, dann an Hausbooten entlang und schließlich über recht matschige Wiesen. Auf unserem Weg mussten wir kleine Bäche und schlammige Kuhweiden in dichtem Nebel passieren, bevor wir sehr dreckig, aber auch sehr heiter, den Pub erreichten. Bei einem wärmenden Kaminfeuer und leckerem Sonntagsbraten ging der erste Term für mich in Cambridge dann besser zu Ende, als ich es zwischendurch erwartet hätte.


Teil 4: Ein letztes Wochenende in Freude und Freiheit

Auch die dritte Woche des ersten Terms in Cambridge verging wie im Flug. Der hohe Arbeitsaufwand für die Kurse an der Uni verschlang meine gesamte Zeit. Und so pendelte ich zwischen der Leihstelle der Universitätsbibliothek und meinem Zimmer, um die Texte für Seminare und Essays zu lesen, Notizen zu machen und schließlich 2500 Wörter in einer schlüssigen Argumentation aneinanderzureihen. Hinzu kamen mehrere Vorlesungen pro Woche und kleinere Präsentationen für die Seminare sowie die wöchentliche Supervision, in der ich meinen Essay verteidigen musste.

Kurzum: Mein Wohnheim verließ ich nur zum Einkaufen. Und ich fragte mich, wie man dieses Pensum acht Wochen durchhalten soll, wenn man nebenbei nicht auf soziale Kontakte, Sport oder Hobbies verzichten soll. Umso mehr freute ich mich daher auf einen Kurztrip nach Brighton am letzten Oktoberwochenende. Vor drei Jahren habe ich während meines Bachelors zwei Auslandssemester an der University of Sussex in Brighton verbracht. Ein paar Freunde von damals studieren immer noch dort Medizin, und diese wollte ich nun besuchen.

Im Zug nach Brighton wusste ich nicht, dass dieser Ausflug der letzte sein würde

Noch einmal die Sonne am Brighton Beach genießen, bevor der Lockdown einsetzt. (Foto: Privat)

Als ich am Freitagmorgen im Zug zur schönen Küstenstadt saß, wusste ich noch nicht, dass dieser Trip der letzte vor einem drohenden, nationalen Lockdown sein würde. Und so traf ich mich nichtsahnend mit meinen Freundinnen Rachil, Ellie, Catherine und ihren Mitbewohnerinnen nachmittags im Pub und kochte anschließend in gemütlicher Runde in der Wohnküche ihres WG-Reihenhauses vegetarische Mezze und Tapas.

Am nächsten Tag ploppte dann mittags eine Push-Benachrichtigung der englischen Zeitung „The Guardian“ auf meinem Handy auf: Boris Johnson, der britische Premierminister, wird nachmittags eine Pressekonferenz abhalten und vermutlich einen neuen Lockdown ankündigen. Na toll. Doch wir ließen uns davon nicht vorzeitig die Suppe versalzen. Deswegen gingen Rachil, Ellie und ich in Brightons vielzähligen Second-Hand-Läden auf die Suche nach einem Kostüm für die Halloweenparty am Abend und ließen uns auch nicht von dem stürmischen Wetter abhalten, dass den Regen nur so durch die Gassen peitschte. Zur Belohnung gönnten wir uns, fast komplett bis auf die Knochen nass, ein leckeres Mittagessen in einem meiner Lieblingspubs aus meiner Zeit in Brighton. Abends ging es dann im Gruppen-Look der „Heathers“ in einen der Clubs an der Promenade.

Wer Brighton kennt, weiß, wie surreal dieses Bild wirkt

Aufgrund der Corona-Maßnahmen war das ganze eine eher schräge Sitzveranstaltung: An allen Tischen saßen Vierer- bis Sechser-Gruppen, eifrig verkleidet, ein DJ legte live Musik auf und Bedienungen brachten Getränke an den Tisch. Wer Brighton aus Prä-Corona Zeiten kennt, weiß, wie surreal dieses Bild wirkt. Normalerweise hat man in diesem Club kaum einen Zentimeter Platz für sich und alle Gäste drängeln sich an der Bar. Um kurz vor 22 Uhr musste ich mich dann leider wieder verabschieden – und das für eine längere Zeit als geplant. Wenig später saß ich in einem völlig leeren Zug nach Cambridge, glücklich darüber, noch ein letztes Wochenende in Freiheit genossen zu haben.

Clare College in der winterlichen Abendsonne. (Foto: Privat)

Der Lockdown begann am fünften November. Und in Cambridge brach Torschusspanik aus: Die Straßen waren voll, viele Studierende verabredeten sich wie ich ein letztes Mal mit Freunden im Pub, gingen shoppen oder rudern. Auch ich nutzte die verbleibenden vier Tage nicht für meinen Essay, sondern, um andere Menschen zu treffen, einen ausgiebigen Herbstspaziergang im botanischen Garten zu machen, die Charity-Shops zu durchstöbern, noch zweimal rudern und einmal reiten gehen zu können. Eigentlich wäre ich an dem kommenden Wochenende auch nach Berlin für einen kurzen Besuch geflogen. Das fiel nun alles aus. Und so saß ich, wütend über den spontanen Lockdown, panisch wegen meiner drohenden Abgabe und deprimiert wegen der Vorstellung, die nächsten vier Wochen allein zu sein, am fünften November bis spät in der Nacht in meinem Zimmer und versuchte mich recht erfolglos auf die Fertigstellung meines Essays zu konzentrieren. Die kommenden vier Wochen würden nicht nur aufgrund des hohen Arbeitsaufwandes eine Herausforderung werden.


Teil 3: Fresher’s Week

Eigentlich sollte mein Semester am 5. Oktober beginnen. So wurde es mir vor meiner Ankunft mitgeteilt. Nur deswegen bin ich auch nicht alleine, sondern mit meiner Mutter eine Woche vorher angereist, in der Überzeugung, noch Sightseeing machen zu können. Tatsächlich hatte ich dann aber nicht nur Hunderte von E-Mails in der Woche zuvor zu lesen, sondern auch die ersten Zoom-Meetings fanden am Wochenende statt. Und so war ich froh, dass meine Mutter Besuch von einer Freundin aus Devon bekam und ich sie nicht mit schlechtem Gewissen sich selbst überlassen musste.

Die Cambridge Uni und ihre Einzigartigkeit

Cambridge hat ein einzigartiges Unisystem, das nicht nur auf der Insel, sondern auch in Europa einzigartig ist: Jeder Student ist nicht nur Mitglied der Universität, sondern Mitglied eines der 31 Colleges. In diesen Colleges lebt man, isst man und wird versorgt. Jeder Fresher, wie die Erstis hier heißen, bekommt einen Tutor und einen Director of Study zu Semesterbeginn vom College zugewiesen. Der Tutor ist verantwortlich für alles, was nicht akademisch ist, sprich das Wohlergehen des Studenten im College. Er ist immer von einem anderen Fachbereich. Der Director of Study (DoS) hingegen organisiert die akademischen Angelegenheiten, stellt den Stundenplan zusammen, organisiert die Einschreibung in Kurse und ist Ansprechpartner für Probleme im Studium. Er ist deswegen auch aus dem eigenen Fachbereich, in meinem Fall also Geschichte. 

Das englische Rundum-sorglos-Paket für Studenten

In Cambridge wird alles für dich gemacht: gekocht, geputzt, organisiert. Im Prinzip musst du nur selber aufstehen, lesen, denken und schreiben – studieren eben. Ein Rundum-sorglos-Paket wird geboten. Diese Umstellung war sehr seltsam für mich. In Berlin bin ich gewohnt, mich um alles selber zu kümmern: Ich habe eigenständig eine Wohnung gesucht, meine Stromverträge gewechselt, Rechnungen bezahlt, Essen gekocht, geputzt. Wäre nicht Corona, würde jeden Morgen jemand in mein Zimmer kommen, es putzen und das Bett machen. So werden aktuell nur die Gemeinschaftsräume werktags gereinigt. Auch gibt es wegen Corona derzeit kein Frühstück, sondern nur Lunch und Dinner in der Buttery – der Mensa. Allerdings gibt es ein kompliziertes Zeitfenstersystem. In Großbritannien herrscht die „rule of six“: Nur sechs Personen dürfen gleichzeitig unterwegs sein. Im College darf man nur mit seinem ‚Household‘ in der Buttery essen, aber weil alle bei mir kochen, tue ich das auch.

So verbringen echte Engländer ihre Sonntage

Mein erstes virtuelles Treffen mit meiner Tutorin sollte Sonntagnachmittag stattfinden. Vorher wollte ich aber unbedingt noch einer englischen Tradition nachgehen: dem Sunday Roast. Sonntags gehen die Engländer gerne spazieren und danach in einem Pub Sonntagsbraten essen. Dieser besteht traditionell aus ein paar Scheiben Fleisch und sehr vielen Beilagen wie verschiedenem Gemüse, Gravy und Yorkshire Pudding. Wie wir selbst gemerkt hatten, kann man nach Grantchester viel gemütlicher laufen als Rad fahren, immer an der Cam entlang. Und so spazierten wir gemütlich aus der Innenstadt Cambridges eine Stunde immer am Wasser entlang durch herbstliches Wetter in den niedlichen Vorort. Im Pub gab es zwar keinen traditionellen Sunday Roast, aber trotzdem einen sehr leckeren Shepard’s Pie – einen Auflauf aus Hack, Gemüse und Kartoffelbrei. Auch wenn die meisten das englische Essen nicht mögen, ich finde die sogenannten ‚Pub Grubs‘ herrlich. Die deftige Hausmannskost passt auf jeden Fall zum Wetter.

Nach dem Essen musste ich etwas hektisch zurück in mein College hetzen, um rechtzeitig für das Tutor-Meeting vor meinem Laptop zu sitzen. Unter normalen Umständen würde man sich im Büro der Tutorin treffen und die anderen Studis der Tutorin bei einer Tasse Tee kennenlernen. Stattdessen starrten wir uns alle etwas schüchtern über die Webcam an. Unsere Tutorin Anne stellte sich kurz vor und erzählte, wie seltsam das alles für sie ist. Eigentlich sollen die Tutor- und DoS-Gruppen bewirken, dass man möglichst schnell und ohne viel Aufwand andere Studenten aus dem eigenen und den anderen Fächern kennenlernt. Das funktioniert nun aber nicht, weswegen ich mir wirklich Sorgen mache, ob ich trotz Corona in Cambridge Freunde finden werde.

Zeremonielle Einweihung der Erstis

Am Montag begann dann ganz offiziell der erste Term. Und weil in Cambridge Tradition großgeschrieben wird, sah die Immatrikulation auch anders als in Berlin aus. Der Matriculation Day besteht normalerweise aus der feierlichen Einschreibung in das Mitgliederbuch des Colleges, einem Gruppenfoto des Jahrgangs und abends einer Formal Hall, einem feierlichen Essen in dem traditionellen Saal des Colleges. Bei all diesen Veranstaltungen tragen die Erstsemester Kleid oder Anzug und darüber den Gown, die schwarze Robe mit dem Wappen des jeweiligen Colleges. Aufgrund von Corona ist aber leider vieles anders. Der Dresscode zumindest blieb bestehen. Und weil ich beim Packen natürlich an alles Mögliche, aber nicht an Abendgarderobe gedacht hatte, musste am Tag zuvor noch hektisch ein schwarzes Kleid erstanden werden. 

Morgens um 9 Uhr am Montag reihte ich mich dann mit zwei Metern Abstand und Maske vor der Master’s Lodge im Old Court des Clare Colleges ein. Als mein Name vom Head Porter aufgerufen wurde, musste ich meine Hände am Eingang desinfizieren und danach in den nächsten Raum eintreten. In diesem stand ein riesiger Tisch, auf welchem das dicke, alte Mitgliederbuch des Colleges lag, links und rechts davon waren eine Nobelpreisurkunde und ein kleiner silberner Vogel wie Reliquien aufgestellt. Ich unterschrieb neben meinem Namen und war damit lebenslanges Mitglied des Clare Colleges. Nachdem ich mich eingeschrieben hatte, begrüßte mich die Senior-Tutorin, quasi die Direktorin des Colleges, förmlich als neues Mitglied. Danach verbeugten wir uns voreinander und ich verließ die Master’s Logde wieder.

Während des gesamten Prozesses des Einschreibens, der vielleicht zwei Minuten dauerte, war ich unglaublich aufgeregt und ständig in Angst, irgendetwas falsch zu machen. Vermutlich deswegen sind mir auch die beiden Gegenstände neben dem Buch nicht aufgefallen. Und scheinbar erging es nicht nur mir so: Auf der Clare Bridge, wo sich alle Erstsemester für Fotos in ihren Roben versammelten, war die Nobelpreisurkunde Gesprächsthema Nummer eins – denn niemand hatte sie bemerkt. Direkt nach der Einschreibung wurde von jedem Fresher einzeln ein Porträtfoto vor der Brücke gemacht  anstatt eines gemeinsames Gruppenbilds des Jahrgangs. Auch hier ging wieder alles so schnell, dass ich mich nicht vorbereiten konnte und das Foto grauslich aussah, wie ich später leider feststellen musste. Überhaupt war ich sehr traurig über die fotografische Dokumentation dieses festlichen Aktes – die Fotos waren entweder unter- oder überbelichtet, grau und farblos. Denn es musste natürlich an diesem Tag regnen. Trotzdem machte ich Fotos mit ein paar anderen Erstis, mit denen ich auf der Brücke ins Gespräch kam, und später noch mit Luc, der fast seine Einschreibung verpasst hätte, hätte ich ihn auf der Suche nach einem Föhn am Morgen nicht geweckt.

Auf dem Weg zurück zum Memorial Court, meinem Wohnheim, traf ich dann meine Mutter und ihre Freundin Lucie. Gemeinsam machten wir noch ein paar letzte Erinnerungsfotos, bevor es für sie nach Devon beziehungsweise Deutschland zurückging. Nach der Verabschiedung war ich zunächst mit Auspacken und Einräumen beschäftigt. So schwer die Koffer bei der Anreise auch waren: Nachdem alles ausgeräumt war, sah mein Zimmer immer noch leer aus. 

In schwarzen Roben vom Dinner zum Supermarkt

Am selben Abend sollte das traditionelle Matriculation Dinner stattfinden. Normalerweise versammeln sich dafür alle Erstsemester in Abendgarderobe und Gown in der Hall, im schönen holzgetäfelten Saal des Clare Colleges. Aber nicht in diesem Jahr. Stattdessen sitze ich an einem Tisch zu zweit mit meinem Zimmernachbarn Luc in einem Konferenzraum mit greller Deckenbeleuchtung. Die Kerzen, das Silberbesteck und die weißen Tischdecken wirken zusammen mit unseren dunklen Roben irgendwie fehlplatziert. Außer uns gibt es noch vier weitere Zweiertische, die U-förmig mit zwei Metern Abstand aufgestellt sind. Wir trauen uns nur leise zu unterhalten, die gesamte Situation ist äußerst merkwürdig. Plötzlich erscheint jemand in einer anderen Robe und hält eine Rede in Latein. Ich bin froh, in den Gesichtern der anderen Erstis lesen zu können, dass ich nicht die Einzige bin, die kein Latein versteht. Nachdem der Fellow den Raum wieder verlassen hat, gucken wir alle etwas unsicher umher. Die schick gekleideten Kellner bringen den ersten Gang. Alle zögern. Kommt da noch was? Nachdem eine Weile nichts passiert, fangen die Ersten an zu essen. Es folgen noch zwei weitere Gänge, zu jedem gibt es ein Glas Wein. Luc, ganz der klassische Franzose, ist empört über die Qualität des Essens. Ich finde es gar nicht mal so schlecht, immerhin ist das Essen gratis. Ich bin aber froh, die vegetarische Variante bestellt zu haben: Der Hauptgang besteht aus einer seltsam farblosen Scheibe, die angeblich pochiertes Huhn sein soll. Manchmal machen die Briten komische Sachen in ihren Küchen, denke ich mir. 

Nachdem alle aufgegessen haben, wird das Licht gedimmt und die Rede des College Masters wird über einen Beamer gesendet. Danach hält auch die Senior-Tutorin noch eine kurze Begrüßungsrede, diesmal allerdings in persona. Kurz danach verlassen wir alle, immer noch irritiert über diese seltsame Veranstaltung, den Konferenzraum. Draußen sammeln sich bereits die Erstis aus den anderen Räumen. Aufgrund der Corona-Regeln musste das Essen in drei verschiedene Räume verteilt werden.

Nun beginnt der witzige Teil des Abends, denn nach dem Essen füllt sich die Stadt mit Studenten in dunklen Roben. Luc und ich besuchen zunächst die collegeeigene Bar im Keller unter der Chapel. Es ist sehr laut und Konversation dadurch umso schwieriger. Trotzdem lernen wir drei andere, nette Fresher kennen. Überhaupt hat es sich bisher einfacher als gedacht erwiesen, neue Leute kennenzulernen. Das war in Brighton vor drei Jahren komplett anders. Scheint also an der Stadt – oder besser an der Uni – zu liegen. Als die Bar aufgrund der Beschränkungen um kurz vor zehn schließen muss, beginnt die Odyssee zum Bierregal. Immer noch in Abendgarderobe und Gown gekleidet, eilen wir zu fünft zum nächsten Supermarkt. Und obwohl dieser noch über eine Stunde geöffnet hat, ist das Regal mit den alkoholhaltigen Erfrischungsgetränken mit Absperrband abgesperrt – nach 20 Uhr kein Verkauf mehr. Auch nach einem Jahr in Brighton habe ich immer noch nicht verstanden, nach welchem Prinzip der Verkauf und Konsum von Alkohol im Vereinigten Königreich geregelt ist. Manchmal, so scheint es, macht einfach jeder, was er möchte. 

Über den Tischtennisball in Bierdosen

Mit Uber geht es zum nächsten Supermarkt in einem anderen Stadtteil. Hier haben wir mehr Glück, das Regal ist nicht abgesperrt. Nur eine Taxifahrt später sitzen fünf Erstis in schwarzen Roben in einem sehr geräumigen Zwei-Zimmer-Apartment im Memorial Court. Was sich am Morgen noch komisch angefühlt hat, ist am Abend schon zur Normalität geworden: Nach diesem Abend wird es mich nicht mehr wundern, Menschen in schwarzen Roben in der Stadt herumlaufen zu sehen. Und als wäre der Abend bisher nicht schon verrückt genug gewesen, entdecken wir auch noch das Geheimnis der Guinness-Dosen: In diesen rollt jeweils eine kleine, Tischtennisball große Plastikkugel. Damit soll das Guinness schön schaumig bleiben. Was man in Cambridge alles lernen kann …


Teil 2: Regen, Charity Shopping und eine Menge Tee

Cambridge liegt ungefähr 50 Minuten mit dem Zug entfernt von London, in nordöstlicher Richtung. Die Stadt hat um die 120.000 Einwohner, davon über 20.000 Studenten. Die Universität ist überall präsent, und die Innenstadt sieht wie aus dem Jahrhundert gefallen aus: Schnörklig verzierte Sandsteingebäude mit Türmchen, so weit das Auge reicht, enge Gässchen, keine Autos, dafür umso mehr Radfahrer. Der Vergleich mit Hogwarts, der Zauberschule aus den Harry-Potter-Romanen, lässt wirklich nicht lange auf sich warten. In der Stadt laufen vereinzelt aufgeregte Erstis (hier „fresher“) in ihren neuen, schwarzen Roben herum. Und die Colleges wirken so altehrwürdig und mystisch, wie das Hogwarts Schloss in den Büchern beschrieben wird. Fehlen nur noch Eulen, die die Post bringen.

Hogwarts oder Cambridge?

Auch wenn meine Mutter und ich von den Strapazen der Anreise völlig fertig waren, hob das gute Wetter unsere Laune und Motivation. Immerhin genug, um uns vom Hostel in die Innenstadt in ein gemütliches Pub direkt am Wasser zum Mittagessen zu bewegen. Gegenüber grasten Kühe auf herrlich grünen Wiesen und stakten sogenannte „punts“ – die in Cambridge und Oxford üblichen Stechkähne – auf dem Cam vorbei. Inspiriert durch den Anblick der fröhlichen „punter“ ließen wir uns ebenfalls im Rahmen einer Tour den Fluss hoch- und runterstaken. Die Aussicht war wirklich beeindruckend: Die berühmtesten Colleges liegen am Flüsschen Cam. Die akkurat gemähten Rasenflächen leuchten stechend grün gestreift daneben. Viele punts dümpeln den Fluss auf- und abwärts. In gemütlichem Tempo ging es vorbei an der King’s College Chapel, Cambridge vermutlich häufigstem Fotomotiv, an meinem zukünftigen Wohnort, Clare College, und an der berühmten Bridge of Sighs des St John’s College. 

Am nächsten Tag sollte ich endlich mein neues Zimmer für die nächsten zehn Monate sehen und beziehen können. Leider war heute das Wetter sehr englisch: Nieselregen und dunkle Wolken hüllten Cambridge in einen grauen Schleier. Mein Zimmer liegt im Memorial Court, einem großen, grauen Wohngebäude für die Erstis des Clare College, das in den 1920er-Jahren in Gedenken an die Gefallenen der Uni im Ersten Weltkrieg errichtet wurde. Zuerst musste ich meine Schlüssel und meinen Studierendenausweis beim „porter“, dem Pförtner, abholen. Diese gibt es in jedem College: Tag und Nacht sitzen sie in den „lodges“ und haben jeden im Blick, der rein- und rausgeht, nehmen die Post entgegen und sind, so die Theorie, Ansprechpartner und Erste Hilfe in Notfällen sowie die gute Seele des Hauses. Während andere der 31 Colleges in Cambridge sehr strenge Besuchsregeln haben und die porter auf unfreundlichste Weise selbst andere Studis daran hindern, die Colleges zu passieren, hat Clare eine sehr entspannte Haltung – normalerweise. Doch wegen Corona sind weder Gäste noch Studierende anderer Colleges erlaubt. Wer also innerhalb seiner Etage im Wohnheim oder im gesamten College keine Freunde findet, hat mehr oder minder Pech gehabt.

Mein Zimmer ist größer und schöner als erwartet. Besonders witzig ist der alte Einbauschrank: Hinter einer Tür versteckt sich ein Mini-Bad mit Waschbecken und Spiegel. Und die Heizkörper sind sogar unterhalb der Fenster angebracht! Jeder, der schon mal in England war, kann die Freude darüber verstehen: Die Briten sind keine guten Architekten. Ihre Fenster sind zugig und nur einfach verglast, ihre Wasserleitungen liegen frostanfällig außen am Haus und ihre Heizkörper sind zumeist an der Wand gegenüber vom Fenster angebracht. Letzteres führt wiederum dazu, dass nur die Hälfte des Zimmers mäßig warm wird und sich am Fenster Eisblumen bilden. Frieren im eigenen Zimmer gehörte während meines letzten Auslandssemesters in Brighton im Jahr 2017 dazu wie die Tea Time.

Dinieren wie Harry Potter?

Die nächsten Monate teile ich mir eine winzige Küche, in Cambridge „gyp room“ genannt, zwei Toiletten und zwei Duschen mit vier weiteren Studierenden. In der „Küche“ gibt es nur zwei kleine Herdplatten, einen Wasserkocher, eine Mikrowelle, einen Toaster und einen winzigen Kühlschrank. Eigentlich essen die Studenten in Cambridge ihre Mahlzeiten fast ausschließlich in der „hall“ oder „buttery“ – der Kantine des College. Allerdings ist das kaum mit unseren Mensen in Berlin zu vergleichen. Die alten Colleges haben Essenssäle, wie man sie sonst nur aus J. K. Rowlings Büchern kennt: Lange, dunkle Holztische füllen aneinandergereiht den Saal, große Kronleuchter hängen von der Decke und holzvertäfelte Wände sind mit Ölgemälden von berühmten Alumni des College geschmückt. Neben den täglichen Mahlzeiten Frühstück, Mittag und Abendbrot gibt es normalerweise auch noch die „formal hall“. Das ist ein Drei-Gänge-Menü mit Weinbegleitung und strenger Sitzordnung, bei dem die Studenten und Fellows in ihren Roben essen. Eröffnet wird das Ganze immer mit einer Rede in Latein. Wie sehr hatte ich mich auf diese Erfahrung gefreut – und wurde dann nach meiner Ankunft leider enttäuscht: Aufgrund von Sanierungsarbeiten ist die hall des Clare College gesperrt und die temporäre buttery befindet sich in einem Container auf dem Hof. Irgendwie habe ich nie Glück mit so was – schon meine Schule, ein hübsches Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, wurde genau dann umfänglich renoviert, als ich eingeschult wurde. Ich hatte dann Unterricht in Containern. Nachdem ich Abitur gemacht hatte, war das alte Gebäude wieder freigegeben.

Fast alle aus meiner Etage sind internationale Studierende aus höheren Semestern oder „postgrads“, also Masterstudis. Insgesamt gibt es sechs Zimmer, allerdings sind davon nur vier belegt. Meinen Erasmus-„Kollegen“ lernte ich auch schon am ersten Tag kennen: Luc kommt aus Frankreich und freute sich, endlich jemanden in echt sehen zu können, nachdem er zwei Wochen in Quarantäne in seinem Zimmer leben musste. In diesem Moment war ich wirklich froh, aus Deutschland eingereist zu sein und keine zweiwöchige Quarantäne gemacht haben zu müssen. Studierende, die aus Frankreich oder den USA eingereist sind, durften zwei Wochen lang ihr Zimmer nicht verlassen und mussten sich von Dosensuppen ernähren. Immerhin hat Clare ihnen gratis Essen geliefert, auch wenn Luc, ganz französisch, alles andere als begeistert von Auswahl und Qualität war.

Corona-Maßnahmen und Dauerregen machen den Start schwer

Eigentlich bin ich eine Woche vor Semesterbeginn angereist, um noch Zeit für etwas Sightseeing mit meiner Mutter zu haben. Und ich habe mich sehr auf die gemütlichen Pubs gefreut, in denen man am Tresen alle Ales kosten kann und nebenbei einen Plausch mit seinem Sitznachbarn hat. Aber das miese Wetter draußen und die Corona-Beschränkungen drinnen hatten mir die Lust darauf nachhaltig vermiest. Überall gibt es nur noch Tischservice. Die Pubs sind nicht mehr gemütlich kuschelig, sondern zugig und leer. Überall reißen die Briten die Fenster auf, was dazu führt, dass man mit Jacke an seinem Tisch sitzt und etwas verkrampft fröstelnd sein Bier trinkt. Corona nervt, selbst mein schönes England hat es mir kaputtgemacht. 

Zusätzlich begann die University of Cambridge, mich bereits jetzt schon mit Mails zu bombardieren. Mein Postfach zählte 142 Mails nach sieben Tagen. In Berlin bekomme ich von der Humbolt-Universität so viele noch nicht mal in einem Jahr. Und so verbrachte ich die meiste Zeit im Hostelzimmer am Rechner, um mein Auslandssemester vorzubereiten, und lernte in Zoom-Meetings erst die Krankenschwester meines College und in einem anderen dann alle weiteren 45 Erasmus-Studenten in Cambridge kennen. 

Küchenausstattung aus dem Secondhandshop – wieso nicht?

Statt Sightseeing machten wir am nächsten Tag nun das, was man nur in England machen kann und das auch trotz Corona Spaß macht: Charity Shopping. Im Vereinigten Königreich ist ehrenamtliche Arbeit viel alltäglicher als bei uns. Die meisten Briten sind in wohltätigen „societies“ oder „charities“, also Stiftungen, tätig. Und diese Stiftungen finanzieren sich unter anderem durch das Betreiben von Secondhandshops, in denen sie von anderen Briten gespendete Sachen wie Kleidung, aber auch Möbel, Geschirr, DVDs oder Bücher verkaufen. Nach Deutschland hat es bisher nur Oxfam geschafft. Und anders als in unseren Gebrauchtwarenkaufhäusern gibt es in englischen Charity Shops immer wirklich tolle Sachen zu entdecken: von Perlenohrringen über feines Teegeschirr aus Porzellan bis hin zu gemütlichen Tischlampen und silbernen Kerzenleuchtern. Und weil es in meinem Studentenwohnheim weder Teller noch Töpfe gibt, begeben wir uns auf die Jagd nach Gütern des täglichen Bedarfs in Cambridges Charity Shops. In der Straße unseres Hostels ist gleich der erste, betrieben von der Salvation Army. Ich kann Teller, ein Teegeschirr-Set aus Porzellan, Besteck und Geschirrhandtücher ergattern. In anderen finden wir Töpfe und Dekoartikel. Und weil die Charity Shops so günstig sind, gehen wir am Ende des Tages mit zwei vollen Tüten nach Hause. Im Hostel machen wir unser kleines Zimmer so gemütlich wie möglich: Nachdem die schweren Koffer bereits in mein neues Zimmer umgezogen waren, reihen wir Dekoartikel und unser Tee- und Snacksortiment auf dem Fensterbrett auf und meine Lichterkette aus Berlin sorgt für gemütliches Licht.

Kein ÖPNV bedeutet gezwungenermaßen Fahrradstadt

Am nächsten Tag sollte eigentlich die Sonne scheinen. Ich zog extra meine englischen Schön-Wetter-Socken mit Wimpeln drauf an. Wir begannen unseren Tag mit Full English Breakfast in der Innenstadt. Danach mieteten wir uns Fahrräder, eigentlich wollten wir eine Tagestour nach Ely machen. Daraus wurde dann nur ein Ausflug nach Grantchester, einem schön englischen Dorf nahe Cambridge. Obwohl Cambridge als Fahrradstadt bekannt ist, ist es doch relativ radunfreundlich: Die Autos fahren, selbst für Berliner Verhältnisse, sehr dicht an einen heran, es gibt kaum bis keine Radwege und wenn es welche gibt, sind diese in unglaublich schlechtem Zustand. Aber Radfahren ist in England unüblich. Vermutlich ist der bloße Fakt, dass es in Cambridge keinen nennenswerten öffentlichen Nahverkehr gibt und alle mit dem Rad fahren, Grund dafür, dass die Stadt zur Fahrradstadt wurde.

Gemütlicher Lunch im Pub

Unser Ziel hatten wir bereits nach einer halben Stunde erreicht. Es war kalt und windig und so suchten wir nach einem gemütlichen Tea Room oder Pub. Plötzlich fing es an, wie aus Kübeln zu schütten, und in kürzester Zeit waren wir nass bis auf die Knochen. Der Tea Room war bereits geschlossen, der erste Pub ausgebucht. Der zweite Pub hatte nur noch einen Platz in der unbeheizten Gartenlaube, in der wir Platz nahmen und mit heißem Tee auf einen warmen Sitzplatz im Inneren des Pubs hofften. Mir war noch nie so kalt. Zum Glück bekamen wir nach der ersten Kanne Tee einen Platz drinnen und konnten uns bei leckerem Lunch aufwärmen. Die nächsten zwei regnerischen Tage verbrachten wir hauptsächlich drinnen, mit Tee, Shortbread und der herrlich englischen Serie „Grantchester“ (volle Empfehlung hierfür!).


Teil 1: Reisen in Pandemiezeiten, ein Abenteuer für sich

Im Oktober sollte meine Erasmus-Erfahrung an der University of Cambridge in England beginnen. Eigentlich wollte ich ganz bequem in Berlin in den Zug steigen und mit dem Eurostar den Channel-Tunnel nach London passieren. So hätte ich sowohl meine Koffer als auch mein Fahrrad mitnehmen können. Cambridge ist nämlich, so ungewöhnlich das auch für alle anderen Orte in Großbritannien ist, eine Radlerstadt!

Meine Vorfreude hielt sich allerdings leider zunehmend in Grenzen, je näher der Tag der Abreise rückte. Cambridge ist für mich zum Sehnsuchtsort geworden, ein Ort für einen Neubeginn, nachdem ein Schicksalsschlag nach dem anderen dieses verfluchte Jahr gejagt hat. Und hier rechne ich Corona noch nicht einmal mit hinein. Dieses Virus hat alles nur noch unnötig verkompliziert. Wie soll man sich nach dem Verlust eines geliebten Menschen und Familienmitglieds wieder an Alltag und Normalität gewöhnen, wenn es beides nicht mehr gibt? Wenn Freunde Angst haben, zu deiner Abschieds- oder Geburtstagsfeier zu kommen? Und genau deswegen wollte ich nach England. Wenn es nicht möglich ist, meinen alten Alltag und die Normalität wiederherzustellen, dann muss eben ein neuer her. In einer neuen Umgebung, in einem neuen Land.

Corona und Brexit machen alles komplizierter

Doch das erste Hindernis ließ nicht lange auf sich warten: Eine Woche vor geplanter Abreise wurde mir mein Portemonnaie gestohlen. Und los ging der unendlich anstrengende Ämter-Marathon, den jeder nachvollziehen kann, der schon mal in Berlin gelebt hat. Und dann war da noch der Brexit. Weil die Briten in einem Umstand der vermeintlich geistigen Umnachtung für ihre dauerhafte Selbstisolation gestimmt haben, kann man nun über die Deutsche Bahn keine internationalen Verbindungen mehr nach London buchen. Deswegen musste ich für mich und meine Mutter, die mir beim Gepäck und Sightseeing helfen wollte, einzeln Tickets für die Strecke Berlin – Brüssel und Brüssel – London buchen. Und dann kam natürlich, was kommen musste: Eine Woche vor meiner Abreise wurde unser Eurostar ersatzlos gestrichen – wegen Corona. Nicht jedoch der Zug der Deutschen Bahn, weswegen wir unsere Sparpreis-Tickets nicht umbuchen konnten. Kurz darauf wurde auch der Rückflug meiner Mutter von Stansted nach Berlin gestrichen – ebenfalls wegen Corona. Und schließlich bekam ich eine E-Mail, nur ein paar Tage vor der geplanten Abreise, dass nicht nur der gesamte Unterricht digital stattfinden wird, sondern auch Gäste im College verboten sind. Toll. Deshalb musste ich auch noch ein Hostel für meine Mutter und mich buchen. Ihr seht: Es war chaotisch. Und meine Vorfreude sank.

Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht schon an diesem Punkt keine Lust mehr gehabt. Aber ich wollte nur noch weg. Also ließ ich mich weder von Corona noch vom Brexit abschrecken und suchte nach neuen Mitteln, um auf die Insel zu kommen. Die einzige Alternative blieb nun ein Flug mit British Airways nach London City.

Mein Ämter-Marathon endete damit, dass ich am Morgen der Abreise in Tiergarten erst ins Rathaus stürmte – samt Sondergenehmigung, ohne Termin, wow – und danach direkt in den Flughafenbus nach Tegel. Und so saß ich am 28. September in einem geisterhaft leeren Flughafen Tegel, da anscheinend nicht nur die Geschäfte, sondern auch alle Mitarbeiter schon nach Schönefeld umgesiedelt wurden. Die Schalter waren nicht oder nur unzureichend besetzt und es bildeten sich unendlich lange Schlangen. Das ist jetzt also sinnvolle Pandemiepolitik?

Ziel erreicht – trotz aller Hindernisse

Dann saß ich endlich im Flugzeug. Fliegen zu Pandemiezeiten ist seltsam. Wenn Flugreisen schon vor Corona umweltschädlich waren, hat es die Pandemie nicht verbessert: Alles wird nochmal extra in Plastik verpackt und einzeln gereicht, sei es Essen, Trinken oder Desinfektionstücher. In London City angekommen konnten wir einen Erfolg verbuchen: In deutscher, vorbildlicher Manier hatten wir den anstrengenden, umfangreichen Einreisefragenkatalog der britischen Regierung bereits vor der Abreise ausgefüllt. Damit schienen wir jedoch die Einzigen gewesen zu sein. So bildeten sich auch bei der Einreise wieder lange Schlangen, wir kamen jedoch schnell durch. So schnell wir in London gelandet waren, so schnell waren wir auch wieder weg. Die stressigen Wochen vor der Abreise, die Anreise selbst haben mich so fertiggemacht, dass ich einfach nur noch schnell in Cambridge im Hostel ankommen wollte. Und so sind wir direkt mit dem Zug weiter nach East Anglia gefahren. Cambridge, here I come!